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VORWÄRTS/1472: Frauen*streiks verändern den Streikbegriff


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 17/18 vom 31. Mai 2019

Frauen*streiks verändern den Streikbegriff

von Sabine Hunziker


Die Frauen*bewegung 2019 bezieht sich auf den Streik von 1991, der nach wie vor eine der grössten Mobilisierungen der Schweizer Geschichte ist. An der Quellenpräsentation im Schweizerischen Sozialarchiv in Zürich wurden die Geschehnisse von 1991 und 2019 eingeordnet. Ein Bericht.


Jeder Stuhl war besetzt. Viele der Besucher*innen erkannte man als Aktivist*innen aus der Zeit rund um den Frauenstreik 1991. Sie waren damit deutlich älter als die Männer* und Frauen*, die zuvor einen Stock höher in den Räumlichkeiten des Schweizerischen Sozialarchivs in Zürich mit Computer recherchiert oder Texte gelesen und sich nun an diesem 17. Mai zur Quellenpräsentation im Medienraum eingefunden hatten. Es war ein Zusammentreffen von werdenden Zeitzeug*innen mit Zeitzeug*innen. Caroline Arni, Professorin für Allgemeine Geschichte an der Universität Basel, und Christian Koller vom Schweizerischen Sozialarchiv stellten ihre Bestände vor und verorteten die Ereignisse der Geschichte und Gegenwart der Schweizerischen Frauenbewegung. Ab diesem Zeitpunkt werden auf der Internetseite des Archivs digitalisierte Bilder oder Flugschriften zum Frauenstreik '91 zum Download bereitstehen.

Der Frauenstreik vom 14. Juni 1991 war eine der grössten politischen Mobilisierungen der modernen Schweizer Geschichte. Hunderttausende beteiligten sich an den Demonstrationen, Veranstaltungen oder Streikaktionen aus Anlass des zehnjährigen Bestehens des Gleichstellungsartikels in der Bundesverfassung. Aktivist*innen forderten die Beseitigung anhaltender Ungleichheit in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik und somit die Umsetzung des Artikels.


"Schätze" des Frauenstreiks 1991

Auf der Leinwand, die vorne im Medienraum aufgehängt war, zeigte Christian Koller einige Beispiele der "Schätze", die im Sozialarchiv zu finden sind. Auf einem Flyer mit dem Titel "Jubeljahr 1991" stand "700 Jahre Eidgenossenschaft", "20 Jahre Frauenstimmrecht" und "10 Jahre Gleichberechtigung". Im Fliesstext darunter stach der Satz "die Bilanz nach 10 Jahren ist düster..." heraus. Diese ironische Einordnung der unterschiedlichen Zeitpunkte verwies auf die lange Geschichte der Diskriminierung in der Schweiz hin.

Die Wahl der Streikaktivitäten ausgerechnet im Jahr 1991 war geschickt gewählt. Weiter zeigte Koller verschiedene Protokolle von Sitzungen bei Gewerkschaften, bei denen heute viele der Namen der Teilnehmenden gut bekannt sind. Es gab 1991 zwei Logos, die oft verwendet wurden. Bei einem Signet sind Augen einer Frau* zu sehen und beim anderen steht eine Frau* mit verschränkten Armen da. Nach den Protokollen wurden u.a. über Streikkonzepte gesprochen und Gedanken/Beschlüsse dazu festgehalten. Bei den nächsten Quellen handelte es sich um unterschiedliche Zeitungsartikel. Beispielsweise fand sich bei einem Text vom Tagesanzeiger der Titel "Frauenstreik überall", was auf die imposante Grösse der Streikaktivitäten hinwies. Die Diskussion darüber, wie man den 14. Juni 1991 genau nennen sollte, wurde auch geführt. So findet sich im Archiv ein T-Shirt mit der Aufschrift "Frauentag" und nicht Frauen*streik. Hier wird klar, dass es innerhalb der Bewegung unterschiedliche Meinung bezüglich Umsetzung der Forderungen gehabt hatte. Viele Zeitungsartikel von 1991 thematisieren auch die Frage, ob die Teilnahme am Streiktag illegal oder legal ist. So fand sich der Titel: "Ist der Streik erlaubt? Rechtmässig? Politisch?" Auch in einem privaten Nachlass waren Briefe, die sich ans Personal mit Mitteilungen bezüglich Teilnahme am Frauenstreik '91 richteten. In einem wurde die Teilnahme "erlaubt" und die Arbeiter*innen dieser Branche durften am Streik teilnehmen. Allerdings wurde diese Zeit nicht als Arbeitszeit angerechnet. In einem anderen Brief erhielten die Beamten von der Leitung kein "Streikrecht" und man drohte mit Lohnabzügen und disziplinarischen Folgen.


Neue alte Geschichte des Frauen*streiks

Immer wieder ist die Rede vom irischen Frauenstreik 1975 als grosses Vorbild für Frauen*streiks. Es finden sich aber auch eine Vielzahl von kleinen Streiks von Arbeiter*innen in der Schweiz, die zur Geschichte der Frauen*kämpfe gehören und an denen man sich daran orientieren und von denen man lernen kann. So streikten in den 1900er-Jahren Tabakarbeiter*innen um ihre Existenz. Ihr Chef bewirkte darauf hin, dass die Kinderkrippen geschlossen wurden, um die Frauen so unter Druck zu setzen. Er stellte männliche Streikbrecher ein, die für einen höheren Lohn arbeiteten. Genau dieser höhere Lohn war eine der Forderungen der Aktivist*innen.

Als "Hausfrauenkämpfe" gelten die "Milchkriege", die in den 1920er-/3Oer-Jahren in Biel stattgefunden haben. Milchlieferanten wollten die Milch nicht mehr in die einzelnen Haushalte bringen. So gründeten Frauen* kurzerhand eine eigene Milchgenossenschaft. Dies ist eine Stärke der Kämpfe, dass sie genau da stattfinden, wo die Frauen* sind. Obwohl es immer wieder viele Streiks oder Protestaktionen in der Geschichte gab, ist der Frauen*streik 1991 bereits wegen der grossen Mobilisierungskraft in Erinnerung geblieben. In der Geschichtsschreibung sind die "Verhältnisse" in Zahlen stets wichtig, im Sinne von wieviele Leute oder wieviele Tage. 1991 sollen eine halbe Million gestreikt haben, so Quellen. Die Vermutung liegt nahe, dass diese Zahl wohl in irgendeiner Redaktion, beeinflusst von der euphorischen Stimmung, entstand. Mitglieder von grossen Streiks kann man nur schwer zählen. Vor allem wenn die Aktionen in den Haushalten oder an dezentralen Orten passieren, ist eine genaue Angabe zu den Teilnehmer*innen unmöglich.


War es ein Wendepunkt?

Frauen*streiks verändern den Streikbegriff. Bewusst angeknüpft hatte der Frauenstreik 1991 an den Landesstreik 1918. Hinweise finden sich in der Parole: "Wenn Frau will, steht alles still." Hier wird auf den Generalstreik angespielt, wo unterschiedliche Bereiche des öffentlichen Lebens zum erliegen kommen. Es werden aber auch neue Inhalte und Aktionsformen geschaffen, weil hier die unbezahlte Arbeit Teil der Lebenswelt der Frauen ist. Zuvor wurde Produktion und Reproduktion getrennt.

Der Frauenstreik 1991 war zwar als Streik geplant und dennoch war es ein "unscharfer Streik". Er nimmt die häusliche Situation, die politische Situation und die betriebliche Situation der Frauen* auf. Hier wird klar: das Leben der Männer* und Frauen* funktioniert nicht analog. Diese Unterschiede sagen viel aus über das Leben der Frauen* in der Gesellschaft. Kann also der Streik 1991 als Wendepunkt betrachtet werden? Ja und nein! Es gibt hier keine Einigkeit. Sicher ist, dass der Streik nicht wie andere vergleichbare Aktivitäten durch genaue Vorgaben der Justiz kanalisiert werden kann - daher auch die unklare Rechtslage. Vor allem die Grundforderungen sind politisch legitim, weil es einen Artikel zur Gleichberechtigung in der Verfassung gibt. Was Caroline Arni aber auffiel war, dass es viele Ähnlichkeiten zwischen den Quellen von 1991 und den bereits vorhandenen Quellen von 2019 gibt. Es ist aber nicht so, dass seither nicht viel passiert ist, sondern noch immer die gleiche Dynamik vorherrscht.

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 17/18 - 75. Jahrgang - 31. Mai 2019, S. 4
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
Redaktion: vorwärts, Postfach 2469, 8026 Zürich
Telefon: 0041-(0)44/241 66 77,
E-Mail: redaktion@vorwaerts.ch
Internet: www.vorwaerts.ch
 
vorwärts erscheint 14-täglich,
Einzelnummer: Fr. 4.-
Jahresabo: Fr. 160.-, reduziert (AHV, Stud.) 110.-
Probeabo: 4 Ausgaben gratis


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Juni 2019

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