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VORWÄRTS/1584: Rettet das Gosteli-Archiv!


vorwärts - die sozialistische zeitung, Nr. 15/16 vom 8. Mai 2020

Rettet das Gosteli-Archiv!

von Sabine Hunziker


Das Gosteli-Archiv vor den Toren Berns ist der zentrale Dokumentations- und Forschungsort der Schweizer Frauen*- und Geschlechtergeschichte. Es steht vor dem Aus. Die Stiftung, die sich um das Archiv kümmert, finanziert sich derzeit mit den letzten Franken von Marthe Gostelis Vermögen. Gegen die Schliessung regt sich Widerstand.


Seit 1982 sind in den Beständen der Gosteli-Stiftung bedeutende Quellen zur Frauen*geschichte archiviert. Hier finden sich Archivalien von Frauen*organisationen, Frauen*verbänden und einzelnen Frauen*, welche Politik, Wirtschaft, Bildung, Kultur, Gesellschaft und Familien in der Schweiz wesentlich geprägt haben. Insgesamt finden sich im Gosteli-Archiv über 400 Bestände. Zudem baute die Gosteli-Stiftung eine historische Bibliothek mit grosser Broschürensammlung auf und machte Quellenverzeichnisse digital zugänglich. Mit den Jahren avancierte das Archiv zum zentralen Dokumentations- und Forschungsort der Schweizer Frauen*- und Geschlechtergeschichte.

Viele Forscher*innen werteten die im Archiv vorhandenen Quellen aus und es entstanden geschichtswissenschaftliche Dissertationen, Studien im Bereich der Geschlechterforschung und Biographien über Frauen* in der Schweiz. Diese Arbeiten erhielten oft gesellschaftliche und wissenschaftliche Aufmerksamkeit. Das Archiv selbst ist in drei Abteilungen gegliedert. Zum einen werden hier Unterlagen von Vereinen und Verbänden aufbewahrt - etwa von der "Schweizerischen Gesellschaft Bildender Künstlerinnen". Den zweiten grossen Teil bilden persönliche Nachlässe. Beispielsweise finden sich hier Unterlagen zur Bernerin Marie Boehlen, erste Jugendanwältin der Schweiz und eine der ersten Politikerinnen, die zudem das Strafrecht modernisiert hat. Den dritten Teil des Archivs bildet die Fachbibliothek: Hier steht neben Standardliteratur und Ergebnissen von Forschenden, die mit den Unterlagen des Archivs arbeiten, auch eine Sammlung von Zeitungsausschnitten.


Ein Lebenswerk erhalten

Marthe Gosteli hat das Archiv und die Stiftung mitbegründet und auch einen grossen Teil davon finanziert. Die Bernerin, die sich seit den sechziger Jahren stark in der Schweizer Frauen*bewegung engagiert hatte, verstarb vor drei Jahren. 1917 wurde Marthe Gosteli in Worblaufen bei Bern geboren. Während des 2. Weltkrieges arbeitete sie in der Abteilung Presse und Funkspruch des Armeestabes. Nach dem Krieg leitete Gosteli die Filmabteilung des Informationsdienstes an der US-amerikanischen Botschaft in Bern. Ihre Erfahrungen mit Medien stellte sie ab Mitte der 1960er-Jahre ausschliesslich in den Dienst der Frauen*bewegung und gründete unter anderem im Jahr 1982 das Archiv zur Geschichte der schweizerischen Frauen*bewegung und die Gosteli-Stiftung. Damit ihr Lebenswerk erhalten bleibt, braucht es jeweils knapp zwei Millionen Franken pro Jahr. Nun verschärft sich das Problem: Das Stiftungsvermögen kann die Finanzierung des Archivs nur noch kurzfristig sichern. Finden sich bis 2021 keine Geldgeber*innen, muss die Sammlung aufgelöst werden. Unhaltbar! Weil die Schweizer Frauen* lange Zeit keine politischen Rechte besassen, kommt die Frauen*bewegung in öffentlichen Archiven kaum vor. Das Engagement der Frauen* fand vor allem ausserhalb der offiziellen Politik und der staatlichen Verwaltungstätigkeit statt. So finden sich nur wenige Quellen zu Aktivitäten von Frauen* im Bundesarchiv.


Verschiedene Finanzierungspläne, unklare Realisierung

Dieses Jahr wurde eine Motion im Nationalrat eingereicht, nach der der Bundesrat beauftragt wird, Unterhalt und Weiterentwicklung des Gosteli-Archivs zur Geschichte der Frauen*bewegung in der Schweiz auf der Grundlage von Artikel 15 FIFG (Bundesgesetz über die Förderung der Forschung und Innovation) sicherzustellen und diese Massnahmen in die Botschaft zur Förderung von Bildung, Forschung und Innovation (BFI) 2021 bis 2024 zu integrieren. Das heisst, mit einem bereitgestellten Betrag von vier Millionen Franken sollte das Archiv die nächsten vier Jahre erstmals weiter bestehen können. Weitere Möglichkeiten zur Mitfinanzierung werden gesucht. Das Anliegen wurde bis jetzt noch nicht behandelt. Der Bundesrat selbst hat 2019 einen Bericht verabschiedet, der drei mögliche Lösungen zur Unterstützung des Gosteli-Archivs vorschlägt: eine subsidiäre Finanzierung, die Integration eines Teils des Archivs oder eine vollständige Überführung des Archivs der Stiftung ins Schweizerische Bundesarchiv.

Da die Realisierung der Lösungen ungewiss ist, regt sich nun auch in der Zivilbevölkerung Widerstand gegen die drohende Schliessung des Archivs. "Als Forscher*innen und Interessierte der Frauen- und Geschlechtergeschichte und der Gender Studies fordern wir den Bund auf, die Finanzierung und Weiterentwicklung des Archivs zur Geschichte der schweizerischen Frauenbewegung sicherzustellen" - so lautet der Aufruf zur Petition auf act.campax.org. Aktivist*innen wie Fabienne Amlinger, Francesca Falk oder Pauline Milani haben unterzeichnet. 6000 Unterschriften werden vorausgesetzt und schon jetzt zeigen sich über 5000 Menschen solidarisch.


Symbol für Frauen*geschichte

Folgende Forderungen sind detaillierter ausformuliert: Das Gosteli-Archiv muss weiterbestehen. Denn Archiv, Bibliothek und bereitgestellte digitale Quellenverzeichnisse stellen eine unverzichtbare Grundlage dar, um die Schweizer Frauen*geschichte auch zukünftig zu erforschen. Das Gosteli-Archiv umfasst Bestände, die in staatlichen Archiven nicht greifbar sind. Es bietet damit eine einmalige und in demokratiepolitischer Hinsicht unabdingbare Grundlage, um die Geschichte der Frauen* in der Schweiz aufzuarbeiten. Auch der Standort des Archivs in Worblaufen soll erhalten bleiben. Für die Aktivist*innen steht er symbolisch für den langen Ausschluss der Schweizer Frauen* von staatlichen Institutionen in der Stadt Bern. Da die staatlichen Archive sich der Frauen*geschichte nicht widmeten, übernahmen Frauen* selbst diese Aufgabe. Das Gosteli-Archiv ist damit Zeichen der spezifischen Frauen*geschichte der Schweiz. Ein Erhalt von Stiftung und Archiv an ihrem Standort garantiert im Weiteren, dass die wertvollen Archiv- und Bibliotheksbestände für die Zukunft umfassend aufbewahrt und für die Forscher*innen jederzeit zugänglich sind. Schliesslich eröffnet die Gosteli-Stiftung mit ihren Räumlichkeiten eine einzigartige Möglichkeit der Vernetzung und des Austauschs von Frauen*.

PETITION UNTERSCHREIBEN UNTER ACT.CAMPAX.ORG

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Quelle:
vorwärts - die sozialistische zeitung.
Nr. 15/16 - 76. Jahrgang - 8. Mai 2020, S. 4
Herausgeberin: Verlagsgenossenschaft Vorwärts, PdAS
und ihre Deutschschweizer Sektionen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Mai 2020

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