Schattenblick → INFOPOOL → MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE


VORWÄRTS/1255: Soziale Grausamkeiten der Bürgerlichen


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 01/02 vom 20. Januar 2017

Soziale Grausamkeiten der Bürgerlichen

von Bernard Schmid


2017 wird das elfte Jahr in Folge ohne substanzielle Erhöhung des Mindestlohns in Frankreich. Die neofaschistische Partei Front National nutzt dies als Steilvorlage für ihre soziale Demagogie, obwohl sie den Mindestlohn in der Vergangenheit ganz streichen wollte.


Es ist das elfte Jahr ohne politisch indizierte Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns (Smic). Letzterer wird in Frankreich alljährlich angepasst. Seit sieben Jahren wird zuvor, also bevor die Regierung ihre Entscheidung zur jährlichen Anpassung des Smic fällt, die Empfehlung einer aus WirtschaftswissenschaftlerInnen zusammengesetzten "ExpertInnenkommission" eingeholt. Diese empfahl auch in diesem Jahr die Beschränkung auf das absolute gesetzliche Minimum.


"Politische" Erhöhungen

Zu dieser gesetzlich vorgeschriebenen Mindesterhöhung kommt dann, in manchen Jahren, noch eine "politische" Erhöhung hinzu. Diese bezeichnet man als einen coup de pouce, also ungefähr "Daumendruck" (in Richtung von unten nach oben). In der Vergangenheit gab es einen solchen faktisch jedes Jahr, da die Regierenden versuchten, auch die sozialen Unterklassen in einem gewissen Ausmass einzubinden. In manchen Jahren fiel er relativ hoch aus: 1968 stieg der gesetzliche Mindestlohn um 35 Prozent infolge der "Vereinbarungen von Grenelle" - dank der Streikbewegung und Fabrikbesetzungen. Selbst der bürgerliche Präsident Jacques Chirac, gewählt 1995, liess sich mit um die vier Prozent nicht total lumpen - verglichen mit heute.

Seit 2006 hat es jedoch kein Jahr gegeben, in welchem der Smic über das zwingend vorgeschriebene gesetzliche Minimum hinaus angewachsen wäre. Der 2007 gewählte rechte Präsident Nicolas Sarkozy hatte es sich zum politischen Prinzip erhoben, keine "politisch motivierten / induzierten" Mindestlohnerhöhungen vorzunehmen. Auch unter dem Rechtssozialdemokraten François Hollande, Präsident bis Mai 2017 und danach voraussichtlich politisch tot, hat es keine über das obligatorische Minimum hinausgehende Mindestlohnerhöhung gegeben. Keine einzige.


Unzufriedene Gewerkschaften

Und so also auch nicht für das Jahr 2017. Am Montag, dem 19. Dezember verkündete Hollands Regierung, die - nach dem Rücktritt von Ex-Premierminister Manuel Valls, welcher sich nun auf eine Präsidentschaftskandidatur vorbereitet - vom früheren Innenminister Bernard Cazeneuve angeführt wird, ihre Entscheidung. Der Smic wächst demnach ab dem 1. Januar 2017 von derzeit 9,67 Euro brutto pro Stunde auf 9,76 Euro. Das bedeutet, dass der Nettomonatslohn bei Vollzeitarbeit von derzeit rund 1144 Euro auf 1153 Euro anwachsen wird, also um stolze elf Euro. Real an Kaufkraftgewinn übrigbleiben werden davon übrigens zwei bis drei Euro monatlich, da zugleich die "Hilfen", soziale Transferzahlungen, proportional absinken.

Die Gewerkschaften sind damit unzufrieden, jedenfalls protestierten die Gewerkschaftsdachverbände CGT, FO und die christliche CFTC. Hingegen liessen die CFDT (rechtssozialdemokratisch geführt, zweitstärkster Verband hinter der CGT) und CFE-CGC (leitende Angestellte, das heisst keine Organisation von Geringverdienenden) keinerlei Unmut vernehmen. Die CGT fordert einen Mindestlohn von 1386 Euro netto, der (oft verbalradikal auftretende) Dachverband FO seinerseits spricht von 1426,20 Euro netto. Und der linkssozialdemokratische Präsidentschaftskandidat Jean-Luc Mélenchon, der auch von der Kommunistischen Partei unterstützt wird, spricht von 1326 Euro netto im Monat.


Widersprüchlicher FN

Unter anderem freut diese Situation jedoch den Front National (FN). Erlaubt sie es doch der neofaschistischen Partei, in sozialer Demagogie zu schwelgen. Nunmehr kann der FN in Pressekommuniqués, die durch die Medien auch übernommen werden, lauthals tönen, diese Entscheidung der Regierung sei skandalös. Es sei erneut belegt, "dass die Regierung kein Interesse an der Kaufkraft der Franzosen und, allgemein, für die Aufwertung der Arbeit in unserem Land zeigt".

Allerdings mangelt es dabei bei der rechtsextremen Partei nicht an Widersprüchen, die zumindest durch die linksliberale Tageszeitung "Libération" auch benannt werden. Nicht nur, dass der FN selbst noch in den 1980er Jahren für eine pure Abschaffung des gesetzlichen Mindestlohns eintrat, was sie allerdings inzwischen längst aus ihrem Programm gestrichen hat. Noch heute allerdings will die neofaschistische Partei nicht wirklich die Löhne zu Lasten des Kapitals erhöhen - sondern in Wirklichkeit zu Lasten der Sozialkassen, die dadurch ausgetrocknet würden. Denn der Front National fordert eine "Anhebung der unteren Löhne" konkret durch den "Abbau der Lohnnebenkosten", also der Sozialabgaben auf den Lohn. Ansonsten spricht der FN sich für eine Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns Smic aus, welche nicht beziffert wird, doch als "raisonnable" (vernünftig/massvoll) beschrieben wird.

Messerscharf klar ist unterdessen jedoch, dass die - geringverdienenden - Lohhabhängigen vom konservativen Präsidentschaftskandidaten François Fillon nichts zu erwarten haben, nicht einmal ein paar demagogische warme Worte. In seinen Worten bildet die anstehende Mindestlohnerhöhung "das Beste, was die französische Gesellschaft zu bieten hat", in anderen Worten: Es ist in seinen Augen bereits zu viel.

*

Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 01/02/2017 - 73. Jahrgang - 20. Januar 2017, S. 7
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
Redaktion: vorwärts, Postfach 2469, 8026 Zürich
Telefon: 0041-(0)44/241 66 77,
E-Mail: redaktion@vorwaerts.ch
Internet: www.vorwaerts.ch
 
vorwärts erscheint 14-täglich,
Einzelnummer: Fr. 4.-
Jahresabo: Fr. 160.-, reduziert (AHV, Stud.) 110.-
Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Februar 2017

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang