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VORWÄRTS/1393: "Eine abgrundtiefe Ungerechtigkeit"


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 23/24 vom 28. Juni 2018

Eine abgrundtiefe Ungerechtigkeit"

von Juliette Müller


Im Kalten Krieg wurden Staatsangestellte und Beamte entlassen aufgrund ihrer kommunistischen Einstellung oder ihrer Nähe zur PdA. Ein Postulat forderte in Waadt, dass diese Geschichte im Kanton aufgearbeit werden sollte. Es wurde abgelehnt - aus politischen Gründen.


Der Grosse Rat im Kanton Waadt wird nicht Licht in ein dunkles Kapitel der Geschichte des Kantons bringen. Im Kalten Krieg wurden kantonale Angestellte entlassen oder Personen nicht angestellt, weil sie der PdA angehörten und/oder KommunistInnen waren. Vor zwei Wochen lehnte das waadtländische Parlament mit 63 zu 48 Stimmen ein Postulat des ehemaligen PdA-Grossrats Julien Sansonnens ab, das die Schaffung einer historischen Kommission oder die Finanzierung einer universitären Forschung zum Thema forderte. Das Ziel wäre gewesen, die betroffenen Personen moralisch zu rehabilitieren, deren "persönliches und berufliches Leben geschädigt wurde, weil ihre gesellschaftlichen Ideale von der allgemeinen Norm abwichen".


Als unzuverlässig eingestuft

Auf eidgenössischer Ebene hatte eine Untersuchung nach der Fichenaffäre zehn Fälle von Entlassungen festgestellt und 24 Fälle, bei denen der Beamtenstatus mit einem schlechter geschützten Status ausgetauscht wurde. Die Fälle fanden während der Zeit der Angst vor dem Osten und des starken Antikommunismus statt. Kündigungsdrohungen wurden auch oft von den ZeitzeugInnen erfahren. Die Fälle erfolgten insbesondere nach der Verabschiedung einer bundesrätlichen Direktive 1950, welche die Entlassung von Bundesangestellten, die einer kommunistischen Organisation angehörten, vorsah. Die Mitglieder der Partei der Arbeit der Schweiz und ihre SympathisantInnen wurden dabei explizit ins Visier genommen, obwohl es sich um eine legale Partei handelte und sie Vertreter im Nationalrat hatte. Die SozialdemokratInnen und die Gewerkschaftsführungen stellten sich diesen Massnahmen nicht oder kaum entgegen.

"Ich wurde von der Leitung des Kreisbüros vorgeladen, die mich informierte - aufgrund einer Weisung des Bundesrats -, dass ich auf der Stelle entlassen wurde. Ich habe meine Sachen geholt und bin gegangen. Wie ein Verbrecher. Das war eine abgrundtiefe Ungerechtigkeit", erzählte Ernest de Kaenel, der mittlerweile verstorben ist, in einer Kolumne in der PdA-Zeitung "Gauchebdo" von 2009, 58 Jahre nach seiner Entlassung im September 1950. Er arbeitete daraufhin mehr als zehn Jahre für die Schweizerische Post und erhielt eine Urkunde, die seine exzellente Arbeit lobte. Sein Verschulden war, dass er einer Zelle der PdA in einem Lausanner Quartier angehörte, dass er als Vizepräsident Konferenzen der Freunde der französischen Literatur organisierte und dass er Unterschriften für den Stockholmer Appell sammelte, der sich gegen die atomare Bewaffnung stellte. Diese Aktivitäten reichten aus, um ihn durch den Bund als "unzuverlässig" einzustufen.


Überall diskriminiert

Mehrere Kantone ergriffen ähnliche Massnahmen wie die Waadt. In Waadt untersagte bereits ein Gesetz über unerlaubte Organisationen die Verbreitung von Schriften und Material von kommunistischen Organisationen und machte deutlich, dass die Mitgliedschaft bei einer kommunistischen Organisation unvereinbar wäre mit der Ausübung einer öffentlichen Funktion. Auch wenn die Anordnung 1947 wieder abgeschafft wurde, bedeutete dies nicht, dass die Betroffenen nicht weiterhin diskriminiert wurden.

Bereits vorhandene Untersuchungen über diese Periode wie das Werk des Historikers Pierre Jeanneret "Popistes: histoire du parti ouvrier et populaire vaudois" zeigten bereits die Schwierigkeiten auf, die kommunistische SympathisantInnen und AktivistInnen bei der Arbeitssuche erfahren haben, besonders im Schulwesen. Der Schriftsteller und Lehrer Yves Velan fand beispielsweise keine Stelle im Kanton Waadt und liess sich 1954 in La Chaux-de-Fonds (NE) nieder, wo er an einem Gymnasium arbeiten konnte. Es war "der einzige Ort in der Schweiz, wo ein Mitglied der Partei der Arbeit eine Chance hatte, zu unterrichten", schrieb die "Voix Ouvrière", die Vorgängerin des "Gauchebdo". Die Ernennung eines Professors an der Lausanner Universität hing ebenfalls von seiner politischen Einstellung ab und Entlassungen und Nicht-Einstellungen sind hier ebenfalls bekannt.

Aber, wie viele Beamte haben ihre Arbeit verloren, bei wie vielen wurde die Karriere unterbrochen oder verlangsamt und wie viele wurden gar nicht erst eingestellt? Es fehlt eine präzise Studie darüber, meint Julien Sansonnes. Eine solche hätte ebenfalls eine Gelegenheit sein können, Licht in die Umtriebe der "Aktion freier Staatsbürger" zu bringen, eine antikommunistische Gruppierung, bei der mehrere Ständeräte und der Bundesrat Paul Chaudet Mitglied waren. Was waren die Beziehungen der Aktion freier Staatsbürger zu den politischen Autoritäten in Waadt während jener Zeit? Wurden öffentlich Gelder eingesetzt, um sie zu finanzieren? Das wären einige der Fragen, die eine Untersuchung hätte angehen können.

Die SozialdemokratInnen haben das Postulat im Grossen Rat unterstützt. Alexandre Démétriadès (SP) erinnerte daran, dass der Grosse Rat sich fünfmal schon über die Aufarbeitung der kantonalen Geschichte ausgesprochen hatte, zum Beispiel über die Sterilisierung von geistig behinderten Menschen, und dass er "jedesmal der Anfrage nachgekommen war und eine Untersuchung finanziert hatte". Es half nichts. Von rechts kam das Argument, dass dem Kanton die Mittel für die Unternehmung fehlten. Die Notwendigkeit, "die Vergangenheit ruhen zu lassen", wurde ebenfalls vorgebracht und - etwas ernsthafter - das Problem, dass Archive fehlen, um das Thema ausreichend zu dokumentieren. Letzterem wurde vom Historiker und Solidarités-Abgeordneten Hadrien Buclin widersprochen. "Eine Untersuchung zu finanzieren, bedeutet Kosten, aber diese Kosten sind unendlich kleiner, als was die Opfer dieses beschränkten Antikommunismus zahlen mussten", meinte der PdA-Grossrat Vincent Keller.

2009 reichte der PdA-Nationalrat Josef Zisyadis in den Eidgenössischen Räten eine Motion ein, die eine öffentliche Rehabilitation von Beamten und Angestellten der SBB und Post forderte, die aus politischen Gründen entlassen worden waren. Der Bundesrat meinte, dass ihre Zahl zu klein wäre, um eine Rehabilitation notwendig zu machen, und die Motion wurde abgelehnt.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 23/24 - 74. Jahrgang - 28. Juni 2018, S. 5
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Juli 2018

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