vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr.29/30 vom 20. September 2019
Gemeinsam kämpfen, gemeinsam helfen
von Florian Sieber
Wie gehen Frauen mit Erlebnissen von Krieg und Schrecken um? Wie finden sie Wege, um erlebtes Leid zu verarbeiten und aus dem Schmerz heraus Neues zu erschaffen? Diesen Fragen gingen die Organisationen medico international und medicus mundi an der Tagung resist to exist in Basel nach.
Shengal war wohl eine der Regionen, die am stärksten unter dem
reaktionären Regime des islamischen Staats zu leiden hatte. Die dort
lebenden Êzid*innen, eine religiöse Minderheit, wurden vom IS
als Ungläubige verfemt und verfolgt. Ein grausiger Genozid begann, der
erst ein Ende fand, als kurdische Einheiten das Gebiet militärisch
befreiten. Bis dahin wurden die Angehörigen der Gemeinschaft ermordet
und versklavt. Besonders für Frauen begann unter der Knute der
religiösen Fundamentalisten ein Martyrium. Vergewaltigungen und
Verschleppungen von Frauen und Kindern werden zu Kriegswaffen. Der
Schrecken hat in Shengal nicht nur das Gesicht eines Genozids sondern
auch eines Femizids angenommen. Darauf, wie durch Organisation und
Solidarität aus solch einem Martyrium ausgebrochen werden und wie
solidarische Hilfe aussehen kann, gehen die Rednerinnen ein, die am
7. September am resist to exist in Gundeldingen in Grossbasel
sprachen.
So berichtet, nach Einstiegsworten der medico international-Präsidentin Maja Hess und der grünen Nationalrätin Sibel Arslan Ciçek Yldiz vom Dachverband der êzidischen Frauenräte Deutschland darüber, wie der häufig spezifisch gegen Frauen gerichteten Gewalt in Kriegsgebieten begegnet werden kann. Für Yldiz und den Dachverband der êzidischen Frauenräte ist die Antwort klar: Durch Selbstverwaltung und Organisation in Frauenräten sollen alle Formen der Unterdrückung angegangen und bekämpft werden. Auf einem Flyer beschreibt der Dachverband das Vorgehen: "Tausende Êzidinnen haben einen Zufluchtsort in den Bergen Shengals gefunden. Dort haben sie sich zivile Strukturen und eine Form der Selbstverwaltung geschaffen. Frauen organisieren sich in Räten und bauen Nähkooperativen auf." Doch auch die konkreten Bedürfnisse von Frauen, die im Syrischen Bürgerkrieg Schreckliches erleben mussten, sollen angegangen werden. So wird in Shengal mit Spendengeldern und mit der Unterstützung von medico International ein Frauengesundheitszentrum aufgebaut, das gerade auch die traumatherapeutische Behandlung betroffener Frauen gewährleisten und den aus IS-Gefangenschaft zurückgekehrten Frauen die Rehabilitation ermöglichen soll.
Wie diese Behandlung aussehen kann, erläutert anschliessend im Referat die Psychoanalytikerin Ursula Hauser. Das Mittel der Wahl für sie: Die Psychodramatik - die dramatische und szenische Aufarbeitung von erlebten Traumata. Auch für Hauser steht die Frage, wie Frauen mit Kriegserlebnissen umgehen im Vordergrund. Und sie will sie aus einer linken Perspektive angehen: Sie spricht von internationaler Solidarität, vom Kampf der "Compañeras" in der Guerrillabewegung Guatemalas und vom Spannungsfeld von kulturell vorgegebenen Ansprüchen, in dem sich viele Frauen, die sich in Lateinamerika politisch bewegen, befinden: "Das sind die beiden Rollen, in die diese Frauen gedrängt werden: als Mutter vor allem die der Santa - also der Heiligen - oder eben sonst Putana - Hure." Besonders für jene Frauen, die die Waffe in die Hand nehmen, um die gesellschaftlichen Verhältnisse zu ändern, sei die Bezeichnung "Putana" vorgesehen. Dabei habe aber laut Hauser gerade der Kampf der Guerrilleras viel mit der Hoffnung zu tun, für eine kommende Generation eine bessere Gesellschaft zu schaffen. Und auch beim Psychodrama steht wie bei Yldiz' Frauenräten ein Prinzip im Vordergrund: Die Lösung für Traumata wie die kollektiv erlebte Gewalt an Frauen wird gemeinsam und nicht vereinzelt gesucht.
Auch wenn bei resist to exist die kurdische Bewegung im Vordergrund steht und auf Hauser ein Input von Arzu Güngör folgt, die als Projektverantwortliche für Kurdistan bei medico international arbeitet und in ihrem Referat die Perspektiven der Projektarbeit in Kurdistan darstellt, zeigt die Tagung viele Projektschwerpunkte der Veranstalter*innen gut auf: So arbeitet die Organisation in Kuba am Aufbau von feministischen Psychodrama-Netzwerken und unterstützt das Zentrum für Immunologie in Matttanza bei Projekten zur HIV-Prävention. In Vietnam werden Senior*innenkomitees aufgebaut und unterstützt und Ausbildungsprojekte für Freiwillige in der Betagtenbetreuung organisiert und in Kurdistan wird medizinische Infrastruktur für jene aufgebaut, die nach der türkischen Invasion 2017/18 aus Afrin fliehen mussten.
Es ist oft sehr spezifische Hilfe, die medico anbietet. In Nicaragua werden beispielsweise laut dem Bulletin ausschliesslich Frauenprojekte, so das Mütterhaus in Nueva Guinea, unterstützt. Es finden sich Langzeitprojekte bei denen Infrastruktur aufgebaut und Personal ausgebildet werden ebenso wie im Fall der Geflüchteten aus Afrin auch Direkthilfeprojekte. Und das stets in Abstimmung mit den Partner*innen, die bereits vor Ort arbeiten. Jenen also, die die Probleme der Arbeit vor Ort am besten kennen werden. Und das ist irgendwie bezeichnend für eine Organisation, die versucht, aus dem Gefühl von Solidarität heraus Entwicklungszusammenarbeit zu formulieren, die nicht von oben herab stattfindet: Die Probleme jener Menschen mit denen solidarisch zusammengearbeitet werden soll, sind spezifisch, die Lösungsansätze müssen es also auch sein.
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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 29/30 - 75. Jahrgang - 20. September 2019, S. 2
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Oktober 2019
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