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WILDCAT/025: Ausgabe 90 - Sommer 2011


Wildcat 90 - Sommer 2011



Inhalt:
Aint't No New Thing - zum Tod von Gil Scott-Heron
Editorial
Die globale Krise: On the road to nowhere
Portugal - Ein Musterschüler geht pleite
Österreich - Proteste gegen die Sparpolitik
Großbritannien - Unbegrenzte Haftung oder: nichts zu verlieren
Bewegungen in Spanien - Plötzlich wurde alles real
Buchbesprechung: Griechische Blaupause
Krise der EU - Weiße Rose aus Athen
In unseren Händen liegt eine Macht: Eine weltweite Streikwelle, Sparprogramme und die Krise der Global Governance
Migration, Aufstände, Militarisierung - wie geht's weiter im Nahen Osten?
Die soziale Bewegung in Ägypten dauert an
»Mir scheint das Leben außerordentlich lebendig.«
Arabischer Frühling oder Aufstand der Einheimischen?
Wem gehört das Land? Bauernkämpfe in Indonesien
Buchbesprechung: Frühschicht
Spätschicht - Interviews zur Betriebsintervention
Deisswil: Verhältnis von UnterstützerInnen und ArbeiterInnen
Weder Theologie noch Teleologie -
Erwiderung von K.H. Roth und M. van der Linden
Was bisher geschah...

Raute

America - Ain't No New Thing

Von Randy Shields

The revolution will not go better with Coke.
The revolution will not fight the germs that may cause bad breath.
The revolution will put you in the driver's seat
The revolution will not be televised ...


Seine gebieterische Stimme schickte einen wütenden musikalischen Brief (per Luftpost) an "Whitey an the Mann", den weißen Mann auf dem Mond. Er hat noch die Revolte (wenn nicht gar Revolution) in Ägypten am Fernseher erlebt. Ende Mai ist Gil Scott-Heron mit 62 Jahren in einem New Yorker Krankenhaus gestorben.

Diese Stimme nannte sie alle beim Namen. Ich weiß nicht, in welchem Alter ich zum ersten Mal gehört habe, wie Scott-Heron Nixon, Spearhead Agnew, Ronnie Raygun, Attila the Haig, (...) und Papa Doc Bush(*) auf seine unerschrockene und witzige Art in der Luft zeriss - sie und ihr Amerika waren ihm scheißegal (wie auch mir und Millionen anderen Amerikanerinnen), und es tat verdammt gut, das zu hören.

Sein liebstes Angriffsziel war die größte religiöse Erfahrung der Amerikanerinnen: was für umsonst kriegen. Vor allem, dass schwarze Kunst, Musik und Kultur von (hauptsächlich) weißen Kapitalisten ausgeschlachtet wurde, während ihre Erschaffer oft in Armut starben.

Klar hat er den Titel "Godfather" des Rap zurückgewiesen. NWAs "Straight Outta Compton" hat mich in den ersten Wochen umgehauen, aber dann konnte ich es nicht mehr hören. Vor allem die Musik war deprimierend und langweilig. Und das haben Scott-Heron und sein langjähriger brillanter Mitmusiker Brian Jackson hingekriegt: Sie schufen eine poetische, frei fließende, vor allem von Flöte und Schlagzeug getragene Basis, von der aus Scott-Heran Amerika kunstvoll, beißend und wie aus dem Maschinengewehr als rassistische, kriegsliebende, heuchlerische Müllhalde beschimpfte, deren Filme, Geschichte, Bilder und Medien als Fake.

Scott-Heron und der Multi-Instrumentalist Jacksan machten aus der Beat Poetry und -Musik, was sie immer hätte sein sollen, großartige Grooves und gelegentlich ein feines Solo. Du hast Scott-Herons Ratatata gegen die Ungerechtigkeit zugehört, jahrzehntelang! Die Musik und ihre Kreativität hielt dich fest, egal ab sie gerade mit Funk, Saul, R&B, Free Jazz, afrikanischen oder karibischen Beats spielte. Drogen, Gewalt, Armut, Ungleichheit, opportunistische "Anführer" und Deals, Abhängigkeit, Niederlagen und ein Leben, das nie aus der Gosse rauskommt - das waren seine Themen. Und die größte Sünde war langweilige Musik.

Vor zwei Jahren habe ich Scott-Heron in einem winzigen Club in Philadelphia gesehen. Es war atemberaubend. Seine Stimme und Präsenz geboten Aufmerksamkeit. Der Bassist Ron Carter hat mal gesagt, Gils Bariton war für Shakespeare-Rezitationen gemacht. Er, sein rockender Pianist, sein linkshändiger Wahnsinnsgitarrist und die krasse Rhythmusgruppe waren so gut, dass ich nicht mal mein Lieblingslied "Storm Music" vermisste oder "The Revolution Will Not Be Televised". Die Songs von seinem neuen Album "Im New Here" wurden sofort begeistert aufgenommen. Und "The Bottle" rockte heftig an diesem Abend. Scott war saukomisch in all seinen spontanen Schnellschüssen gegen die herrschende Klasse - eine Eigenschaft, die in allen Texten über ihn selten erwähnt wird.

In derselben Zeit, im Herbst 2009, habe ich auch James McMurty und Iris DeMent gesehen. Interessanterweise spielte Scott-Heron "The Revolution Will Not Be Televised" nicht, DeMent spielte "Wasteland of the Free" nicht, und McMurty spielte "We Can't Make It Here" nicht - alles absolute Klassiker, die Amerika scharf kritisieren. Ich bin sicher, dass alle drei unterschiedliche Gründe hatten, diese Stücke nicht zu spielen. Aber für mich war es ein schlechtes Zeichen. Mein Eindruck war, dass man jetzt, wo Big Bad Bush weg war, über Amerika verdammt nochmal die Schnauze zu halten hatte. Amerika sollte sich plötzlich gut anfühlen, weil eine schleimerische intelligente Wall Street-Marionette den ungehobelten Idioten aus Texas abgelöst hatte. Wut und Empörung waren uncool. Das hatte aber nichts von Reagans pseudo-glorreichen Morgen(-donner) in Amerika(**) sondern das war ein beschissen schwacher liberaler Guten-Abend-Tee in Amerika. Scott-Heron hat sich auch positiv über Obama geäußert.

Nach zwei Jahren Obama fasse ich zusammen: Die amerikanische Arbeiterklasse, vor allem die schwarze, hat genauso viel davon, einen Brief an "Whitey" auf dem Mond zu schicken, wie vom ersten schwarzen Präsenten im Weißen Haus.

How come there ain't no money here? (Hmm! Whitey on the moon) Y'kow I jus' 'bout had my fill (of Whitey on the moon) I think I'll sen' these doctor bills, Airmail special
(to Whitey on the moon)

Gil Scott-Heron, ruhe nicht in Frieden, wie es dir gerade alle raten. Sei wütend, wo immer du bist, sein witzig und bissig. Sei der Kämpfer, der du bist. Sei unerschrocken, wenn niemand anders es ist, egal ob du im Himmel oder in der Hölle bist. Ich bin sicher, an beiden Orten kann es besser sein als hier. Ich überlasse dir das vorletzte Wort: "America ... Ain't No New Thing - Amerika ist immer die gleiche alte Scheiße."

Sind diese Worte von vor vielen Jahren heute zu negativ und zynisch? Zu wenig hoffnungsfroh und offen für Veränderungen? Jahrzehnte, nachdem Scott-Heron die Leute dazu aufrief, ihre unbezahlten und unbezahlbaren Arztrechnungen an "Whitey" auf dem Mond zu schicken, erlebte er noch, dass 45 Millionen AmerikanerInnen ohne Krankenversicherung und 47 Millionen ohne Essensmarken auskommen müssen. 1970 wetterte er gegen die Armut in den Ghettos, und 41 Jahre später erlebte er die größte soziale Ungleichheit seit der Großen Depression. Und er erlebte auch noch den ersten schwarzen Präsidenten, den Friedensnobelpreisträger, der gerade in fünf Ländern unschuldige dunkelhäutige Menschen abschlachten lässt.

Amerika kann keine Klamotten, kein Spielzeug, keine Elektroartikel, keinen Frieden und keine Gerechtigkeit produzieren. Aber verdammt viel Ironie.


(*) Spiro Agnew: Vizepräsident unter Nixon, Verfechter des Vietnamkriegs, als Gouverneur von Maryland war er in den 60ern hart gegen die Bürgerrechtsbewegung vorgegangen
Alexander Haig: Stabschef im Weißen Haus unter Nixon und Ford, Außenminister unter Reagan

(**) Kampagne zur Wiederwahl von Reagan im US-Fernsehen unter dem Motto "Stolzer, stärker, besser"

(Zuerst erschienen auf www.counterpunch.org)

Raute

Editorial

A DAY IN THE LIFE

Heute überschlugen sich die sogenannten Ereignisse bzgl. der sogenannten Eurokrise, der sogenannten Rettung von Griechenland und der globalen Krise überhaupt... "Finanzmarkt gibt Griechenland auf", "Stoppt die Rating-Clowns!", "Der IWF muss die Europäer daran hindern, zuzulassen, dass sich der Schuldenschneeball der Eurozone in eine globale Lawine verwandelt.", "Wir sind jetzt in eine neue Phase der Krise eingetreten."

Moment mal: WIR?? "Eine andere Krise ist möglich!!" hatte die Bewegung in Portugal darauf schon im März geantwortet (siehe Portugal-Artikel). Während der Tanz um Ausfallswaps, Kreditereignisse und Laufzeitverlängerungen täglich hysterischer wird, rückt immer deutlicher die Frage in den Mittelpunkt der Krisendynamik, ob die PolitikerInnen weiterhin die Sparprogramme gegen die Bevölkerung durchsetzen können. In Irland und Portugal sind bereits Regierungen über Krisenproteste gestürzt, Griechenland geht in drei Wochen das Geld aus, aber sie kriegen weder eine Notstandsregierung noch die Zustimmung des Parlaments hin.

An diesem Freitag ist es sechs Monate her, dass sich Mohamed Bouazizi mit Benzin übergoss und anzündete. Seine Verzweiflungstat gab den Anstoß zu einem Jahrhundertereignis.

An diesem Freitag ist es 58 Jahre her, dass der Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 über 500 Orte und rund 600 Betriebe in der DDR erfasste, landesweit beteiligten sich zwischen 400.000 und anderthalb Millionen Menschen.

An diesem Freitag feierte sich das BKA: "60 Jahre Staatsschutz im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Sicherheit".

An diesem Freitag unterzeichnete Italiens Berlusconi-Regime ein "Kooperationsabkommen" mit dem selbsternannten Übergangsrat Libyens in Bengasi. Es soll den Kampf gegen "illegale Einwanderung" nach Europa und "das Problem der Rückführung" regeln. 2009 hatte Berlusconi praktisch das gleiche Abkommen mit Gaddafi geschlossen.

Am 15. und 16. Juni 1953 waren Bauarbeiter in Ostberlin gegen die Erhöhung der Arbeitsnormen in den Streik getreten. Am 17. Juni streikten bereits 150.000 Beschäftigte in Ostberlin. 30.000 forderten im Walter-Ulbricht-Stadion den Sturz der Regierung und ihre Ersetzung durch eine Arbeiterregierung. In Bitterfeld, Halle, Merseburg, Leipzig, Jena, Görlitz, Erfurt, Gera, Brandenburg und Rostock fanden blutige Straßenschlachten mit der Polizei statt, wurden SED-Büros gestürmt, Akten verbrannt, Funktionäre verprügelt, Gefängnisse geöffnet, Rathäuser und Verwaltungsgebäude besetzt. Streiks fanden vor allem in den Großbetrieben der Industriezentren statt. Das Leuna-Werk wurde besetzt, Forderungen nach Absenkung der Arbeitsnormen, Entwaffnung des Werkschutzes und Rücktritt der Regierung erhoben. 1500 Betriebsangehörige wurden nach Berlin geschickt, um den Generalstreik zu vereinheitlichen. Im Industriedreieck Halle-Bitterfeld-Merseburg nahmen Arbeiterräte die Verwaltung in ihre Hände: Gas-, Elektrizitäts- und Wasserwerke, Feuerwehr, Lokalrundfunk, Druckereien. Neben ArbeiterInnen wurden auch Angestellte, Kaufleute, Hausfrauen, StudentInnen teilweise auf öffentlichen Plätzen durch Zuruf in die Räte gewählt. In Bitterfeld kontrollierten Kampfgruppen der ArbeiterInnen die Stadt, schalteten Polizei und Verwaltung aus und befreiten politische Gefangene. Die DDR-Regierung flüchtete nach Berlin-Karlshorst unter den Schutz der sowjetischen Behörden. Diese verhängten den Ausnahmezustand und schlugen den Aufstand schließlich durch den Einsatz von Panzern nieder.

Vor genau sechs Monaten hat sich der 26-Jährige Bouazizi in der tunesischen Kleinstadt Sidi Bouzid mit Benzin übergossen und angezündet. Ein extremer Akt des Protests gegen die Behörden, die ihn schikanierten und ihm nicht erlaubten, auf der Straße seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Die Politik war ihm fremd, berichten Freunde. Er war auch kein arbeitsloser Hochschulabsolvent, wie zunächst verbreitet wurde, sondern nur ein armer Straßenhändler. "Wir haben uns das ausgedacht", sagte jüngst ein tunesischer Gewerkschaftsangehöriger der französischen Tageszeitung Libération, um das tunesische Bildungsbürgertum zu Protesten gegen das Regime zu motivieren. Bouazizi wurde wahrscheinlich auch nicht von einer städtischen Ordnungshüterin gedemütigt und geschlagen - mit dieser Geschichte wollte man die konservative Landbevölkerung schockieren. Wie auch in Spanien und Ägypten: die Aufstände haben zwei Seelen in ihrer Brust.

Für seine Rolle als Lagerkommandant der EU zur Verhinderung der Zuwanderung nach Europa brachte Gaddafi eigenes Know how mit; sein Regime hatte ein krasses Migrationsregime in Libyen aufgebaut. Aktuell geraten die MigrantInnen zwischen alle Fronten. Nur wenn sich die Kämpfe der Einheimischen mit den ihren verbinden, haben die Aufstände im arabischen Raum eine Chance (siehe Krise, Migration, Aufstände...). In Ägypten ist die Regierung gestürzt, das Regime aber nicht. Vier Monate nach dem Sturz Mubaraks drängt die Entwicklung auf einen Wendepunkt hin: Es gibt viele Streiks, aber sie sind defensiver geworden und meist so organisiert, dass sie die Produktion nicht beeinträchtigen. Die Frustration steigt, die wirtschaftliche Lage der Mehrheit der Bevölkerung wird immer schlechter. Der Militärrat versucht, Zeit zu gewinnen und Vertreter von Protestgruppen in die politische Verantwortung einzubinden, um die Bewegungen spalten zu können. Sobald diese Vertreter "die Phase des Aufruhrs" für beendet erklären und "die Phase des Aufbaus" mitgestalten wollen, kann das Militär gegen die Übrigen vorgehen: Der Tahrirplatz wurde Anfang April geräumt, nachdem die Revolutionary Youth Coalition zum Ende des Protests aufgerufen und die Beseitigung von Barrikaden organisiert hatte.

"Jede Regierung, die Millionen von Menschen jede legale gesellschaftliche Reproduktionsmöglichkeit wegnimmt und dabei die Ordnung aufrechterhalten will, muss gleichzeitig die Kernfunktion des Staates, Polizei im weitesten Sinne, massiv ausweiten." ist ein Zitat aus dem Artikel zu Großbritannien (Unbegrenzte Haftung oder nichts zu verlieren), die Frage nach der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Ordnung zieht sich aber auch durch den Artikel zur Eurokrise (Weiße Rose aus Athen) und die Thesen von Steven Colatrella (Eine weltweite Streikwelle): "Die Institutionen der Global Governance sind etwas zwischen ausführendem Organ und Bürokratie, das die staatliche Politik auf diesem Planeten vorgibt und koordiniert, sie handeln wie die >sichernde Macht des Allgemeinen< bei Hegel."

Die Krise dieser Politik ist deshalb für die Herrschenden so gefährlich, weil Aussitzen nicht mehr reicht. Denn Quantitative Easing lässt sich nicht endlos wiederholen (siehe dazu On the road to nowhere), und die Kredite werden immer riskanter, je länger sich die Rettungsprogramme hinziehen. Da der aktuelle Kapitalismus anders als durch Blasen nicht mehr wachsen kann, und "da aus mehr als einer Richtung der Klassenkampf droht, gibt es auf der "pragmatischen" Ebene von Sozialmanagement und Shareholder Value kaum eine Alternative zur kurzfristigen Reflation der Kredit-/Dienstleistungsökonomie." (Haftung...)

Diese "verzweifelte Politik der Reflation" kann aber nur gelingen, wenn die internationalen Finanzmämitspielen. Deshalb werden "eifrig deren übliche Forderungen umgesetzt": Flexibilisierung der Arbeitsmärkte, Übernahme der Bankenschulden, Erhöhung der indirekten Steuern, Einsparungen am Öffentlichen Dienst und bei den Sozialleistungen. Und auch wenn der Schorsch jetzt aufschreit: mehrere Artikel im Heft arbeiten heraus, dass der Öffentliche Dienst nicht nur im Zentrum der Angriffe steht, sondern auch weltweit in vorderster Front des Widerstands.

Leider haben wir keine Artikel zu/aus Griechenland und Syrien! Wie schnell sich das in sechs Monaten verändert hat: Ehemals unnahbare Potentaten betteln nun, das Volk möge mit ihnen "in Dialog treten". Sehr wichtig wäre auch eine genauere Analyse des bereits über dreimonatigen Bombardements von Libyen. Diesbezüglich müssen wir auf zukünftige Hefte verweisen.

"Das Signal zum Wecken wurde, wie immer, um fünf Uhr morgens gegeben - durch einen Hammerschlag..." - nein, hier soll es nicht um Solschenizyn gehen, sondern um ein Buch zu Fabrikinterventionen in den 70er Jahren namens "Frühschicht". Zunächst freuten wir uns, dass die Linke endlich wieder dieses Thema aufgreift. Beim Lesen wurden wir nachdenklich - und schließlich haben wir nun selber angefangen, Interviews zu diesen Erfahrungen zu machen. (siehe Morgenmuffel und Spätschicht ). Übrigens gab es Zeiten, in denen die radikale Linke vorsichtiger mit Begriffen wie "Intervention" umging: "Der Begriff des intervento bezeichnet das organisierte Eingreifen politischer Gruppen in bestimmte Klassenkämpfe auf durchaus verschiedenen Ebenen. Die deutsche Übersetzung dieses Begriffs mit dem der 'Intervention' vergisst in der Tat, dass dieser Begriff der 'Intervention' eben nicht den Bereich revolutionärer politischer Praxis bezeichnet, sondern im Gegenteil nurmehr den bürgerlicher Politik vor allem im diplomatischen und militärischen Bereich und in dem der Börsenspekulation." (Fußnote von Wolfgang Rieland im Vorwort zu seinem 1974 erschienen Buch Klassenanalyse als Klassenkampf: Arbeiteruntersuchungen bei Fiat und Olivetti). Man könnte das sogar noch einfacher ausdrücken: ein intervento ist einfach seine Meinung sagen, Standpunkt beziehen, sich verhalten. Aber in der Wildcat haben auch wir oft unkritisch den Begriff "Intervention" benutzt... Vielleicht erfordern neue Zeiten auch wieder neue Begriffe? Neu ist auf jeden Fall schon mal die Häufung von Repliken (Weder Theologie noch Teleologie), Antworten (Kampf in Deisswil) und Präzisierungen (Wem gehört das Land?) im Heft. Auf alle drei Punkte ("neue Arbeitswerttheorie"; Untersuchung/Kämpfe gegen Betriebsschließung; Proletarisierung/Kämpfe um Land) werden wir bald zurückkommen.

Berlin, 17. Juni 2011


Quellen:
* "A day in the Life" ist auf Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band von den Beatles; die Platte erschien im Juni 1967.
* Alle nicht gekennzeichneten Zitate sind aus der Financial Times Deutschland vom 17. Juni 2011.

Raute

On the road to nowhere

1) Polarisierung und Spaltung
In allen Krisen des Kapitalismus haben sich die Kräfteverhältnisse zunächst zu Ungunsten der Arbeiterklasse verändert. Auch diesmal wurden weitere Verschärfungen durchgedrückt (die Arbeit intensiviert, Reallöhne gesenkt, Sozialtransfers gekürzt). Wir erleben die größte Umverteilung von unten nach oben in der Geschichte der Menschheit. Diese verläuft aber nicht nur als krasse Polarisierung zwischen den »Superreichen« und den »Armen«, die Krise(npolitik) vertieft auch die Unterschiede innerhalb der Klasse selber und treibt die Vereinzelung voran.

2) Umbrüche
Aber in solchen historischen Momenten definieren sich auch Gesellschaften neu. Die globale Krise hat viele Leute über das Wesen des Kapitalismus, der Staaten, der Banken usw. aufgeklärt; sie entlegitimiert den Kapitalismus. Neue Akteure ergreifen die Initiative im Bewusstsein, Subjekt ihrer Geschichte und zugleich aller Geschichte zu werden. Die Aufstände in Nordafrika sind die Spitze von weltweiten Kämpfen. Sie haben schon jetzt Bewegungen in Europa und den USA inspiriert - und mittelfristig zwei Grundpfeiler des globalen Kapitalismus umgestürzt: billiges Öl und das Recycling der »Petrodollars« auf den globalen Finanzmärkten.[1]

3) Crash oder Stagnation?
Die aktuelle Krise ist in Verlauf, Reichweite und historischer Bedeutung mit der long depression von 1873-1896 zu vergleichen. In diesem Vierteljahrhundert ging es nicht ständig nach unten, es gab auch Perioden von Wirtschaftswachstum. Diese reichten aber nie aus, um den anfänglichen Einbruch auszugleichen, und wurden selber immer wieder von Rückschlägen unterbrochen. Seit dem Kriseneinbruch 1973 (»Ölkrise«) fallen die Akkumulationsraten und steigt die Arbeitslosigkeit, der globale Einbruch nach der Finanzkrise 2007 ist der Übergang in die Stagnation. Alle Bestandteile des Kapitalismus stehen infrage, Banken, Technologie, Sozialsysteme, politische Repräsentanz, Währungssystem, Energiegewinnung; »Fukushima« zeigt allen, dass kapitalistische Energiegewinnung sogar den Planeten selber bedroht. Zu Beginn der Krise hatte der Club of Rome den Forderungen der Arbeiterklasse die ökologischen Grenzen entgegengehalten. Mit Wachstum konnte der Kapitalismus immer wieder »Verteilungskämpfe« unterlaufen. Heute sind die »Grenzen des Wachstums« zu seinen Grenzen geworden.

4) Das Fließband hat den Planeten verändert
In der long depression entwickelte sich das, was man heute überhaupt unter »Kapitalismus« versteht: industrielle Herstellung von langlebigen Produkten des Massenkonsums (Nähmaschine, Staubsauger, Auto, Kühlschrank...). Die Branchen der Chemie- und Elektroindustrie oder die Konzerne als typische Organisationsform des Kapitals entstanden in dieser Phase. Erdöl/Strom ersetzte Kohle/Dampf als hauptsächliche Energiequelle. Ebenfalls in dieser Periode gründeten sich die Sozialdemokratie und die (Industrie-)Gewerkschaften. Und die Kolonialmächte zerstörten die Ökonomie der damaligen Peripherie (vor allem in China und Indien) derart umfassend, dass eine Hungerkatastrophe mit Millionen Toten die Folge war - das gilt als Geburtsstunde der »Dritten Welt«.

Die wesentliche Innovation war das Fließband, die Ingenieure nannten es »Bauerngeschirr«, denn mit ihm konnten die qualifizierten Handwerker-Arbeiter mit MigrantInnen und »freigesetzten« BäuerInnen ersetzt werden. Damit entstand eine ungeheuer produktive Kombination aus Arbeitsverausgabung und Akkumulation der vergegenständlichten Arbeit in Maschinen, die den ganzen Planeten umgegraben hat. Die Lebensmittel der Arbeiterklasse konnten so billig wie noch nie in der Geschichte hergestellt werden und prägten die »Konsumgesellschaft« der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Nahrungsmittel, Textilien, dann auch Haushaltsgeräte und schließlich das Auto - fast alle Waren, die wir heute kaufen, sind industriell produziert).

5) Die Etappen des Fordismus
Das war keineswegs so angelegt, sondern Ergebnis von harten Kämpfen. Ford duldete keine gewerkschaftlichen Organisationen im Betrieb, setzte Spione und Schläger ein, verbot seinen ArbeiterInnen sogar miteinander zu reden. Sie beschrieben das damals größte Ford-Werk River Rouge als »großes Konzentrationslager, das auf Angst und körperlicher Gewalt beruht«. In den 30er Jahren setzten Arbeiterrevolten und die Fabrikbesetzungen in den USA dem autoritären System der Massenproduktion am Fließband ein Ende. Anerkennung und Integration der Gewerkschaften, an der Produktivitätsentwicklung orientierte Reallohnsteigerungen, Arbeitsplatzgarantien, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, (Betriebs-)Renten usw. legten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Grundlage für die kurze Phase des »keynesianischen Fordismus« - in der Produktivitätsfortschritte mehr denn je durch »wissenschaftliche« Zerlegung des Arbeitsprozesses, das Aufzwingen von in der Maschinerie verkörperten Arbeitsrhythmen und Intensivierung der Arbeit erreicht wurden.

Innerhalb von zwei Jahrzehnten unterhöhlte dieses Modell seine internationale Basis, Japan und Deutschland wurden zu ernsthaften Konkurrenten der USA, was auch die monetäre Grundlage zersetzte. Das auf der Goldbindung des Dollars beruhende Währungssystem mit festen Wechselkursen kam ins Wanken und brach schließlich 1971 endgültig zusammen. Vor allem aber nahmen in genau diesen Jahren die Arbeiterkämpfe gewaltig zu, und sie forderten nicht nur mehr Lohn und weniger Arbeit, sondern richteten sich im Kern gegen die »Fabrikdisziplin« selbst. Aus der buntscheckigen Klasse »angelernter BauernarbeiterInnen« entstand in den Massenarbeiterkämpfen, die sich gegenseitig mit den antikolonialen Kämpfen im globalen »Süden« und der Jugendbewegung verstärkten, erstmals in der Menschheitsgeschichte ein weltweites Subjekt mit zutiefst egalitären Inhalten. Diese breiten Kämpfe in Fabrik und Gesellschaft, in deren Zentrum der multinationale Fließbandarbeiter stand, haben die Konstellation aus Fließband und damit verbundener (Reproduktion der) Arbeiterklasse aufgesprengt.

6) Überakkumulationskrise
Das Kapital hat versucht, diese Krise zu überwinden durch eine radikale Umstrukturierung der Arbeitsmärkte und des Arbeitsprozesses selber, um jedes kollektive Subjekt zu zersetzen. Belegschaften wurden durch Prekarisierung und Auslagerung aufgespalten, Großbetriebe zergliedert, Leiharbeit und »atypische Beschäftigungsverhältnisse« ausgeweitet, soziale Sicherungssysteme privatisiert, usw.

In den 70er Jahren wurde versucht, die großen Fabriken durch Automatisierung und »Humanisierung der Arbeit« einzukreisen und die Unternehmer durch Subventionen und Steuersenkungen dazu zu bringen, wieder mehr zu investieren. Die sozialstaatlichen Leistungen wurden zunächst sogar ausgeweitet. All das führte zu massiver Staatsverschuldung, brachte aber keine Ergebnisse, Löhne und Ansprüche stiegen weiter an, die Investitionen blieben aus.

Erst mit der »zweiten Ölkrise« Ende der 70er begann das »große Abbremsen« (massive Zinserhöhungen, Kürzungen sozialstaatlicher Leistungen; Ende der Humanisierungsprojekte). Paradoxerweise führte aber gerade die »monetaristische Wende« in der Wirtschaftspolitik - symbolisiert durch den Machtantritt von Reagan und Thatcher - zur Explosion der Geldmenge und der Staatsverschuldung.

Trotz all dieser Maßnahmen sanken die Akkumulationsraten seit Anfang der 70er Jahre immer weiter ab, und die Kapitalisten suchten nach anderen »Anlageformen«, ein Teil ging in die Verlagerung der Produktion in »Billiglohnländer«, wachsende Teile flossen in Finanzgeschäfte. Diesen Zusammenhang von Verwertungskrise und wachsenden Finanzströmen bei gleichzeitiger Ausweitung des Kredits fassen wir als »Überakkumulationskrise«; die seitherigen Etappen waren lediglich eine Transformation dieser Krise.

7) Die 80er Jahre - die Dekade, die alles änderte
Der kapitalistische Gegenangriff kam letztlich nur voran, weil er an Verhaltensweisen von unten ansetzen konnte: Flucht aus der Arbeit, Selbständigmachen, Alternativökonomie, Aktien kaufen usw.. Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre hatte dem Kapitalismus die große Krise gedroht. Aber die 80er Jahre wurden zum Wendepunkt: Scheitern der iranischen Revolution, Putsch in der Türkei, Niederlage im britischen Bergarbeiterstreik... Am Ende der 80er Jahre war »alles« anders als an ihrem Beginn; auch die ehemals radikale Linke hatte sich von egalitären und gemeinschaftlichen Vorstellungen verabschiedet und sprang auf den Zug des postmodernen Individualismus oder die antideutsche Begeisterung für große Politik in ihrer übelsten Form (Krieg) auf. Den Zusammenbruch des Ostblocks interpretierten diese Leute von Anfang an nicht als Aufbruch, sondern als weitere Niederlage egalitärer Vorstellungen.

Kurz zuvor hatte sich eine neue Geldpolitik durchgesetzt; den Bankencrash in den USA 1987 konterte der neue Vorsitzende der amerikanischen Notenbank Fed, Greenspan, mit einer Niedrigzinspolitik, die sicherstellte, dass die Preise von Aktien und anderen Geldanlagen nicht unter ein bestimmtes Level fielen. Dieser sogenannte Greenspan put war das Gegenstück zu den keynesianisch nach unten starren Löhnen - und ermöglichte »Profite ohne Investitionen«.

8) Kreditausweitung und Aktieninflation
Seit Mitte der 90er Jahre ist die sogenannte »Realwirtschaft« nur noch gewachsen aufgrund der Ausweitung des Kredits. Zunächst in der Internetblase, die Greenspan nach ihrem Platzen in eine Immobilienblase überführte (Great Bubble Transfer). Deren Platzen trat die aktuelle globale Krise los - und diese Kombination aus Immobilien- und Bankenkrise ist bis heute weder in Irland, noch in Spanien, Großbritannien oder gar den USA gelöst.

Auch diesmal wurde das Ende der Rezession durch eine bewusst herbeigeführte Aktienblase erreicht. Die als Quantitative Easing bezeichnete Kombination aus Nullzinspolitik und Aufkaufen der eigenen Staatsanleihen sollte nicht, wie in der Öffentlichkeit behauptet, die Banken durch Zuteilung von billigem Geld zu mehr Kreditvergaben motivieren - sondern die Preise an den Wertpapiermärkten anheben und damit den Anleihenmarkt stabilisieren. Das ermöglichte das Überleben der Banken und gab ihnen die Mittel, schon bald wieder gewaltige Profite zu machen; bestimmte Industriebranchen wuchsen wieder.

9) Im Zentrum der Staatsschuldenkrise stehen die Banken
Durch die Flucht des Kapitals in Finanzgeschäfte ist die Finanzbranche seit den 70er Jahren überproportional gewachsen. In den USA lag der Anteil des Finanzsektors (Banken und Versicherungen) 1947 bei 2,5 Prozent, Anfang der 80er Jahre bei 5, seit 2000 liegt er um die 8 Prozent des bip (der Anteil der Industrieproduktion sank von 25 Prozent 1947, auf 20 Prozent 1980 und liegt seit 2007 auf Werten zwischen 11 und 12 Prozent des BIP). Der Anteil des Finanzsektors an allen Unternehmensgewinnen in den USA lag am Ende des Zweiten Weltkriegs bei etwa 10, 2002 bei 40 und selbst im ersten Halbjahr 2009 noch bei 28 Prozent (zum Vergleich: laut Statistischem Bundesamt machten in der BRD die Banken 2008 18,5 Prozent aller Kapitalgewinne). Die Finanzbranche ist die am stärksten überakkumulierte Branche im heutigen Kapitalismus.

2007/2008 stand dieses globale Bankensystem am Abgrund. Zu seiner Rettung haben die Staaten 2008/2009 mindestens 18 Prozent des weltweiten Bruttosozialprodukts ausgegeben. Sie konnten damit den Crash verhindern - haben sich selbst aber in historisch noch nie dagewesene Schulden gestürzt. Trotzdem sind viele Banken weiterhin insolvent und werden durch die riesigen Kapitalspritzen nur künstlich am Leben gehalten (»Zombiebanken«). Eine wichtige Beatmungsmaßnahme ist, dass sie an den Schulden, die Staaten für ihre Rettung aufnahmen, prächtig verdienen. Würde ein solcher Staat Konkurs erklären, würden einige Banken in den Abgrund gerissen. Deshalb tun IWF, EU, die USA, China und deren Notenbanken alles, um eine Staatspleite zu verhindern. Den solchermaßen geschützten Banken drohen nur zwei Gefahren: ein bank run (die Leute verlieren das Vertrauen und heben ihr Geld ab) oder der Interbankenmarkt friert ein (die Banken verlieren untereinander das Vertrauen und leihen sich kein Geld mehr). Beide Ereignisse strukturierten sowohl den Krisenverlauf 2007/2008 wie auch das aktuelle Gezerre um die sogenannte »Eurokrise«.

10) Krise der EU
Die Staatsschuldenkrise wurde im November 2009 an Dubai deutlich, entfaltet sich aber seit 2010 in der europäischen Peripherie. Die krassen Ungleichgewichte im Euroraum, die für die Exportökonomie der BRD so gut funktioniert haben, treiben die Peripheriestaaten in den Bankrott. Die in kurzen Abständen wiederkehrende »Eurokrise« ist keine der Währung - der Euro ist bisher stabiler als die D-Mark, im Vergleich zum Dollar sogar überbewertet, seine Bedeutung als Reservewährung nimmt zu -, sondern eine Krise der europäischen Banken, der Politik und der EU selber. Gerade die Konstruktion der EU verschärft die Krise. Sie sieht keine gemeinsame europäische Sozial- und Fiskalpolitik vor, die EZB entscheidet unabhängig über die Geldpolitik und hat dabei nur die Stabilität des Euro als Ziel. Die Krise wurde deshalb von »Brüsseler Schattenregierungen« und in einem »Dauer-Ausnahmezustand der Euro-Rettung«[2] gemanagt. Die Hauptlast trug aber die EZB, sie rettete die Banken, denen sie die Schrottpapiere abkaufte, sie kaufte Staatsanleihen der überschuldeten Staaten (ein »Tabubruch«) und setzte diese gleichzeitig unter Druck; vor allem aber versucht sie durch ihre Zinspolitik zu verhindern, dass die ArbeiterInnen höhere Löhne erkämpfen.

11) USA - der Hegemon zerfällt
Die Peripherie Europas war nur das schwache Glied in der Kette, die Eurokrise nur der Auftakt zur nächsten Runde. Inzwischen rückt die Krise der USA in den Fokus. Am 16. Mai 2011 haben die Staatsschulden der USA die gesetzliche Obergrenze von 14,3 Billionen Dollar überschritten; mit einigen Tricks kann sich die Regierung noch bis zum 2. August durchschummeln, bis dahin muss der Kongress die Obergrenze angehoben haben, sonst droht Zahlungsunfähigkeit. Ende Juni läuft die zweite und letzte Phase des Quantitative Easing (QE2) aus, somit dürften die Zinsen steigen und die Immobilienkrise sich erneut verschärfen (bereits jetzt spricht man vom »double dip am US-Wohnungsmarkt«). Bisher konnten die USA von der Krise insofern profitieren, als gewaltige Summen in den »sicheren Hafen USA« flossen, sie somit ihre Staatsanleihen zu sehr niedrigen Zinsen absetzen konnten. Wenn die Zinsen steigen, könnte die USA-Staatsanleihenblase platzen und die Leitwährung Dollar crashen, damit ginge die erste wirklich weltweite Leitwährung zu Bruch. Keynes warnte einst, zum Sturz einer Gesellschaftsordnung gäbe es kein besseres Mittel, als ihre Währung zu ruinieren...

12) Globale tektonische Verschiebungen
Zum ersten Mal in der Geschichte des Kapitalismus zerfällt ein Hegemon, ohne dass ein neuer an seine Stelle tritt.[3] Hegemonie beruht auch immer darauf, dass für die Peripherie was abfällt. Die weltweiten Aufstände gehen von der Erkenntnis aus, dass es damit zuende ist.

Die Brics-Staaten machen zwar der USA ihre hegemoniale Stellung streitig, aber ein neuer Hegemon hat bisher immer mit einem neuen Akkumulationsmodell die produktive Kooperation und die industrielle Basis ausgeweitet. Ein solches ist seit 40 Jahren nicht in Sicht, denn so wie der Toyotismus nur eine auf "Optimierung" und Kostensenkung getrimmte Kopie des Fordismus war, so ist das chinesische Modell nur eine Kopie dieser Kopie.

Im letzten Zyklus hat "Chimerica" für einige Jahre zu einem stabilen weltwirtschaftlichen Wachstum geführt. Diese Symbiose aus zweistelligen Wachstumsraten/gewaltigen Exportüberschüssen auf der Seite Chinas und Immobilienboom/riesigen Defiziten auf der Seite der USA ist aber zerbrochen. Die USA können nicht mehr die Rolle des globalen Aufkäufers spielen (die hohen Kosten der Bankenrettung und die hohe Privatverschuldung müssen abgetragen werden - da kann nicht gleichzeitig der Konsum steigen!). Die aktuellen Krisenlösungsversuche torpedieren sich gegenseitig. Das Quantitative Easing der Fed erzeugte eine gewaltige Geldschwemme. Diese anlagesuchenden Gelder haben zu riesigen Preissteigerungen bei Rohstoffen und Nahrungsmitteln geführt, zu Blasen in den Schwellenländern (und wiederum auch in der Internetbranche). Der brasilianische Finanzminister sprach bereits vom "Währungskrieg". Die Austeritätsprogramme in der europäischen Peripherie und die erneut gepushten Exportrekorde der BRD verschärfen die globalen Ungleichgewichte enorm (bisher waren die Exporte der BRD vor allem in die EU gegangen, nun gehen sie verstärkt in die Bric-Staaten).

13) Die Situation in der BRD
Die starke Exportorientierung der BRD-Wirtschaft erklärt sowohl den krassen Absturz 2009 als auch die schnelle Erholung 2010. Speziell das chinesische Konjunkturprogramm dopte die deutsche Wirtschaft: 2010 schossen die deutschen Exporte nach China um 40 Prozent in die Höhe.

Zudem konnte die BRD von der "Eurokrise" ähnlich wie die BRD von der globalen Krise profitieren und ihre Staatsanleihen zu sehr niedrigen Zinsen aufnehmen.

Durch neue Exportrekorde und die Konjunkturprogramme ("Kurzarbeit", "Abwrackprämie") entwickelten sich der Arbeitsmarkt und die Löhne der Kerngruppen in der BRD so, dass die Propaganda verfängt, die BRD käme stärker aus der Krise, als sie reingegangen ist. Real wurden aber die Einkommen von HartzIV-BezieherInnen weiter gekürzt, die Leiharbeit stark ausgeweitet und relativ gut bezahlte Industriejobs durch "Dienstleistungsjobs" ersetzt (der sogenannte "Strukturwandel" verstärkte sich).

Der Aufschwung hängt ausschließlich am Export - die weltweite Nachfrage stagniert aber bereits wieder.

14) Krise der Politik

"Die Klasse der Kapitalisten existiert nicht unabhängig von den formellen politischen Institutionen, über die sie ihre Herrschaft ausübt. Sie braucht, um zu existieren, die Vermittlung einer formellen politischen Ebene."
(Mario Tronti, Arbeiter und Kapital)

"Globalisierung, Demokratie und der Nationalstaat sind nicht miteinander vereinbar. Wir können höchstens zwei gleichzeitig haben. ­... Wenn wir Demokratie zusammen mit Globalisierung wollen, müssen wir den Nationalstaat beiseite schieben"
(Dani Rodrik, Was die Weltwirtschaft von Griechenland lernen kann - 11.5.2010)

Die herrschende Politik erodiert, einerseits aufgrund der Entlegitimierung durch die globale Krise, andererseits weil sie von Notoperation zu Notoperation lediglich Zeit zu gewinnen versucht, den Crash hinauszuschieben. Die politische Klasse ist darüber stark zerstritten (in den Regierungen, in den Notenbanken, dann wieder Notenbanken gegen Regierungen...) und dünnt aus (nicht nur in der BRD gingen Politiker reihenweise von der Fahne...), in Belgien kriegen sie seit über einem Jahr keine Regierung mehr hin, die Beteiligung an Wahlen nimmt überall ab, das "Vertrauen in die Politiker" ist überall auf historischen Tiefständen usw..

Besonders deutlich wird diese "Krise der Politik" in der EU. Der "Dauer-Ausnahmezustand der Euro-Rettung" durch "Brüsseler Schattenregierungen" ist "dem Wähler nicht mehr vermittelbar", darüber sind bereits einige Regierungen gestürzt. Gegen diesen rigiden "politischen Überbau" ohne jeden Bezug zu einer sozialen Basis haben in den letzten Wochen und Monaten überall die "Plätze" rebelliert.

15) Die letzte Supermacht ist die Arbeiterklasse![4]

"Die Zerschlagung des bürgerlichen Staates (bedeutet), die Macht der Kapitalisten zu zerstören. Die Arbeiterklasse aber existiert im Gegensatz dazu sehr wohl unabhängig von den institutionalisierten Ebenen ihrer Organisationen."
(Mario Tronti)

Die ums Fließband und die Fabrik zentrierte Akkumulationsweise kommt auch deshalb an ihr Ende, weil die Arbeitskräftereservoirs ausgehen. In den kapitalistischen Metropolen arbeiten nur noch ein paar Prozent in der Landwirtschaft. Mit Indien und China wurden die letzten großen Reservoirs globaler Arbeitskraft angestochen - und in China lebt bereits jetzt die Hälfte der Menschen in Städten.

An den weltweiten Kämpfen, deren entscheidende Front im Moment quer durch den arabischen Raum verläuft, lassen sich sechs Linien erkennen, denen entlang sich eine globale Arbeiterklasse zu bewegen beginnt.

• Seit den Frontalangriffen von Thatcher und Reagan hatte die herrschende Klasse die Erfahrung gemacht, dass sie die Klasse umso besser klein halten können, je mehr sie drauf hauen (shock & awe nannten die USA auch ihre Kriegsführung). Damit ist es nun vorbei: Repression führt wieder zur Vervielfachung des Widerstands! Und sie hatten die Erfahrung gemacht, dass sie die Arbeiterklasse umso besser ausbeuten können, je mehr sie sie aufspalten - nun bricht aber gerade aus den prekarisierten Segmenten der Arbeiterklasse der Widerstand los. Es geht um Würde, höhere Löhne, gegen Korruption, die Politiker sollen abhauen!

• Bereits von Herbst 2007 bis etwa Mitte 2008 begannen in mehr als 38 Ländern Bewegungen gegen die Krise. Diese in der bürgerlichen Presse "food riots" genannten Aufstände u.a. in Kamerun, Haiti, Burkina Faso, Gabun, Honduras, Marokko, Tunesien und Ägypten waren in ihrer sozialen Zusammensetzung und ihren Organisationsformen oft schon eine Vorwegnahme der Aufstandsbewegungen in Nordafrika Ende 2010/Anfang 2011: eine Mischung aus Basisinitiativen, Gewerkschaften, oppositionellen Gruppen und vor allem formal hoch qualifizierten Jugendlichen, die meist im informellen Sektor arbeiten.

• Die Verunsicherung und Proletarisierung der sogenannten "Mittelschichten" hat zu einer neuen Art von sozialen Bewegungen geführt. Beispiele sind Stuttgart21, der große Zulauf zur Anti-AKW-Bewegung; diese deklassierten Mittelschichten spielen aber genauso eine Rolle in den Aufständen im arabischen Raum und in den Platzbesetzungen in Südeuropa.

• "Es reicht!" Oft waren Selbstmorde aus purer Verzweiflung Auslöser für breite Bewegungen. Die berühmtesten Fälle sind wohl Foxconn/China und Tunesien, aber auch in Frankreich hat eine Reihe von Selbstmorden bei Telecom/France zu breiter Empörung und Solidarisierung geführt.

• In den massenhaften Mobilisierungen gegen die Krise in Frankreich, Griechenland, England, Italien, Portugal und Spanien spielen SchülerInnen und Jugendliche eine besonders aktive Rolle. Das gilt auch für die Massenbewegungen und Streiks gegen Teuerung, Korruption und die Politik/Regierung in Tunesien, Ägypten usw.

• Im Sommer 2010 gab es erste offensive Arbeiterkämpfe in China seit dem Tien'an Men-Massaker.

(Nicht nur) Europa steht ein heißer Sommer bevor - aber was ist mit der BRD?

16) Wann kommen die Bewegungen in der BRD an?


Mal wieder sind wir in der Situation, dass um uns herum Bewegungen losgehen, die aber nicht in der BRD ankommen. Es gab viele kleine Kämpfe gegen Betriebsschließungen, es gab sogar riesige Mobilisierungen gegen Atomkraft und Stuttgart21, eine massenhafte Empörung gegen die Arroganz der Macht. Aber es gibt kein Zusammenkommen in einer "Bewegung". Vielleicht müssen wir erstmal die letzten 20 Jahre abschütteln um zu kapieren, dass es nicht immer so bleiben wird? 1988 schwappte ja auch eine (Krankenschwestern-)Bewegung von Frankreich aus in die BRD. Damit so was klappt, müssen wir allerdings über die symbolischen "Soliaktionen" der kleinen Häufchen rausgehen und an den sozialen Verhältnissen ansetzen.

17) Die ausbleibende politische Neuzusammensetzung der (radikalen) Linken
Die Krisenproteste in der BRD blieben von den Gewerkschaften bis zur sogenannten "radikalen Linken" auf den Staat fixiert. Die Gewerkschaften wollten ihn "gegen das Casino" stärken; andere plädieren für Arbeitszeitverkürzung und Mindesteinkommen. Die Antifa-Linke hat die Krise erst entdeckt, als die BRD bereits wieder im Aufschwung war. Zuvor hatte ein Vordenker der IL mit Heidegger und Nietzsche gegen die "soziale Frage" argumentiert und einen think tank für Grüne, SPD und PDL eröffnet. Ansonsten beschränkt sich die IL auf Kampagnen als "Mitmach"-Politik für Leute, die ihre eigene soziale Situation nicht (mehr) hinterfragen wollen. Aber eine Linke, die soziale Kämpfe nur noch als (von ihr ausgelöste) Kampagnen denken kann, ist nicht "radikal"; denn das hieße, die Sache von den Wurzeln her zu denken, nicht von der Medienwirksamkeit aus.

18) Von den eigenen sozialen Bedingungen ausgehen!
Die Krise hat - in Verlängerung und Verschärfung der Jahre davor! - die Vereinzelung verschärft. Fast alle müssen sich mehr als früher um Beruf Ausbildung und Familie kümmern. Die Arbeitshetze ist so krass, dass die Leute gar nicht mehr dazu kommen, über Widerstand nachzudenken. Ähnliches hatten uns aber auch GenossInnen aus Spanien erzählt - dort hat trotzdem eine Bewegung angefangen, die genau das thematisiert: die prekären Jobs, die miesen Löhne, das Hetzen um einen Arbeitsplatz...

Wir sollten zweierlei versuchen: "Auf Arbeit" wieder offensiver auftreten; wann wäre das möglich, wenn nicht jetzt, wo die Betriebe so viele Neueinstellungen vornehmen?! In die Empörungsmobilisierungen gegen Atomenergie, Bahnhöfe und Flughäfen unsere Kritik der sozialen Verhältnisse reintragen: "Wenn alle AKWs abgeschaltet sind, ist HartzIV dann okay?" Aller Erfahrung nach engen die Führungsfiguren solche Bewegungen realpolitisch "auf den Bahnhof" ein; die allermeisten Leute kommen aber als ganze Menschen zu den Demos, mit Ängsten, Wünschen und sozialen Aspirationen, die weit über "den Bahnhof" rausgehen.

19) Was tun!
Wir stellen uns weder in die Tradition der Sozialdemokratie noch in die ihrer linken Varianten, wir haben keine Programme anzubieten. Wir warten auch nicht auf den Totalcrash des Kapitalismus. Stattdessen setzen wir auf die sozialen Lernprozesse in den Kämpfen gegen die Krise und auf die Macht einer Arbeiterklasse, die noch nie so global war. Dazu müssen wir uns mit den realen Klassenspaltungen auseinandersetzen und sehen, was sich da ändert oder ändern lässt.

Wir sollten uns wo immer möglich an Aktionen, Streiks, Besetzungen usw. beteiligen. Informationen über Kämpfe und Bewegungen auf der ganzen Welt sammeln und rumgehen lassen. Vor allem auch direkte Kontakte herstellen und mitdiskutieren. Und schließlich müssen wir auch die theoretisch-politische Auseinandersetzung mit der "Linken des Kapitals" führen, die sich den Herrschenden als der bessere Krisenlöser andient.

Sozialdemokratie und Industriegewerkschaften sind historisch überholt, die heutigen staatstragenden Gewerkschaften sind genauso wenig zu retten wie "Fordismus" oder "Neoliberalismus". In der BRD z.B. vertreten die Gewerkschaften weder die Millionen Arbeitslosen, noch die fast eine Million LeiharbeiterInnen. Ihre Strategie, die Interessen der Kernbelegschaften zu vertreten, indem man "die Ränder" opfert, ist heute an die Wand gefahren. Wir trauern diesen Organisationen nicht nach; es reicht, an ihre Rolle bei der Einführung von Hartz IV zu denken. Viel spannender ist die Frage, welche neuen Organisations- und Kampfformen entstehen - und dass sie in den letzten Monaten genau gegen diese politische und gewerkschaftliche Repräsentanz entstanden sind!

Kritik der Politik des Ausnahmezustands - Recht auf proletarische Gewalt!
Aneignung des unermesslichen, akkumulierten Reichtums - Nichtbezahlung der Schulden!

Well we know where we're goin'
But we don't know where we've been
And the future is certain
Give us time to work it out
And it's very far away



Randnotizen

[1] Die folgenden Seiten sind eine Synthese der Artikel zur Krise in den letzten Wildcats. Dort findet Ihr Belege und Erklärungen zu allen Behauptungen, die hier nur kurz dargestellt werden können, dort werden auch die Begriffe (Chimerica, Great Bubble Transfer, Quantitative Easing, BRICS u.ä.) eingeführt bzw. erklärt.

[2] Die Leitartikel der FTD vom 12. und 20. April 2011.

[3] Siehe Immanuel Wallerstein und Giovanni Arrighi zur Frage, dass kapitalistische Weltwirtschaft eine hegemoniale Macht braucht; Arrighi sieht vier in der Geschichte des Kapitalismus: Genua im 16., Holland im 17., Britannien bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, danach die USA. Vgl. auch die Ausführungen von Steyen Colatrella in seinem Artikel und http://www.wildcat-www.de/wildcat/66/w66super.htm

[4] Wir ziehen diesen Denkanstoß der Parole "Die letzte Schlacht gewinnen wir!" vor. Vgl. dazu: den Leitartikel im Wildcat Sonderheft zum Krieg, http://www.wildcat-www.de/wildcat/wc_krieg_2003/wk3leita.htm von März 2003.

Raute

Portugal

Ein Musterschüler geht pleite

Von Charles Reeve

"Umwälzungen finden in Sackgassen statt."
(Bertold Brecht)

Ein paar Wochen vor dem Sturz der Regierung senkte der sozialistische Premierminister die Mehrwertsteuer für Golfplätze von 23 Prozent auf sechs Prozent. Angesichts der allgemeinen Verblüffung erklärte er, dass der Golf-Tourismus Portugal helfen würde, aus der Krise zu kommen... Zwei Tage bevor das Land finanzielle »Hilfe« von Brüssel anforderte, kündigten die Bürgermeistereien der beiden Großstädte Porto und Faro an, dass die Schulküchen während der Ferien geöffnet blieben, damit die Kinder wenigstens eine Mahlzeit pro Tag bekämen. In der Stadtregion Porto, der zweitgrößten Stadt des Landes, leben tatsächlich zwei Drittel der Armen und die Mehrheit der SozialhilfeempfängerInnen Portugals. In Faro, der großen Stadt des Touristengebiets Algarve, liegt die Arbeitslosigkeit über dem nationalen Durchschnitt von offiziell elf Prozent. Diese beiden Anekdoten beleuchten einerseits die Arroganz der politischen Klasse, andererseits die allgemeine Verarmung der Gesellschaft.

Zehn Jahre nach seiner Einstufung als »Musterschüler der europäischen Integration« ist das bankrotte Portugal auf den Titelseiten der Zeitungen. Die Medien decken einerseits die Armut und die soziale Ungleichheit auf, andererseits die zur Schau gestellte Verschwendung der Bourgeoisie, vor allem die der »Neuen Reichen«, die von dieser »Integration« profitiert haben. Zwischen Autobahnen und Einkaufszentren, in denen die großen deutschen, französischen und spanischen Handelsketten ihre Waren ausbreiten - unter den gierigen Blicken einer Bevölkerung mit beschränkter Kaufkraft, aber mit problemlosem Zugang zu Krediten - war der durchreisende Europäer schließlich zu dem Glauben gekommen, dass Portugal ein modernes Land in Europa wäre, während das portugiesische Volk nicht mehr weiß, woran es ist... Der Kapitalismus ist ein auf soziale Ungleichheit gegründetes Klassensystem, und das kleine Portugal bleibt nicht davon ausgenommen, auch nicht von den Konsequenzen der neoliberalen Periode, in der das Einkommen stark zugunsten des Kapitals verlagert wurde. Aber hier wird diese Entwicklung zu einer Gesellschaft der »zwei Geschwindigkeiten« auf eine altüberlieferte Armut aufgepresst.

Einige Zahlen werden helfen, zur Wirklichkeit zurückzukommen. In Portugal beträgt das mittlere monatliche Einkommen 1000 Euro, aber in den armen Regionen des Landes die Hälfte. Von einer Bevölkerung von zehn Millionen sind mehr als zwei Millionen Rentner, von denen kaum zehn Prozent mehr als 1500 Euro Rente beziehen. Die durchschnittliche Monatsrente liegt bei 380 Euro. 1,3 Millionen Menschen leben von 189 Euro Sozialunterstützung. Fast eine Million, insbesondere junge Leute, arbeiten prekär mit den berühmten »Grünen Scheinen« (recibos verdes) als Scheinselbständige - und müssen ihre Sozialbeiträge selbst bezahlen. Seit einigen Jahren steigt die Armutsrate wieder an. Nach Aussagen der Wohltätigkeitsorganisationen wurden allein in den ersten zwei Monaten des Jahres 2011 40 Prozent mehr Anträge auf Hilfe gestellt. Und die Suppenküchen werden gestürmt. Im Auswanderungsland Portugal suchen viele wieder ihr Glück im Exil. Viele osteuropäische MigrantInnen, die in Portugal waren, sind zurückgegangen. Seit 2000 ist die Auswanderung fast wieder so hoch wie in den 1960er Jahren; jeden Monat verlassen 2000 Arbeitslose das Land und werden aus Wählerlisten gestrichen.

Der portugiesische Staat ist heute hoch verschuldet und hat nicht einmal mehr die Mittel, weiter Geld zu horrenden Zinsen aufzunehmen, um die Schulden zu bedienen. Deshalb wurde er unter die direkte Kontrolle von Brüssel gestellt. Bevor wir den ökonomischen Neusprech über die Schulden dechiffrieren, ist es wichtig zu klären, wie es zu dieser Situation gekommen ist.


Die Folgen des EU-Beitritts

Die Situation der ArbeiterInnen hat sich in den letzten 35 Jahren stark verändert. Die erste Veränderung haben die sozialen Bewegungen nach der »Portugiesischen Revolution« erreicht, die zwar nicht die gesellschaftliche Ordnung umwälzten, aber die sozialen Bedingungen total transformierten, was Löhne, Arbeitsbedingungen, Arbeitsgesetzgebung usw. betrifft. Nach dem EU-Beitritt 1986 stiegen die Löhne und die Beschäftigung, ein Sozialstaat wurde aufgebaut, entsprechend den neuen Bedingungen der Ausbeutung der Arbeitskraft. Die Infrastruktur wurde ausgebaut, und die niedrigen Löhne zogen ausländisches Kapital an; die kapitalistische Entwicklung wurde in Schwung gebracht. Für eine kurze Zeit ging die Auswanderung zurück, staatliche Investitionen stiegen und die allgemeinen Lebensbedingungen verbesserten sich. Da die Löhne die niedrigsten in Europa blieben, wurden Konsumentenkredite eingeführt, um den Konsum der Arbeiterklasse zu steigern. Die enormen Finanzinvestitionen, die in Form von Krediten oder direkter Hilfe von Brüssel kamen, finanzierten diese Modernisierung des Landes und verteilten Geld an die großen europäischen Baufirmen und andere Branchen, aber auch an einen wichtigen Sektor der lokalen Kapitalistenklasse. Einige konzentrierten sich auf besondere Großereignisse wie die Weltausstellung in Lissabon, Porto als Europäische Kulturhauptstadt oder die Fußballeuropameisterschaften.

Mit der Osterweiterung der EU und den ersten Anzeichen der jetzigen kapitalistischen Profitkrise begann sich das Bild zu ändern. Fabriken gingen weg, schlossen, Löhne wurden gar nicht, verspätet oder nicht in voller Höhe ausgezahlt. Die Arbeitslosigkeit stieg, die Auswanderung stieg wieder an und das soziale Elend nahm zu. Die traditionellen Armutssektoren der portugiesischen Wirtschaft waren im vorangehenden Zeitraum zerstört worden und konnten keine Arbeitsplätze schaffen. ArbeiterInnen standen auf einmal ohne Job da, aber mit einem Haufen Schulden. Auch die traditionellen Familienstrukturen, die Verbindungen zum Land, die zur Reproduktion der Arbeitskraft beitragen konnten, waren entweder durch die rasche Landflucht oder durch die neuen isolierten und atomisierten Lebensformen zerstört worden. Der jüngste Angriff auf den Sozialstaat schließlich führte zu dieser sozialen Krise. Interessant ist, dass die alten Formen von Armut, also die alten Leute auf dem Land, nie verschwunden sind und sich mit den neuen jungen urbanen Formen verbanden. Zusammengefasst kann man sagen, dass in all diesen verschiedenen Zeiträumen die Löhne immer die niedrigsten in Europa geblieben sind. Als die jetzige Krise begann, war die Arbeiterklasse schon geschlagen. Die »Europäische Entwicklung« hat eine »Mittelklasse« im öffentlichen Sektor hervorgebracht, die - nach dem Versagen des Staates und der Zerstörung staatlicher Sozialpolitik (Erziehung, Gesundheit, Funktionsfähigkeit der Städte) - nun direkt angegriffen wird und langsam aber sicher dabei ist, der Arbeiterklasse in die Armut zu folgen.

Portugal ist also ein exemplarischer Fall der »Europäischen Integration«. Diese armen Gesellschaften der Peripherie wurden in der Tat von den Unternehmen und Banken der großen europäischen kapitalistischen Zentren ausgeplündert. Die schwache lokale Wirtschaft von einst wurde zerstört, Landwirtschaft und Fischerei, von der ein Teil der Bevölkerung - wenn auch schlecht - lebte, existieren praktisch nicht mehr. Die niedrigen Löhne haben einige Jahre lang Industrien mit hohem Bedarf an wenig qualifizierter Arbeitskraft angezogen - bis zum Anschluss der mittelosteuropäischen Staaten. Ein paar moderne Unternehmen und einige Zulieferfirmen großer Multis, die alle von der weltweiten Rentabilitätskrise betroffen sind, gibt es auch heute noch. Das soziale Netz ist ausgeblutet. Allein in der Stadtregion Porto gehen täglich 50 Läden oder Kleinbetriebe pleite. In manchen Einkaufsstraßen der Altstadt hat die Hälfte der Läden geschlossen und ein Drittel der Immobilien steht leer oder ist sogar eine Ruine. Im Handel sind zugunsten der großen Ketten europäischer Konzerne 2010 landesweit 40.000 Stellen weggefallen. In der Landwirtschaft haben die Landflucht, die Aufgabe von Feldern, die touristische Immobilienspekulation und die europäischen Flächenstilllegungsprämien zu einem Einbruch der Produktion geführt. Das frühere Agrarland Portugal importiert heute ein Drittel seiner Nahrungsmittel.


Der Diskurs über die Verschuldung

Kommen wir nun zu dem Schwindel, der sich hinter dem Diskurs über die Schulden verbirgt. Wir beziehen uns hier nur auf die Staatsschulden und lassen die privaten Schulden beiseite. Das, was man die »Hilfe« aus Brüssel oder vom IWF nennt, ist nichts anderes als dass weitere Darlehen vergeben werden zu Zinsen, die kaum niedriger sind als die auf dem privaten Markt - unter der Bedingung, dass äußerst aggressive Sparmaßnahmen durchgeführt werden. Diese »Hilfe« ist in Wirklichkeit eine Hilfe für den europäischen Bankensektor, damit sie weiterhin Zinsen für ihre Kredite kassieren können. Allein für das Jahr 2011 muss der portugiesische Staat 39 Milliarden Euro Kredit aufnehmen, von denen 32 Milliarden für Zinsen und Schuldentilgung bestimmt sind. Die europäischen Banken sind dadurch erheblich gefährdet. Von den an die portugiesische, irische, griechische und spanische Regierung verliehenen 380 Milliarden Euro kamen 264 Milliarden von den Banken anderer Länder der Eurozone, und im Fall Portugals haben sich spanische Banken besonders »exponiert«. Das heißt, allein die Zinszahlungen für die schon bestehenden Schulden treiben die Gesamtschuld immer weiter nach oben... - ein Schneeballmechanismus, dem ein Staat nur durch Konkurs und Zahlungsverweigerung entkommen kann. Was für die Banken zählt, ist die Fortsetzung der Zinszahlungen, die Schuld selber muss womöglich nie zurückgezahlt werden. Das scheint sich im Fall Griechenlands schon zu bestätigen.

Außer der Sicherstellung des Schuldendienstes muss der Staat auch die Finanzierung seiner eigenen Dienstleistungen und anderer Aufwendungen abdecken. Zu den Aufwendungen für sogenannte »Investitionen« gehören »Konjunkturprogramme«, die nach guter keynesianischer Logik die Wirtschaft wieder ankurbeln sollen. Aber wenn man den großen europäischen Konzernen mit einigen lokalen Zulieferern Geld für öffentliche Arbeiten gibt, wirkt sich das beschäftigungsmäßig letztlich kaum aus. Das gilt auch für das Projekt einer Hochgeschwindigkeitstrasse zwischen Madrid und Lissabon, deren Umfang von Tag zu Tag kleiner wird... Da nun einmal der Druck des internationalen Finanzsektors es nicht erlaubt, den Schuldendienst zu umgehen, muss offensichtlich am Staatshaushalt gekürzt werden, von der Bildung bis zum Gesundheitswesen.

Wie überall gehorchen auch in Portugal die Notmaßnahmen derselben kapitalistischen Logik. Ziel ist es, die Löhne drastisch zu drücken. Die Ökonomen, die die Fäden der politischen Marionetten ziehen, sehen das aktuelle Problem in den Arbeitskosten, diese müssen für die Wettbewerbsfähigkeit des Kapitals gesenkt werden, um Privatinvestitionen anzuregen und damit den Aufschwung zu fördern. Aber in einer Gesellschaft wie der portugiesischen, wo die gesellschaftliche Armut strukturell und die Prekarität der Arbeit eine der höchsten in Europa ist und wo der Anteil der Löhne am produzierten Reichtum schon lange vor dem Beginn der Krise zu sinken begann, ist dieses Argument unhaltbar. Die Austeritätspläne der sozialistischen portugiesischen Regierung haben zuerst die Industriearbeiter verarmt und haben es nun geschafft, den Lebensstandard der Mittelklasse zu schleifen: der Beamten, Lehrer usw. - und damit das Feuer der Revolte in zuvor friedlichen Bereichen entfacht.


Das Feuer der Revolte...

Anfang April haben die Medien lang und breit über die neue politische Instabilität schwadroniert und sie mit dem skrupellosen Politikerleben erklärt, das sich über den Köpfen der einfachen Jedermänner abspiele. Nichts ist falscher als das; denn diese politische Krise - der Sturz der Regierung - wurde durch eine gesellschaftliche Krise ausgelöst, die nicht erst heute begann, mit einer Vielzahl von Streiks, einschließlich Generalstreiks und beeindruckenden Straßendemonstrationen. Die Gewerkschaften - dominierend dabei die von der kommunistischen Partei kontrollierte CGTP, die vor allem im öffentlichen Dienst verankert ist - haben diese Aktionstage vor allem mit dem Ziel organisiert, die Unzufriedenheit in Richtung auf einen Verhandlungsweg zu kanalisieren.

Tatsache ist, dass die Beteiligung an den Streiks massiv zunimmt und die Stimmung kämpferisch ist. Besonders exemplarisch ist der sehr hart geführte Konflikt der Lehrer der Sekundarstufe gegen die Zerschlagung ihres Status und die absehbare Verschlechterung der Lehrbedingungen, der sich seit zwei Jahren hinzieht. Der letzte Tag des Generalstreiks am 24. November 2010, an dem es zu Zusammenstößen mit der Polizei kam, mobilisierte die Beschäftigten im öffentlichen und im Privatsektor. Zum ersten Mal seit den Jahren der Portugiesischen Revolution wurden Streikpostenketten gebildet, es gab Versuche von Besetzungen und Aufrufe zur Fortsetzung der Bewegung.

Ende 2010 gab es einzelne Anzeichen, dass die Unzufriedenheit auf eine neue Stufe gestiegen war. In den Demonstrationen traten kleine Gruppen mit antikapitalistischen Positionen auf, Zeichen einer Radikalisierung der prekarisierten Jugend. Die ArbeiterInnen zeigten sich gegenüber den revolutionären Parolen der Jugend so aufgeschlossen, dass der Ordnungsdienst der CGTP mehrmals einschritt, um die »Kontamination« ihrer Umzüge zu verhindern. Dann gab es den Vorfall Deolinda, der schnell zu einer »nationalen Affäre« wurde. Anfang 2011 produzierte diese bekannte Rockgruppe einen Song mit dem provokativen Titel »Parva que sou!« (Wie blöd bin ich doch!), der hinaus schreit: »Ich gehöre zur resignierten Generation / Ich habe im Fernsehen Leute gesehen, denen es schlechter geht als mir. / ich bin aus der Generation, die das nicht mehr aushält! / Diese Situation dauert schon viel zu lange / und weil ich nicht mehr blöd bin / sage ich mir, / Was ist das für eine blöde Welt / wo man studieren muss, um Sklave zu werden« Die Konzerte der Gruppe verwandelten sich in politische Versammlungen, es gab stehenden Applaus mit erhobener Faust. Über YouTube verbreitet erreichte der Song, der eine simple Feststellung zur Lage macht, eine politische Dimension und wurde zum Wahrzeichen der »prekären Generation«. Die Intellektuellen diskutierten, die Politiker wurden unruhig, die Medien begeisterten sich und die Gruppe machte ihre Schnitte... und verwahrte sich dagegen, Politik zu machen. Einige Wochen später wurde Os homens da luta (Männer des Kampfes), eine mittelmäßige Gruppe mit populärer Musik, die die Lieder der Revolutionszeit (1974-75) parodiert, von den Fernsehzuschauern ausgewählt, um Portugal beim Eurovision Song Contest zu vertreten, was bei denselben Intellektuellen Bestürzung auslöste! »Kämpfen macht Spaß« ist der populäre Nachfolgesong von »Wie blöd bin ich doch!«

Und dann ging man am 12. März 2011 abrupt vom Showbiz und schlechter Poesie zum Konkreten über. Ein Demonstrationsaufruf, der von jungen Leuten, die sich selbst Geraçao à rasca (Generation in der Klemme oder verlorene Generation) nennen, über die sozialen Netze verbreitet wurde, brachte massenhaft Leute auf die Straßen der wichtigsten Städte des Landes: 300.000 in Lissabon, 100.000 in Porto und 6000 in Faro. Die Aufrufer hatten vor allem junge Leute erwartet, die jungen Leute dachten, es ginge nur um sie selbst, aber der Rest der Gesellschaft sagte schnell: es geht um uns alle! Wir stecken alle in der Tretmühle, es ist keine Frage der Generation! In der Menge mischten sich die Generationen, Volks- und Mittelklasse-Schichten, es mischten sich in einer unbefangenen Atmosphäre Fahnen schwingende Patrioten, Punks, Kommunisten, Anarchisten, Einzelpersonen, die stolz die Verfassung mit sich trugen, andere, die mit Aufklebern an die »Nelken-Revolution« erinnerten. All das außerhalb von Parteien und Gewerkschaften. Zahlreiche Parolen äußerten eine radikale Gesellschaftskritik: »Weder Ökonomie, noch Arbeit...Verpisst euch alle!«, »Eine andere Krise ist möglich!«. Zwei Gedanken dominierten: Die Ablehnung der politischen Klasse insgesamt und die Bejahung von Autonomie in der Aktion: »Das einige Volk braucht keine Parteien!« Eine geheimnisvolle Erinnerungsarbeit brachte das Wort »apartidarismo« (Organisierung außerhalb von Parteien) wieder zum Vorschein, das während der Nelken-Revolution geprägt worden war.

Bei der Mobilisierung am 12. März 2011 gab es mehr Bezüge auf die tunesischen und ägyptischen Revolten als die griechischen. Auf einem auffälligen Transparent stand auf portugiesisch und arabisch »Basta!«. Als wäre die Fäulnis der politischen Demokratie mit einer neuen Diktatur vergleichbar, erstickenden Verhältnissen, von denen man sich befreien müsse. Die Anspielungen auf die Revolution von 1974 können ebenso interpretiert werden als Feststellung, dass ein Emanzipationsprojekt verpfuscht wurde. Dieses Projekt ist mit einer Aura versehen und hat für die jungen Leuten von heute nur vage Umrisse, aber es ist in der gesellschaftlichen Vorstellung präsenter, als man vermuten könnte. Der Aufruf zu einer zweiten Demonstration am 25. April 2011 ist aus diesem Blickwinkel noch eindeutiger, »Der 25. April in der Klemme!«.

Diese erste Demonstration besiegelte das Schicksal der sozialistischen Regierung, sie war aber Ausdruck des Misskredits gegenüber der politischen Klasse insgesamt. Die angeblich beleidigten Aufschreie der Politiker, die den sogenannten Nihilismus der »Jungen« anprangern, zählen angesichts der konkreten Erfahrung wenig. In 36 Jahren ist das Vertrauen in die parlamentarische Demokratie dahin geschwunden, Politiker gelten als verabscheuenswerte Betrüger. Die Portugiesische Sozialistische Partei trägt eine erhebliche Verantwortung für dieses Image. Ihre Nomenklatura ist eine Bande von gierigen Raubtieren, Neureichen und Geschäftemachern, ein mafiöser Krake, der sich alles unter den Nagel reißt, was Vorteile oder Privilegien bringen kann, der in die Finanz-, Immobilien- und spekulativen Bereiche investiert, Freunde, Familienmitglieder und Bekannte auf einträglichen Posten platziert. Die sozialistischen Minister und Notabeln werden vom Volk verabscheut. Nur wenige von ihnen sind nicht in fragwürdige Affären verwickelt, die meistens straffrei ausgehen.

Die Sozialistische Partei ist eine Sozialmafia, die sich auf alle Industriebranchen (soweit sie überlebt haben), hauptsächlich aber auf die Finanzbranche erstreckt. In der Gesellschaft gibt es allgemein das Gefühl, dass sie versuchen, ihre korrupten Machtmethoden zu schützen und deshalb lange Zeit eine direkte Intervention von Brüssel und dem IWF vermeiden wollten. Das ist ein politischer Grund. Man könnte sogar sagen, dass es im Volk Erwartungen an diese Intervention von außen gibt, als ein Weg, wieder Moral in das öffentliche Leben zu bringen, um die »Sozialistenbande« loszuwerden. Es gibt auch wirtschaftliche Gründe, wichtiger ist meiner Ansicht nach aber die Tatsache, dass Spanien geschützt werden muss, weil Portugal die letzte Mauer ist, bevor auch Spanien fällt. Der Finanz- und Spekulationssektor in Spanien ist enorm in der portugiesischen Verschuldung engagiert und deshalb bankrott.

Für die »normalen Leute« wird diese Rettung natürlich mehr Leiden bringen, die Mittelklasse im öffentlichen Sektor wird noch mehr absteigen und nichts wird gelöst werden. Es ist nur eine Hilfe für die Banken, die in der öffentlichen Verschuldung engagiert sind.

Portugal ist das erste Land in Europa, in dem eine linke, sozialistische Regierung sich gezwungen sieht, wegen der durch die Austeritätspolitik hervorgerufenen sozialen Unzufriedenheit die Macht aufzugeben.

Das Beispiel zeigt auch gut, wie sehr die politische Klasse durch die Krise destabilisiert ist. Obwohl der Misskredit gegenüber dem parlamentarischen Systems groß ist, sind die großen Parteien gezwungen, sich mit ihrer Wählerschaft auseinanderzusetzen. Die Sozialistische Partei macht das schlau. In Portugal waren anfangs die Notmaßnahmen gegenüber dem öffentlichen Dienst moderater als in Griechenland oder Irland: nur die Löhne, die oberhalb von 1500 Euro lagen, wurden um fünf Prozent reduziert, das 13. und 14. Monatsgehalt belassen. Die PS hat soweit wie möglich auf ihre Wählerschaft Rücksicht genommen, zögerte aber nicht, die ärmsten Arbeiter heftig anzugreifen. Die Abfindungszahlungen wurden um ein Drittel reduziert und die ohnehin schon miserablen Sozialleistungen eingeschränkt. Durch neue Berechnungskriterien für den Zugang zur Sozialhilfe schaffte es die Regierung, in einem Jahr 30 Familien aus dem Empfang auszuschließen.

Kaum hatten sie die Staatsgeschäfte aus der Hand gegeben, haben die Sozialisten ihren neuen Wahlslogan gefunden: »Portugal verteidigen!« - eine nationalistische Demagogie, hinter der sie die Verteidigung ihrer mafiösen Interessen und ihre Verbindungen zu den lokalen und internationalen Finanz- und Industriesektoren verbergen, um die es wegen der Intervention des IWF schlecht stehen könnte. Darüber hinaus folgten die sozialistischen Sparpläne derselben Logik wie die zukünftigen: Senkung der Löhne, Verringerung der Sozialleistungen, rechtliche Deregulierung des Arbeitsmarkts, Schutz der hohen Einkommen und der kapitalistischen Klasse. In Erwartung der Ankunft des IWF hat die Sozialistische Partei unverfroren ihre Aufgabe als Bewahrerin des Systems übernommen, so wie sie schon 1975 unter sehr viel gefährlicheren Umständen mit militärischem Druck und Unterstützung der Vereinigten Staaten die Rückkehr zur kapitalistischen Ordnung durchgesetzt hatte.

Nach drei Sparpakten schien die Partei in einer schlechten Position für die Fortsetzung der Schmutzarbeit zu sein. Es war dringend, das Gesicht der politischen Klasse zu säubern/renovieren, auch wenn jeder weiß, dass die an ihre Stelle tretenden Politiker der rechtssozialdemokratischen Partei Klone der Sozialisten sind. Hat nicht Brüssel - wo von nun an alles entschieden wird - zur Bedingung für die »Hilfe« gemacht, dass die gesamte politische Klasse vor Ort der Fortsetzung der Austeritätspolitik zustimmt? Das wird nicht gemacht, um die Glaubwürdigkeit der Politik wieder herzustellen; auf die Gefahr hin, den Raum für den sozialen Protestes noch zu erweitern.

Wenn sich Länder wie Portugal, Griechenland, Irland und dann noch Spanien von der isländischen Haltung - Ablehnung der Schuldenzahlung - anstecken ließen, könnte das den Zusammenbruch des Europäischen Währungssystems nach sich ziehen. Der Zusammenbruch der Peripherien zöge den der kapitalistischen Zentren Europas nach sich und würde endlich eine einheitliche soziale Situation in Europa schaffen. Andernfalls wird es in jedem Land zu einer fremdenfeindlichen Absetzbewegung wie in Finnland, mit noch viel verheerenderen sozialen Folgen kommen. »Das ist Politik vom Schlimmsten«, werden die Taliban des »Kapitalismus als einzig mögliche Perspektive« schreien, aber die jetzige Situation ist für die Mehrheit der Bevölkerung in Portugal wie überall in Europa schon die schlimmste Politik.

Auf Anti-Atom-Demos in Berlin nach dem kapitalistischen Verbrechen von Fukushima kam ein Slogan besonders gut an: »Unsere AKWs sind so sicher wie unsere Renten!« Diese kluge Parole paraphrasierend könnte man ebenso gut sagen, dass »die Beherrschung der kapitalistischen Ökonomie genau so sicher ist, wie die Beherrschung der Kernenergie durch die Wissenschaft.« Es ist Zeit, sich mit der realen Situation zu befassen, den von der Ökonomie vergifteten Boden aufzugeben und autonome Praktiken der Übernahme der Gesellschaft durch die Betroffenen selbst zu entwickeln. Der Kapitalismus ist ein gefährliches System und die Folgen seiner Krise sollten uns auf Trab bringen. Attentismus und Resignation bringen keine Sicherheit mehr; sie sind eine Gefahr.

20. April 2011


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- "Das einige Volk braucht keine Partei"

- "Es reicht! Vater in der Tretmühle"
- "Wir wollen alles!"

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Österreich

Proteste gegen die Sparpolitik

Frühlingserwachen in Österreich. In Graz fanden im März und April zwei große Demonstrationen gegen Budgetkürzungen der steiermärkischen Landesregierung statt; sie will in den nächsten Jahren 1,5 Mrd. Euro einsparen und zapft deshalb die Einkommen der ArbeiterInnen im Gesundheits-, Sozial- und Bildungsbereich an. Zwei Krankenhäuser und drei Schulen werden geschlossen, bestehende Einrichtungen "neu bewertet" und "neu angepasst", Mittel für Jugendeinrichtungen und Behindertenbetreuung gekürzt, Familien mit Nettoeinkommen über 1500 Euro müssen für Kindergärten und Pflege erhaltene Beträge zurückzahlen... über tausend Jobs wackeln. Der Krisenangriff zielt aber auch auf alle anderen: Kürzung von Wohnbeihilfen und Pendlerbeihilfe, geplante Erhöhung der Gebühren für Wasser, Kanal und Müll.

Auf den Demos waren viele Leute zum ersten Mal auf der Straße; einige kamen aus den umliegenden Bezirken, von den wichtigen Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen der Region, um zusammen mit den städtischen BetreuerInnen, Kulturinitiativen und Ehrenamtlichen ihren Unmut auszudrücken.

Organisiert wurden die Proteste vom ÖGB und der Plattform25, einem Zusammenschluss von BetriebsrätInnen aus dem Sozialbereich, NGOs, KünstlerInnen und Linken aus dem gewerkschaftlichen Umfeld. Sie behaupten, dass auf beiden Demos je 10.000 Leute auf den Straßen waren. Das ist übertrieben, die Hälfte davon ist realistischer. Ein über E-Mail verschickter Text rief im Vorfeld der zweiten Demo zum Streik der Gesundheits- und PflegearbeiterInnen und zur Besetzung des Grazer Hauptplatzes à la Tahrir in Kairo auf Es gibt schon mehrere Artikel, die die Proteste zusammenfassen und sie weitertreiben wollen: "Wir müssen mehr machen und radikaler sein! Streik, Besetzung!" ist der Tenor. Bis jetzt finden diese Vorschläge aber keine Resonanz, die Texte sind nicht das Ergebnis kollektiver Diskussionen, sondern dem Engagement einzelner (AutorInnen) zu verdanken. Die Protestorganisatoren wiederholen am Rednerpult und auf Pressekonferenzen ständig, dass sie den Protest so lange weiter organisieren, dass die "BürgerInnenbewegung so lange weitergeht", bis die Kürzungen zurück genommen werden. Immerhin haben sie veranlasst, dass auf der zweiten Demo niemand von den Grünen oder der KPÖ redete ("keine Reden von Landtagsabgeordneten"). Aus dem Regierungsslogan "minus 25 Prozent bei den Ausgaben" wurde ein "plus 25 Prozent für alle!" gemacht. In den Tagen zwischen den zwei Demos sah man in der Stadt viele Leute mit solchen Buttons herumlaufen. Es gibt regelmäßig "offene Treffen für alle, die sich einbringen möchten".

Die Tageszeitungen schrieben Mitte Mai, dass die "Protestwelle", allen voran ÖGB und Facebook, die Parteien "in die Knie" zwang. 300 Jobs werden nun doch nicht gestrichen, sechs Millionen Euro doch nicht eingespart, über Kurzarbeit und Weiterbildungsmaßnahmen wird verhandelt, die Pendlerbeihilfe doch nicht gestrichen; die Arbeiterkammer übernimmt statt des Landes die Verwaltung und ein Drittel der Kosten. Sozialdemokraten und Gewerkschafter verkünden Siege, aber alle wissen, dass sie sich damit noch weiter in die Umlaufbahn schießen. Die Plattform25 organisierte am 10. Juni Pflegebedürftige, Jugendliche und Angehörige, die übers Mikro ihre Situation vortrugen und verteilte Flugblätter gegen die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen in der Behindertenhilfe. Dabei ging es in erster Linie darum, mit den Politikern in einen Dialog zu treten. Ihr Gedanke ist: "Wenn sie nur verstehen würden, was sie da anstellen, dann würden sie alles zurücknehmen".

Auch wenn manches auf den ersten Blick sympathisch ist und das (Politiker-)Gerede von Alternativlosigkeit zerpflückt wird ("Geld ist genug da!", "keine Prestigebauten, Konzernsubventionen, Medienspektakel!"), hat man auf den Demos das Gefühl, dass die Leute entgegen allen Erfahrungen darauf hoffen, dass es entweder die OrganisatorInnen, die Gewerkschaft oder irgendwer nach den nächsten Wahlen im Parlament wieder hinbiegen wird. Das erklärt auch die Streikzurückhaltung nicht, dass ein Streik im Pflegeheim oder Krankenhaus so schwer oder unmöglich wäre.

Zudem beschränkt sich die Bewegung auf sich selber. "Anti-Sparpaket-Proteste in Spanien? Was hat das mit uns zu tun?" fragen die Chefs der Plattform25. Zwei Mal hatten sich Ende Mai und Anfang Juni AktivistInnen mit Megafon und Plakaten am Grazer Hauptplatz zu Solidaritätskundgebungen für die spanischen PlatzbesetzerInnen versammelt. Auf der ersten wehte ein Hauch von internationalem Feeling. Alle konnten ans Megafon. Ich versuchte von der Arbeit in der Autofabrik zu erzählen, von der Anti-Mubarak Demo im Februar und von den Protesten gegen das Landesbudget. Die zweite Kundgebung eine Woche drauf war das genaue Gegenteil: gelähmte Stimmung und nicht mal die Hälfte der Leute vom letzten Mal. Folgerichtig kam die (geplante) dritte nicht zustande, weil plötzlich niemand mehr Zeit hatte, dafür was zu tun. Das ist gerade die größte Gefahr. Die einen halten sich dauernd zurück oder verpennen alles, die anderen beziehen sich nur auf sich selbst und hoffen auf Reformen.


weitere Infos:

Artikel von Andreas Exner auf www.solidarischgsund.org:

Streik ist die erste Wahl. Zur Partei-Illusion in der Steiermark, 12.5.2011.
Nach der Demo: Zurück an die Arbeit? Zur Krise in der Steiermark, 27.4.2001
Voves bricht Menschenrecht. Streik gegen 25%-Kürzung ist Menschenrecht, 26.4.2011
Proteste in der Steiermark - Viel erreicht, und vom Ziel weit entfernt, 25.4.2011


Artikel von Leo Kühberger in der Grundrisse 38: Car(e) Workers - Große Krise und kleine Kämpfe in der Steiermark

Raute

Großbritannien:

Unbeschränkte Haftung oder nichts zu verlieren?

1. Die Reflation des Staates

April 2011. Die britische Regierung will die nichteuropäische Einwanderung auf ein festes Limit begrenzen. Auf Bedenken der Unternehmer reagiert sie mit einigen nicht an die große Glocke gehängten Zugeständnissen. Um eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis zu erhalten, muss man nur fünf Millionen Pfund mit ins Land bringen oder gegen Sicherheiten im Ausland einen Kredit in dieser Höhe bei einer britischen Bank bekommen. An der Migrationspolitik ändert das praktisch nichts, aber es verrät viel über das Verständnis von "nationalem Wohlstand" in der Wirtschaftspolitik "nach" der Krise. "Großbritanniens wachstumsorientiertester Haushalt in Jahrzehnten" konzentriert sich auf eine "kontrollierte" Reflation der aus Privatkreditzirkulation, steigenden Immobilienpreisen und damit verbundenen finanziellen bis häuslichen "Dienstleistungen" bestehenden Vor-Krisen-Ökonomie.

Eine derartige Immobilienreflation kann nur gelingen, wenn die internationalen Kreditmärkte mitmachen. Um das zu erreichen, werden eifrig deren übliche Forderungen umgesetzt: Gläubigerschatz, "flexible" Kapital- und Arbeitsmärkte, Verlagerung des Risikos (d.h. der Haftung) auf die Arbeiterklasse. Also müssen das Haushaltsdefizit und die 2008/09 durch die Übernahme der Bankenschulden aufgetürmte Staatsverschuldung reduziert werden.(1) Die "Einsparungen" sollen dadurch erreicht werden, dass der Staat sich aus seiner Rolle als letztinstanzlicher Arbeitgeber und Versorger jenes großen Bevölkerungsteils zurückzieht, den die Immobilienboom-Ökonomie nie profitabel ausbeuten konnte. Aber dass der Arbeiterklasse das Geld gekürzt wird, heißt noch lange nicht, dass "der Staat schrumpft". Wie die aktuelle britische Administration sehr gut weiß, muss jede Regierung, die Millionen von Menschen jede legale gesellschaftliche Reproduktionsmöglichkeit wegnimmt und dabei die Ordnung aufrechterhalten will, gleichzeitig die Kernfunktion des Staates, nämlich Polizei im weitesten Sinne, massiv ausweiten. In den aktuellen und kommenden Kämpfen geht es also gewissermaßen um die Frage: Welche Arten von "Unruhen" (individuell-"kriminelle", "Rassen"-, Religions- oder Klassenunruhen?) wird der Staat polizeilich bekämpfen müssen, und wie erfolgreich wird er dabei sein? Diese Frage kann im Moment niemand wirklich beantworten, aber ich werde im zweiten Teil dieses Textes zumindest ein paar Hinweise auf die Bedingungen einer möglichen Antwort zu geben versuchen.

Einige Linke in Großbritannien bezeichnen den aktuellen politischen Trend in diesem Land als "Privatisierung der Schulden". Das ist korrekt, sofern wir diesen Ausdruck in doppeltem Sinne verstehen: Auf einer Ebene ist damit die Abwälzung der vor der Krise aufgehäuften Schulden des Privatsektors auf den Staat und weiter auf die Arbeiterklasse gemeint; auf einer anderen Ebene ist das Ziel dieser Übung gemeint, nämlich die Theorie, dass die Reduzierung der Staatsschulden (bzw. ihre Abwälzung nach unten) irgendwie den Weg freimachen werde, damit ein auf die Schaffung, Ausweitung und Verbriefung von Kredit, d.h. Schulden ausgerichteter Privatsektor erneut wachsen kann.

Dass es nicht möglich ist, über diesen Ansatz langfristig die Akkumulation wiederherzustellen, ist so offensichtlich, dass alle möglichen Marxisten, Schocktherapie-Monetaristen, konservativen Keynesianer und radikalen Neokeynesianer das beweisen und sieh darüber freuen können. Aber Fragen der langfristigen Akkumulation spielen in dem Zeithorizont, der für die "Policy Makers" (Berater, Spitzenbeamte und Regierende) und Firmen zählt(2), kaum eine Rolle. Da aus mehr als einer Richtung der Klassenkampf droht, gibt es auf der "pragmatischen" Ebene von Sozialmanagement und Shareholder Value kaum eine Alternative zur kurzfristigen Reflation der Kredit-/Dienstleistungsökonomie. Das Kapital ist derart stark im FIRE-Sektor (Finance, Insurance, Real Estate - Finanzen, Versicherungen, Immobilien) und den daran hängenden Dienstleistungen konzentriert, dass eine "Wiederherstellung des Gleichgewichts" durch Aufwertung der Industrieproduktion, wie sie die Gewerkschaften fordern und einige Minister gelegentlich versprechen, einen Großteil des "Reichtums" vernichten würde, der in den Dienstleistungs- und Konsumentenmärkten zirkuliert. Damit würde sie auch eine internationale Kapitalflucht auslösen und die durch Wohn- und Kleinfirmen-"Eigentum", private Rentenversicherungen und persönliche Finanzanlagen eng an den FIRE-Sektor gebundenen "aufstrebenden" gesellschaftlichen Gruppen verprellen und die langjährigen Versuche zunichte machen, diese vom "verantwortungslosen" Proletariat abzuspalten, auf das sieh die Angriffe der aktuellen Politik konzentrieren.

Die Bedeutung dieser Kredit-Reflation liegt also auch in ihrer politischen Grundlage. Außerdem verbindet die Privatisierung der Schulden die Inhalte der Kämpfe quer zur Unterscheidung zwischen "öffentlichem" und "Privatsektor". Das ist wichtig, denn die offizielle und von den Gewerkschaften und vielen Leuten aus der Kampagne gegen die Kürzungen übernommene Reduzierung der Auseinandersetzung auf den "öffentlichen Sektor" ist ein aggressiver Versuch, die Klasse zu zersetzen und die Meinung der "aufstrebenden" Arbeiterklasse gegen die angeblichen "Privilegien" von staatlichen Beschäftigten und WohlfahrtsempfängerInnen zu mobilisieren. In den kommenden Monaten wird immer deutlicher werden, dass "die Verteidigung des öffentlichen Sektors" als Form der gesellschaftlichen Gegenmacht nicht ausreicht: Sobald die 500.000 Staatsbeschäftigten, die entlassen werden sollen, erst von privaten Wohlfahrtsunternehmen "betreut werden" oder wieder arbeiten, werden sie "in" der Privatwirtschaft sein, ebenso wenn sie ihre frühere Arbeit als Freelancer oder Leiharbeiterlnnen an Subunternehmer des Staates verkaufen.

Die reflationäre Seite der Schuldenprivatisierung zeigt sich in den Leitartikeln, auf der Ebene der Makro-Politik, während die repressive Seite - die Abwälzung der Haftung nach unten - von dort bis hinunter in die allerkleinsten Mikro-Interventionen reicht. (Wie die Vorgängerregierung ist die aktuelle Regierung besessen von der "Verhaltensökonomie" und hat ein spezielles "Verhaltenseinsichtteam" eingerichtet, das "gesellschaftliche Normen" propagieren soll, und zwar die individuelle Haftung für gesellschaftliche Probleme als psychologischen Reflex.) Auf der Makro-Ebene zeigt sich, dass sich beide Aspekte fast überall überschneiden, am deutlichsten zeigt es sich am Gesamtumfang der Haushaltskürzungen (83 Mrd. Pfund), an der Konzentration der Kürzungen auf "Anrechte" der Arbeiterklasse (Sozialhilfe, Bildung und kommunale Dienstleistungen wie Kinder-, Alten- und Behindertenbetreuung) und an der ständigen Behauptung, dass der durch die Kürzungen verursachte Kaufkraftverlust durch finanzielle Anreize ausgeglichen werden solle (früher galt so etwas als Widerspruch in sich selbst, inzwischen meinen die Offiziellen dieses Gerede völlig ernst). Weitere wichtige Punkte:

- Zusätzliche steuerliche Belastung des ArbeiterInnenkonsums durch Erhöhung der Mehrwertsteuer auf 20 Prozent im Rahmen einer allgemeinen Reform des Steuersystems zur Stärkung der internationalen 'Wettbewerbsfähigkeit. (Wie bei den Haushaltskürzungen sollen die Auswirkungen dieser Politik angeblich durch niedrige Zinsen ausgeglichen werden - was also v.a. Eigenheimbesitzer-Innen zugute kommt.)

- Beschäftigte im Privatsektor sollen automatisch über das aktienmarktbasierte private NEST-System rentenversichert werden (mit einer "Opt-Out"-Möglichkeit im Kleingedruckten).

- Weitere staatliche Einrichtungen, die aus politischen Gründen nicht völlig abgeschafft werden können (z.B. Sozialhilfe, Müllabfuhr, Gesundheitswesen), sollen nicht mehr direkt vom Staat betrieben, sondern an Auftragnehmer "vergeben" werden, die vom Staat bezahlt werden. Damit werden also auch die davon abhängigen proletarischen Märkte an kreditfinanzierte Unternehmen ausgelagert. Am ehrgeizigsten dabei ist vielleicht der National Health Service, der in Zukunft Dienstleistungen von "allen willigen Anbietern" en gros einkaufen soll. Zu den ersten "Anbietern" gehörte dabei der multinationale Betriebsprüfungs- und Unternehmensberatungskonzern KPMG. Das zeigt zum einen, welche Profite hier winken, zum anderen auch, wie groß der Spielraum für weitere Auslagerungen an Sub-Sub-Anbieter ist.

- Eine Reform der Wohnungspolitik, die von einigen ehrlichen Tories schon als modernes städtisches Gegenstück zu den "Highland Clearances"(3) gelobt wird. Die drastische Kürzung des Wohngeldes und die Anhebung der Mieten im "Sozialsektor" (d.h. bei den inzwischen outgesourcten, ehemaligen kommunalen Wohnungen) auf 80 Prozent der Marktmiete bedeuten die Rückkehr zu einer 30 Jahre lang betriebenen Politik der Umlenkung von proletarischen Einkommen in den privaten Immobilienmarkt, d.h. die Rückkehr zu einem der wichtigsten langfristigen Faktoren, die zur FIRE-Blase vor der Krise und zur Krise selbst geführt haben. Wie groß die politische Entschlossenheit ist, diesen Prozess wiederzubeleben, lässt sich daran erkennen, dass erneut "Enterprise Zones" eingeführt werden: das System der subventionierten und unregulierten Kahlschlag- und Sanierungspolitik in den Städten, mit dem die Thatcher-Regierung den 30jährigen Zyklus begann.(4)

Andere Aspekte der sozialen Repression tragen kaum zur Reflation oder auch nur zu den Sparmaßnahmen bei; hier soll die Arbeiterklasse weniger aus finanziellen als vielmehr aus disziplinierenden Gründen "für die Krise zahlen". Praktisch geht es um die Förderung jener Mischung aus persönlicher Verzweiflung und "Aufstiegsorientierung", die in einer Kredit- und Dienstleistungsökonomie von den Arbeiterinnen verlangt werden, d.h. um die "Basiskompetenzen" oder "Lebensqualifikationen", deren Fehlen die Kapitallobbyisten ständig beklagen. Zum Beispiel:

- Krankengeldempfängerinnen werden massenhaft an die Sozialämter und in deren aggressive "Workfare"-Programme überstellt, wodurch sich gleichzeitig spürbar die erzwungene Konkurrenz um tendenziell immer weniger Jobs (da sind sich alle institutionellen Prognosen einig) verschärft.

- In ähnlicher Weise verschärft sich die Konkurrenz zwischen ArbeiterInnen außerhalb des Sozialsystems: z.B. zwingen öffentliche und private Arbeitgeber alle Beschäftigten, sich gleichzeitig und in Konkurrenz zueinander auf weniger Jobs zu schlechteren Bedingungen neu zu bewerben. So haben 170.000 Kommunalbeschäftigte im ganzen Land mit unmittelbarer Wirkung gültige Änderungskündigungen erhalten. (Außerdem hat die Regierung ein Versprechen gegeben, das das "Gerechtigkeits"-Ideal der Verhaltensökonomen auf den Punkt bringt: alle jungen Menschen sollen die Möglichkeit haben, als unbezahlte Praktikantinnen zu arbeiten.)

- Abschaffung der (einkommensabhängigen) Prozesskostenhilfe für arbeitsrechtliche Verfahren (Kündigungsschutzklagen, Antidiskriminierungsklagen usw.); Abschaffung eines Großteils der Arbeitsschutzgesetze und Mittelkürzung um 35 Prozent bei der Arbeitsschutzaufsicht; Abschaffung des Arbeitsrechts in Kleinbetrieben. Diese Maßnahmen belohnen die jahrelange Lobbyarbeit der Arbeitgeber und werden begleitet von einer "Arbeitgeber-Charta", mit der die Kapitalisten an ihr "Recht" erinnert werden, "Angestellte um Lohnsenkungen zu bitten".

Dieselbe repressive Logik wird auf der Verwaltungsebene auch in marginalen Programmen und Ideen sichtbar, die noch gar nicht vollständig umgesetzt sind:

- Ein (von einer christlichen Wohltätigkeitsorganisation betriebenes) Lebensmittelgutschein-System für aufsässige WohlfahrtsempfängerInnen, denen das Geld gestrichen wurde. Das würde es den Subunternehmern, die die Zwangsarbeitsprogramme organisieren, leichter machen, Lohnzahlungen zu stoppen. Außerdem würde es die Verschmelzung des gesamten Sozialsystems mit dem offen "abschreckenden" Lebensmittelgutscheinsystem für AsylbewerberInnen beschleunigen.

- Eine Lücke im allumfassenden staatlichen Fördersystem für die Immobilienakkumulation wird endlich durch Gesetze zur Kriminalisierung von Hausbesetzungen geschlossen - mit verlogener Hilfe vom Evening Standard und seinen Geschichten über Immigranten, die versuchen, bereits bewohnte Häuser zu besetzen. Die Verdrängung eines vorhandenen Bewohners aus einer Wohnung ist natürlich jetzt schon illegal, aber das Bild von Hausbesetzern aus dem Baltikum, die das "sanfte" britische Recht für ihren eigenen internationalen Konkurrenzvorteil ausnutzen, hat die Panik erst richtig angeheizt.

- Ein von der Regierung in Auftrag gegebener Deloitte-Bericht empfiehlt, alle Interaktionen mit dem Staat (Anträge auf Sozialhilfe und Dokumente, Gebührenzahlungen) zwangsweise ins Internet zu verlagern. Begründet wird das mit der allgemeinen gesellschaftlichen Pflicht, zur Senkung von Backoffice-Kosten beizutragen (d.h. der Löhne von PostsortiererInnen und Call-Center-Beschäftigten). Mit der Umstellung auf ein reines Online-System würde auch die Finanzreflation subventioniert werden, denn die Automatisierung der bisherigen Büroarbeit würde an Firmen aus dem Finanz- bzw. IT-Beratungs-bzw. Dienstleistungssektor (wie z.B. Deloitte) vergeben werden.

- Premierminister David Cameron hat eine vielbeachtete Rede gehalten, in der er einwandererfeindliche Stimmungen auf ganz andere Art als bisher - wenn auch kein bisschen softer - zur Zersetzung der Klasse einsetzt. Laut Cameron ist das Sozialsystem schuld an der Entstehung einer ganzen Generation von arbeitsscheuen Briten, weil es ImmigrantInnen erlaubt habe, ihnen die Jobs wegzunehmen. Die Behauptung, dass es bei der Kontrolle der Einwanderung um den Schutz der einheimischen ArbeiterInnen vor Konkurrenz aus dem Ausland gehe, wird also völlig fallengelassen, während gleichzeitig die gesellschaftliche Unerwünschtheit von ausländischen ArbeiterInnen zur unhinterfragten Voraussetzung erhoben wird. Ausländische ProletarierInnen sind an sich schon ein Problem, und die "faulen" britischen Angehörigen derselben Klasse sind daran schuld: Daher müssen beide bestraft werden. Diese Akzentverschiebung ist wichtig: Wird sie die Feindseligkeit zwischen "britischen" und "ausländischen" ProletarierInnen verschärfen, wenn erstere letzteren nicht nur die Schuld daran geben, ihnen "die Jobs wegzunehmen", sondern sie auch für die repressiven Angriffe von Staat und Kapital verantwortlich machen, oder könnte das Versprechen von Repressionen gegen alle im Gegenteil die Solidarität innerhalb der Klasse stärken?


2. "Community" oder Gegenmacht?

Anfang April 2011. TeilnehmerInnen des Brixton-Riots von 1981 werden zum 30. Jahrestag des Riots von einer Lokalzeitung interviewt und sind sich einig, dass es "angesichts der Wut überall" "wieder passieren könnte". Weniger sicher sind sich die Interviewten, "dass es diesmal wegen der Polizei wäre", vielmehr erwähnen sie Schulden, Schulverweise, Wohnungen und den Sozialstaat... Diese ehemaligen Riot-TeilnehmerInnen, die inzwischen in der Stadtverwaltung, in professionellen "Race Relations"-Stellen oder in NGOs arbeiten, haben Schwierigkeiten zuzugeben, dass es sich bei Schulden, Räumungen usw. ebenfalls um Formen von Polizei handelt, und dass die Wut darüber mit der Wut über die traditionelle Form von Polizei verschmilzt.

Ende April 2011: Ganz plötzlich bricht die Wut über die Polizei im weiteren und im engen Sinne in einem anderen Gebiet aus, wo es in den 80er Jahren ebenfalls Riots gegeben hatte: in Stokes Croft, einem halb gentrifizierten Arbeiterstadtteil von Bristol. Anfangs gab es eine kleine Auseinandersetzung nach der gewaltsamen Räumung eines besetzten Hauses, aber nach und nach wurden etwa 1.000 Menschen hineingezogen, deren Stadtteil von der Polizei angegriffen wurde. Die britischen und internationalen Medien konzentrierten sich darauf; dass ein neuer Tesco-Supermarkt zerlegt wurde - der "Anti-Terror"-Vorwand für die Räumung des besetzten Hauses war eine Razzia wegen nicht vorhandener, angeblich für Tesco bestimmter Molotov-Cocktails -, aber der Supermarkt wurde erst angegriffen, nachdem es (vorübergehend) gelungen war, die Bullen zu verjagen. Nach Augenzeugenberichten hatten die meisten der TeilnehmerInnen am Riot weder mit Hausbesetzungen noch mit Protesten gegen Tesco irgendetwas zu tun. Ein Bericht in The Commune(5) beschreibt die soziale Zusammensetzung des Riots so:

"Ich habe den Eindruck, dass die Leute aus ganz unterschiedlichen Gründen beiden Riots mitgemacht haben: wegen der Schikanen gegen HausbesetzerInnen, weil sie aus moralischen oder politischen Gründen gegen Tesco sind, wegen der Gentrifizierung von Stokes Croft aus Protest gegen die Sparmaßnahmen. Und die schwarzen Kids aus St. Pauls haben wahrscheinlich noch ihre eigenen Rechnungen mit der Polizei offen.

Und: Nachdem die ersten Scheiben bei Tesco zu Bruch gingen, prügelten die Bullen viel härter auf uns ein, aber ihnen gegenüber stand eine neue Menge, die sich während der Nacht neu zusammensetzte: all die oben genannten Gruppen und Beweggründe kamen zu einem Ganzen zusammen, und das war für mich das Wichtigste an der ersten Riot-Nacht in Bristol.

Ein Riot(6) ist keine Bewegung und auch kein Beweis dafür, dass es eine geben könnte. Aber das allmähliche Aufstauen von Wut quer durch unterschiedliche, aber sich überschneidende Klassenerfahrungen gibt es nicht nur in Stokes Croft. Dieser spezielle Fall, bei dem "unterschiedliche Beweggründe" in einer explosiven, spontanen Solidarität zusammengekommen sind, führt uns zurück zur Frage aus dem vorigen Abschnitt: "mit welche Arten von Unruhe" wird der repressiv-reflationäre Staat konfrontiert sein? Wie kann die Form von Solidarität und Macht, die sich in Bristol kurz entwickelte, anders entstehen als spontan und direkt provoziert? Lässt sie sich längerfristig und über die Grenzen sozialgeographischer "Communities" hinweg erhalten? Diese Fragen lassen sich nur durch eine gesellschaftliche Praxis beantworten. Was folgt, ist also nur der Versuch, die Bedingungen zu beschreiben, unter denen diese praktische "Antwort" angegangen werden muss.

Einige Aspekte der Situation machen ganz und gar keinen Mut, aber vielleicht führen sie auch in die Irre:

- Es gab sehr wenige Streiks, seit die Konflikte bei der Royal Mail und den FlugbegleiterInnen von British Airways vor einem Jahr mit einem von der Gewerkschaft ausgehandelten Rückzieher bzw. einer klaren Niederlage endeten. Die von BA angewandte aggressive Taktik, Urabstimmungen gerichtlich verbieten zu lassen, wurde seither wiederholt von anderen Arbeitgebern im öffentlichen wie im Privatsektor benutzt, um Streiks zu verhindern. Lobbygruppen der Wirtschaft und der Bürgermeister von London treten vehement für Gesetzesänderungen ein, die genau das durch strengere Regeln für Urabstimmungen noch vereinfachen sollen.

- Streiks bei der Feuerwehr im Oktober und November haben sich direkt gegen erzwungene Wiedereinstellungen zu schlechteren Bedingungen gerichtet. Aber sobald die Aktionen anfingen, die Grenzen symbolischen Protests zu überschreiten, stieg die Gewerkschaft aus. Nach einigen eintägigen Streiks, bei denen Streikposten von Streikbrechern(7) und Managern gewalttätig angegriffen wurden, wurden ernsthafte Störungen durch einen 48-Stunden-Streik am 5. November versprochen. An diesem Tag werden in in Großbritannien zur Erinnerung an die Hinrichtung eines katholischen Brandstifters im 17. Jahrhundert riesige Feuerwerke abgebrannt. Und plötzlich sagte die Feuerwehrgewerkschaft den Streik einseitig ab und erklärte sich zu "Schlichtungsgesprächen" bereit. Im Januar wurden dann alle 5600 Feuerwehrleute wie geplant entlassen und gezwungen, sich neu zu bewerben. Der politische Charakter dieser Niederlage wurde am härtesten von einer Zeitungsüberschrift formuliert, die vom "Erstschlag" der Regierung sprach, und am deutlichsten in der ökonomisch unsinnigen, aber arbeiterfeindlichen Behauptung eines Feuerwehr-Managers, die neuen Verträge würden die Produktivität der Feuerwehr erhöhen. (Das von EADS entworfene Automatisierungsprojekt, mit dem die "effizienzsteigernden" Änderungen des Schichtsystems begründet worden waren, war in der Zwischenzeit wegen Ineffizienz gestrichen worden).

- Nach Eingeständnis von Brendan Barber, Generalsekretär des TUC [Trades Union Congress, britischer Gewerkschaftsdachverband] und Aufsichtsratsmitglied der Bank of England, kämpfte der TUC bis zu seiner landesweiten Demonstration "Marsch für eine Alternative" am 26. März "zum Schein" gegen die Austeritätspolitik. Die seither angeblich betriebene realistischere Politik läuft auf eine Lobbykampagne hinaus, in der die über 500.000 TeilnehmerInnen der Demo als eine Art moralische Verhandlungsmasse benutzt werden, eine minimal andere Steuerpolitik (einen langsameren Abbau des Defizits, stärkere Steuerprogression usw.) "mit Argumenten durchzusetzen". Eigentlich gibt es zwischen den angebotenen "Alternativen" keinen Unterschied - das zeigt auch das vorsichtige Hofieren der Labour Party durch den TUC, denn der 10 Jahre lange kreditfinanzierte "Booms" während der Regierungszeit von Labour bleibt das Modell für die gegenwärtige Politik der Reflation. Die fast ausschließliche Konzentration auf die "Verteidigung des Öffentlichen Sektors" verstärkt die Trennung von "öffentlichem" und "Privatsektor", mit der alles, was in der letzteren passiert, aus der politischen Diskussion herausgehalten wird. So plant der TUC nun für den 30. Juni einen Streik zum begrenzten Thema der Renten im Öffentlichen Dienst.

Diese "Führung" spiegelt aber keineswegs die Realität des sozialen Antagonismus wider. Das wurde immerhin auch beim TUC-Marsch selbst deutlich, wo die Zusammensetzung, die Stimmung und die Aktivitäten weit über das offizielle Mandat für gesitteten Protest im Öffentlichen Sektor hinausgingen. Obwohl Polizei und Gewerkschaftsfunktionäre so eng zusammenarbeiteten wie nie zuvor, wechselten Tausende von Leuten den ganzen Nachmittag und Abend hin und her zwischen dem offiziellen Marsch und sogenanntem "gewaltbereiten Minderheitsverhalten": es gab wenig konzentrierte Gewalt, aber die mobilen Auseinandersetzungen mit der Polizei und die Angriffe auf symbolische Ziele (Banken, Luxusgeschäfte, das Ritz, eine unsägliche "Olympische Uhr") zogen sich über Stunden hin, oft an mehreren Orten gleichzeitig. Viele Berichte bestätigen den subjektiven Eindruck, dass der immer mal wieder "gewaltbereite" Teil der Menge keineswegs von AktivistInnen und erfahrenen RandaliererInnen dominiert wurde. Das deckt sich mit den Berichten von den StudentInnenprotesten im letzten Jahr, dass bei den "Schwarzer Block"-mäßigen Aktionen viele junge Leute dabei waren, die überhaupt nichts mit irgendwelchem politischem Aktivismus zu tun hatten.

Ein Artikel der Anarchist Federation(8) vertritt die These, der "Frust" über die Vermittlung durch den TUC habe dazu beigetragen, "die lokalen Bewegungen zum Leben zu erwecken":

Aus diesem Gefühl von Bestürzung heraus haben sich GewerkschaftsaktivistInnen mit NutzerInnen öffentlicher Dienste, WohlfahrtsempfängerInnen und uns übrigen zusammengetan, um endlich gegen die Kürzungen zu kämpfen, ohne dabei auf Führer zu warten. Zum Zeitpunkt der Demo waren die Kampagnen voll angelaufen, und dementsprechend war an diesem Tag die Stimmung.

Abgesehen von dieser Großdemo bezieht sich das auf hunderte lokale Anti-cuts Gruppen im ganzen Land, die gegen bestimmte Auswirkungen der repressiven Gesamtpolitik aktiv werden und Kampagnen für die "Rettung" einzelner Kitas, Krankenhäuser, Schulen, Bibliotheken usw. oder für den Schutz von deren "NutzerInnen" starten - mit verschiedenen Methoden von Unterschriftensammlungen über Besetzungen bis zur "Sozialarbeit mit direkten Aktionen"(9). Es gibt so viele und unterschiedliche Initiativen, dass man sie kaum verallgemeinern kann, aber es gibt ein paar Merkmale, die bei den allermeisten - wenn auch nicht allen auftauchen:

- Verteidigung der unmittelbaren materiellen Interessen der Betroffenen: die Gruppen bilden sich um örtliche oder soziale "Communities" und/oder um die Abhängigkeit von bestimmten Institutionen herum; einzelne Kampagnen sammeln sich in breiteren lokalen Bündnissen (z.B. Lambeth Save Our Services).

- Etablierte Kampagnen (z.B. Defend Council Housing), Gewerkschaftssektionen, linke Parteien und nicht-sektiererische AnarchistInnen/KommunistInnen sind beteiligt, aber spielen nicht unbedingt die Hauptrolle. Viele Gruppen sind neu, und viele Beteiligte kommen nicht aus der Politszene.

- Die Aufmerksamkeit richtet sich vor allem auf das, was immer noch als "öffentlicher Sektor" wahrgenommen wird. Mittlerweile werden schon so viele staatliche Geschäfte von Auftragnehmern erledigt, dass eine Konfrontation mit dem Privatkapital unumgänglich ist, aber die Konzentration vieler Kampagnen auf die "Rettung öffentlicher Einrichtungen" sieht immer wieder über diese Realität hinweg.

- Die gemeinsame Organisierung von Beschäftigten oder NutzerInnen staatlicher Einrichtungen ist weit verbreitet, wie etwa die sich überschneidende Bewegung im Bildungsbereich zeigt.(10) Aber das betrifft wohl selten Situationen, in denen die Beschäftigten eine Polizistenrolle gegenüber den NutzerInnen oder WohlfahrtsempfängerInnen ausüben (Sozialhilfe, Sozialwohnungen, Eintreiben von Gebühren und Bußgeldern). Angesichts der möglichen Folgen einer gemeinsamen Organisierung ist es kein Wunder, dass öffentlich Beschäftigte, die sich nicht zum Büttel machen lassen wollen, Konsequenzen von der Entlassung bis hin zur Strafverfahren zusammen mit ihren "Kunden" riskieren. Vielleicht kommen solche "Kooperationsverweigerungen" also öfter vor, als bekannt wird. Aber das Gefühl, viel zu verlieren zu haben, könnte sich ohnehin ändern, sobald die neuen Richtlinien für Sozialhilfe und Sozialwohnungen voll in Kraft treten und zusammen mit einer weiteren Verschlechterung auf dem Arbeitsmarkt sowohl die WohlfahrtsempfängerInnen als auch die Beschäftigten ins totale Chaos stürzen. (Ein Parlamentskomitee gab Anfang Mai zu, dass das ausgelagerte welfare-to-work Programm nur dann funktionieren wird, "wenn eine wirtschaftliche Belebung genug passende Jobs schafft". Mittlerweile wurden die MitarbeiterInnen der Arbeitsämter mit Anweisungen für den "Umgang mit Selbstverletzungs- und Suiziddrohungen" ausgestattet. Anhand von zwei Vorfällen aus der letzten Zeit wird dieser Umgang demonstriert: Die WohlfahrtsempfängerInnen haben ihren Selbstmordversuch überlebt und sind in die Psychiatrie zwangseingewiesen worden.)

Beispielhaft zeigen sich die vielversprechenden wie auch die widersprüchlichen Aspekte der Aktivitäten gegen Sozialkürzungen in den Communities an einer Reihe von Aktionen gegen Sitzungen von Kommunalparlamenten, bei denen Sparhaushalte verabschiedet wurden. Gewerkschaften und einige Community-Gruppen wollten dort für eine politische Kehrtwende "plädieren", die die bankrotten Gemeinden gar nicht hätten umsetzen können. In einigen Städten im Norden und in einigen Londoner Bezirken tauchten jedoch viel mehr andere Leute auf als aus den organisierten Gruppen und statt der Plädoyers wurden Sitzungen blockiert und Ratssäle besetzt. Als das Rathaus von Lambeth (Südlondon) besetzt wurde, bat der örtliche Unison-Vorsitzende vergeblich, wir sollten die Ratsmitglieder wieder reinlassen, damit sie sich die Plädoyers anhören könnten. Natürlich verabschiedete der Stadtrat seinen Haushalt einfach anderswo im Gebäude in einem polizeigeschützten Bunker, aber die Verweigerung jeder Vermittlung - d.h. des Versuchs, "sich mit Argumenten durchzusetzen" - war ziemlich deutlich.

Ein weiteres erwähnenswertes widersprüchliches Phänomen ist UK Uncut, bei deren Besetzung von Fortnum & Mason (einem Feinkostladen, der anscheinend Steuern hinterzieht) am 26. März es die meisten Verhaftungen an diesem Tag gab. Das Netzwerk hatte mehrere Monate immer wieder kurze, öffentlichkeitswirksame Besetzungen/Blockaden von Unternehmen inszeniert, denen vorgeworfen wird, über Steueroasen das britische Finanzamt zu betrügen. Was gegen eine solche Politik spricht, muss hier nicht wiederholt werden. Interessanterweise unterstützt sie - ebenso wie die TUC-"Alternative" - nicht nur die Ansprüche des Staates, sondern unausgesprochen auch die Ansprüche der Inhaber von Staatsanleihen: Wenn Vodafone und Barclays nur "ihren gerechten Beitrag leisten" würden, dann wären die Sparmaßnahmen nicht notwendig. Trotzdem - nicht zuletzt angesichts der aggressiven Antwort der Polizei - sollten wir die im Namen von UK Uncut durchgeführten Mini-Blockaden nicht vorschnell abtun. Viele Leute ohne Polit-Hintergrund haben sich an der direkten Störung eines Geschäfts im Privatsektor beteiligt; wir werden sehen, ob die Erfahrung vorübergehender kollektiver Macht und Konfrontation mit dem Staat stärker nachwirken als die mit der Aktion verbundene staatsfreundliche Ideologie.

Der oben zitierte Artikel spricht auch von dem "überwältigenden Gefühl" am 26. März, "dass dies nur der Anfang ist". Das könnte nicht nur auf den eintägigen Protest, sondern auch auf die breitere soziale Konfrontation zutreffen. Es laufen schon viele entschlossene antagonistischen Aktivitäten, bei denen für voneinander getrennte, aber sich überschneidende ArbeiterInneninteressen gekämpft wird. Manchmal kommen einige dieser Interessen zusammen und scheinen eine wirkliche Bedrohung darzustellen, wie in Bristol oder den Kämpfen der StudentInnen und BildungsarbeiterInnen, aber noch geschieht das nicht auf allgemeine und dauerhafte Art. Mit der Frage, wie so eine dauerhafte Bedrohung aussehen könnte, beschäftigt sich z.B. ein Artikel in Aufheben, der die Bedingungen, unter denen die Aktivitäten von WohlfahrtsempfängerInnen in den letzten 20 Jahren isoliert und erstickt wurden, mit dem aktuellen Zusammenbrechen der Unterschiede zwischen einem sicheren, einem prekären und einem nicht vermittlungsfähigen Status und mit der daraus folgenden Notwendigkeit einer die ganze Klasse umfassenden Bewegung vergleicht.(11) Die Anarchist Federation wird etwas konkreter und fordert einen "sozialen Generalstreik". Dabei erinnert sie an einige Taktiken, die in letzter Zeit in Frankreich benutzt wurden:

... angesichts schwacher, ineffektiver Gewerkschaften und unsicherer Arbeitsplätzen können die Arbeiter-Innen nicht riskieren, das allein durchzuziehen. Also muss es massive soziale Unruhen von Seiten derjenigen geben, die aktiv werden können: Streiks an Schulen und Unis, riesige Besetzungen in unseren Stadtzentren; kreative Nutzung von Einrichtungen wie Bibliotheken, Parks und Freizeitzentren, um den ArbeiterInnen zu zeigen, dass wir hinter ihnen stehen; Wirtschaftsblockaden, z.B. von Treibstofflagern, wo die ArbeiterInnen nicht selbst als Streikposten auftauchen können usw.(12)

Anders als die trotzkistischen Parteien, die immer noch den Gewerkschaften vorwerfen, dass sie keinen eintägigen Generalstreik ausrufen, sind sich diese Gruppen darüber im Klaren, dass eine sozial gefährliche Bewegung nicht einfach durch "richtige Argumente" ins Leben gerufen werden kann. Wo sich Kämpfe entwickeln, werden sie es mit einem intensiven Anheizen von Spaltungen innerhalb der Klasse zu tun haben (zwischen öffentlichem und Privatsektor, einheimischen und migrantischen ArbeiterInnen, respektablen EigenheimbesitzerInnen und "krimineller" Unterklasse...), während die Angriffsmaßnahmen langsam und verwirrend umgesetzt werden, um die Mischung aus falschen individuellen Hoffnungen und übertriebenen kollektiven Ängsten aufrechtzuerhalten. Entscheidend wird sein, inwieweit eine entstehende Gegenmacht diese demoralisierenden Faktoren überwinden kann, wenn die verzweifelte Politik der Schulden-Reflation - die sogar von bürgerlichen Ökonomen als "expansive fiskalische Kontraktion" lächerlich gemacht wird(13) - unausweichlich gegen die Wand fährt.


Anmerkungen

(1) Einen detaillierten Bericht des Verschuldungsprozesses gibt es auf der World Socialist Website; Britain's national debt: Where did the money go? (www.wsws.org, 23.4.2011);

(2) Keynes' Ausspruch "Langfristig sind wir alle tot" wurde seit Krisenausbruch oft zitiert. Dabei wurde kaum wahrgenommen, dass sich die geschäftlichen und politischen Strategien zugrunde gelegte Lebenszeit seit Mitte des 20. Jahrhunderts von der eines Menschen auf die einer Katze verkürzt hat.

(3) Vertreibung der Bevölkerung der schottischen Highlands im Zuge der Agrarrevolution im 18. und 19. Jahrhundert.

(4) Zum Plan für die Enterprise Zones und die frühe Geschichte des Systems siehe Enterprise Zones introduced across England, (23.4.2011) auf www.wsws.org.

(5) The Commune: the first funky riot in bristol (22.4.2011) auf http://thecornmune.co.uk

(6) Es ging genauer gesagt um zwei Riots: eine Woche später gab es einen weiteren am selben Ort, nachdem das wiederbesetzte Haus zum zweiten Mal durchsucht und vorsorglich Bereitschaftsbullen in den umliegenden Straßen postiert worden waren.

(7) Bei Streiks der Feuerwehrleute trat als Streikbrecher traditionell die Armee auf, die ihr eigenes überflüssiges Equipment dafür nutzte. Diesmal war das Arrangement anders: AssetCo, das ultra-fremdfinanzierte 'micro-cap' PFI-Unternehmen [micro- cap steht für eine Börsenkapitalisierung von 50-300 Mio. Dollar; Private Finance Initiative ist eine Form von Public Private Partnership], das alle Feuerwehrautos Londons besitzt und diese an die Feuerwehren vermietet, wurde 2009 zusätzlich damit beauftragt, Streikbrecher zu stellen. Beim Streik im letzten Herbst traten die PFI- Streikbrecher erstmals auf. Sie feierten ihn, indem sie eine Streikpostenkette mit einem Feuerwehrauto rammten, dabei einen Streikenden unter dem Wagen einschlossen und sich weigerten, sich zurückzuziehen, bis die Polizei sie dazu aufforderte. AssetCo (mit 159 Prozent Schulden im Verhältnis zum Eigenkapital) ist jetzt bankrott und wird als "Schnäppchen mit Potenzial" feilgeboten, die Feuerwehrautos sollen entweder den Gläubigern oder einem Bahrain gehörenden Geier-Fonds zufallen.

(8) UK Unmasked and the New Kids on the Block (6.5.2011), www.afed.org.uk
Ein Großteil der besten Augenzeugenberichte und Analysen der gegenwärtigen Kämpfe kommen aus einer mehr oder weniger klassenkampf-anarchistischen Perspektive und werden auf http://libcom.org gesammelt oder verlinkt, einschließlich Links zu Veröffentlichungen einzelner Gruppen. Eine weitere nützliche Quelle ist The Commune, http://thecommune.co.uk/

(9) Auflistungen und Links, die die Aktivitäten geographisch aufschlüsseln unter http://anticuts.org.uk

(10) Zu Kämpfen im Bildungssektor im letzten Jahr s. die Berichte unter www.wildcat-www.de/aktuell/a086_uk_studis.htm; Don't Panic, Organise! A Mute Special on Struggle in Education auf www.metamute.org und die Sammlung unter http://libcom.org/tags/education

(11) Aufheben: The renewed imposition of work in the era of austerity: prospects for resistance, Ausgabe 19, 2010. Wird im Laufe des Jahres online zu finden sein.

(12) Everything we've won: they want it back (März 2011) auf www.afed.org.uk

(13) s. Martin Wolf: Why British Fiscal Policy is a Huge Gamble, Financial Times 28.4.2011.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Streikbrecher und Streikposten bei der Feuerwehr
- Besetzung von Fortnum & Mason

Raute

Bewegungen in Spanien

Plötzlich wurde alles real

Die Aufstände in den französischen Banlieues und die heftigen Kämpfe in Athen Ende 2008 wurden mit der hohen Jugendarbeitslosigkeit in Zusammenhang gebracht. Diese nähert sich in Spanien bereits der 50%-Marke - wann also würde die spanische Jugend endlich den sozialen Frieden aufkündigen? Zwar hatte sie sich im Frühjahr 2003 an den Protesten gegen den Irakkrieg beteiligt - und erstmals Zelte auf öffentlichen Plätzen aufgeschlagen, was die Bewegung gegen die Bologna-Reformen an den Hochschulen 2008/2009 aufgriff und ausweitete - aber lange Zeit verwunderte die Zurückhaltung der jüngeren Generationen, deren Zukunft sich seit dem Kriseneinbruch doch täglich verdüstert. Nun endlich haben sie mit einer breiten Protestbewegung die politische Bühne betreten.

Verdichtung von Bewegungen

Ohne Frage haben die Aufstände im arabischen Raum und besonders in Nordafrika stimulierend gewirkt. Ein weiterer Ansporn war der Protest der portugiesischen "Generation in der Tretmühle" Mitte März. Aber es gab auch viele Proteste in Spanien, die sich in der aktuellen Bewegung verdichten. Am Ende der Anti-Bologna-Bewegung haben einige hartnäckige Kerne überdauert. Die mehr oder weniger informellen Kollektive haben ihre Erfahrungen in spätere Protestbewegungen eingebracht. Diese entwickelten sich bisher weitgehend unabhängig voneinander, wobei wir grob unterscheiden können zwischen Mobilisierungen von ArbeiterInnen/Arbeitslosen auf der einen Seite und (zwischen 20 und 40 Jahre alten) "BürgerInnen" auf der anderen Seite.

Zu ersteren zählen Proteste gegen Entlassungen, Lohnkürzungen, Verschlechterung der Arbeitsbedingungen, Privatisierung, Lohnprellerei; häufig kleine Konflikte, die bisweilen recht militant durchgezogen werden. Nach vielen solcher Kämpfe in Privatunternehmen setzte vor einiger Zeit eine Welle von Mobilisierungen im Öffentlichen Dienst ein, vor allem im Bildungs- und Gesundheitssektor. Diese blieben zwar auf den Konflikt mit der jeweiligen Provinzregierung beschränkt, trotzdem tragen alle den Keim zur Verallgemeinerung in sich, wie zuletzt die großen Demonstrationen "gegen Kürzungen" zeigten (siehe unten das Beispiel der Bewegung in Murcia).

Die gewerkschaftlich inszenierten Generalstreiks im Öffentlichen Dienst am 8.6.2010 und branchenübergreifend am 29.9.2010 haben diese Konflikte rein symbolisch verallgemeinert und dienten vor allem zum Dampfablassen. Den im September hat das alternative Oppositionsspektrum genutzt, um Erfahrungen mit praktischen Initiativen (Streikposten, Besetzungen, Demos) zu intensivieren. In der jetzigen Situation würden die Gewerkschaften vermutlich nicht mehr wagen, zu einem Generalstreik aufzurufen.

Seit etwa ein bis zwei Jahren machen Arbeitslosenversammlungen immer wieder mit kleineren Aktionen auf sich aufmerksam, bislang allerdings ohne Kraft zur Verbreiterung. Mit der Gründung eines "Komitees der Hypotheken-Geschädigten" begann 2009 eine Bewegung gegen Wohnungsräumungen, die mittlerweile sehr populär ist. Sie wehren sich einerseits mit öffentlichem Druck und rechtlichen Schritten gegen den Umstand, dass die Banken bei Zahlungsunfähigkeit berechtigt sind, Wohnungen zum halben Preis einzukassieren, während auf den Betroffenen weiterhin die gesamte Hypothekenschuld lastet. Zunehmend organisieren sie aber auch die Verhinderung von Zwangsräumungen und verhandeln dann mit den Banken einen "Kompromiss".

Diese Aktionsform wird aus der Bewegung 15-M unterstützt, was allerdings bei zwei bis drei Verhinderungen angesichts von etwa 230 Räumungen pro Wochentag völlig symbolisch bleibt.

Noch vor dem eigentlichen Kriseneinbruch konnte 2006 die Bewegung "V de Vivienda" über mehrere Monate Demos mit bis zu einigen tausend TeilnehmerInnen organisieren. Gegenstand war Sorge der jüngeren Generationen, dass sie "niemals eine eigene Wohnung" haben werden. Tatsächlich ist es in Spanien mit einem sehr reduzierten Mietwohnungsangebot üblich, ne Bude auf Kredit zu kaufen und quasi die Miete an die Bank zu zahlen mit der Aussicht, dass irgendwann abgezahlt ist. Der Immobilienboom führte zu Krediten mit Laufzeiten, die bei Lebzeiten nicht mehr abzahlbar sind, und die Kosten fürs Wohnen fressen einen immer größeren Einkommensanteil. Die prekäre Einkommenssituation ("1000-Euro-Generation" hieß es damals) zwingt viele Über-Dreißigjährige, bei den Eltern zu wohnen.

Seit Dezember 2010 organisierte sich eine Bewegung namens "Anonymos" gegen ein Gesetz, mit dem die Kulturministerin den kostenlosen Internet-Konsum von Filmen, Musik und Anwendungen verhindern will. Auch hier hatten die Aktionen meist Flashmob-Charakter und stießen auf breite Sympathie.

Im April 2011 konnte ein Kollektiv unter dem Titel "Jugend ohne Zukunft" in einer Reihe von Städten tausende, überwiegend jugendliche DemonstrantInnen mobilisieren. Schon bei diesem explizit an die Jugend gerichteten Aufruf ("Ohne Bude, ohne Rente, ohne Zukunft, ohne Angst") überraschte offener Zuspruch und Teilnahme auch von älteren Jahrgängen. Im Mai stieg das Buch Empört Euch! von Stéphane Hessel zum absoluten Bestseller auf.

Von der dry-Bewegung ...

Die unterschiedlich etikettierte gegenwärtige Bewegung (15-M, DRY, Indignados, Acampada) ist von Anbeginn von einem Verhaltens- und Moralkodex geprägt, der auf die politische Sozialisierung ihrer AktivistInnen in der Antiglobalisierungsbewegung und im weitreichenden NGO-Soligeflecht hindeutet. Beim Weltsozialforum im Februar in Dakar kamen fast 100 der 1200 Organisationen aus Spanien! Die Bewegung 15- M begann mit einem Aufruf im Internet zu landesweiten Demonstrationen am 15. Mai. Dahinter stand das x-te Bündnis besorgter Bürger. Im Dezember hatten sie, inspiriert von den Ereignissen in Island und in Nord-Afrika, zu zehnt einen Blog und eine Facebook-Gruppe mit dem Namen "Jugend in Aktion" gegründet. In kurzer Zeit schlossen sich ihnen weitere 200 Blogger, Selbsthilfe- und andere Kleinstgruppen an. Die Initiative wurde zum Sammelbecken und die Zusammensetzung immer heterogener. Zu Studierenden und JungakademikerInnen gesellten sich Profs, Freiberufler, Selbständige und die professionellen Bürgerrechtler von Attac, Intermón Oxfam, etc. Altersmäßig wurde das Spektrum deutlich breiter. Im Januar benannten sie sich um in "Plataforma de Coordinación de Grupos por la Movilización Ciudadana", was etwas frei, aber die Stoßrichtung treffend mit "Koordination des Zivilen Ungehorsams" zu übersetzen wäre. Das dominierende Selbstverständnis sieht hier den Beginn der Auflehnung der Zivilgesellschaft gegen die korrupte Herrschaft der politischen Kasten und des Finanzkapitals: "Wir sind keine Ware in der Hand von Politikern und Bankern". Das verbindende Motto wurde zum endgültigen Namen der Initiative: "Wahre Demokratie Jetzt" (Democracia Real Ya, DRY).

Mitte März wurden zum ersten Mal lokale Versammlungen der UnterstützerInnen abgehalten. "Es war merkwürdig, sich von Angesicht zu Angesicht zu sehen; alles wurde plötzlich real. Wir stellten fest, dass wir sehr unterschiedliche Leute waren, aber einig im Wesentlichen" bekundete eine Aktivistin. Anfang Mai trafen sich bereits 300 Leute im Park. Am 15. demonstrierten schließlich über 80.000 Leute in 52 Städten. Die Stimmung war die eines großen Happenings, einer Rave-Party, und die AufruferInnen waren hochzufrieden.

...zur Bewegung der Acampadas

Doch dann geschah etwas Neues, wirklich Unvorhergesehenes. Die Bewegung wurde spontan noch einmal initiiert und müsste korrekterweise 16-M oder 17-M heißen. Diese Bewegung wurde "auf der Straße" geboren, im Kampf um die Aneignung des wirklichen öffentlichen Raums und in der Auseinandersetzung mit der Polizei. Die Demo in Madrid hatte mit etwas Zoff und einigen geendet. Abends entschied ein Gruppe von 35 Leuten, die sich auf der Plaza del Sol Diskutieren getroffen hatten, einfach dort zu bleiben. Noch in der Nacht entwerfen sie ein neues Manifest und fordern die Freilassung der Inhaftierten. Am Nachmittag spannen sie eine Plane auf und richten einen Infostand ein. Versammlung am Abend kommen 100 Leute. Diesmal bleiben die Nacht über 400. frühen Morgen werden sie von der Polizei geräumt. Doch am späten Nachmittag kommen die Leute wieder, immer mehr. Gegen acht Uhr abends sind es bereits 6000! Die ganze Nacht wird diskutiert und es bilden sieh verschiedene Versammlungen, schließlich Kommissionen, von denen viele der unmittelbaren Organisation des Camps dienen. Auf den zentralen Plätzen anderer spanischer Städte entstehen weitere 60 bis 80 Camps. In fast 200 Städten wird zu solidarischen Protestaktionen aufgerufen. Mit der zunehmenden Räumungsdrohung weitet sich die Bewegung exponentiell aus. Wegen der Kommunalwahlen in ganz Spanien am folgenden Sonntag soll nach Auslegung der Wahlgesetze die kampagnenfreie "Besinnungszeit" ein Verbot der Camps legitimieren. Am Freitagabend treffen sich an der Plaza del Sol 25.000 Leute. In anderen Städten sieht es entsprechend aus.

Die Wahlen werden in keiner Weise durch Aktionen beeinträchtigt. Die rechte Volkspartei fährt aufgrund des Einbruchs der Sozialdemokraten einen Kantersieg ein. Die Beteiligung ist nicht sonderlich niedrig, aber über eine Million "weiße" und ungültige Stimmen sind ein historischer Rekord. Währenddessen wird in unzähligen offenen Versammlungen auf immer mehr Plätzen über die Ausweitung der Bewegung debattiert, und es entstehen etliche Arbeitsgruppen. Außerdem wird in einigen Städten die Abhaltung von Stadtteilversammlungen im ganzen Stadtgebiet beschlossen.

Reflektion und Ausweitung

Heute, Mitte Juni, sind die meisten Platzbesetzungen beendet. Auf einigen Plätzen hält ein Teil der BesetzerInnen weiter die Zelte aufgeschlagen und gelegentlich wird mit Räumung gedroht, aber die Herrschenden haben registriert, dass jede Repression der Bewegung bisher bloß neues Leben eingehaucht hat. So hat zum Beispiel eine Räumung in Barcelona mit deftigen Prügelszenen am 27. Mai dazu geführt, dass der Platz binnen Stunden von Tausenden neu besetzt wurde. Lange Zeit wurden selbstbestimmte Räumungen hinausgeschoben, weil die Bewegungen ihre Strukturen zuvor festigen müsse. Überall war ein starkes Bedürfnis nach Kontinuität spürbar. Die Initiative will keineR mehr aus der Hand geben. Und die Sorge, wieder ins Vakuum gesellschaftlicher Isolation zu fallen, ist groß. Allen ist klarer denn je, dass der virtuelle Raum der "sozialen Netzwerke" nur ein bescheidenes Mittel der Verständigung sein kann. Daher wird eine Mindestinfrastruktur (Infostand, Lautsprechanlage) zur Abhaltung punktueller Versammlungen auf einigen Plätzen aufrecht erhalten. Zuletzt hat die Bewegung den Amtsantritt der neuen lokalen Regierungen und eine Aktionärsversammlung der Banco Santander mit Protesten begleitet. Die spektakulärste Aktion war die Blockade des katalanischen Parlaments, als dort am 15. Juni ein neues Sparpaket beschlossen wurde. Am 19. Juni wurde in rund 60 Städten demonstriert; allein in Barcelona waren wir 80.000. Ab dem 20. beginnen Sternmärsche von Valencia, Sevilla, Alicante, Galicia und Barcelona, an denen sich überwiegend Arbeitslose beteiligen. Am 23. wollen sie zusammen in Madrid eintreffen.

Klärungsbedarf

Die Bewegung hat unglaublich breiten Zuspruch aus allen Schichten erhalten. Nach Umfragen lagen die Sympathiewerte bei 85 Prozent. Es war eine ihrer großen Stärken, der weit verbreiteten Abscheu gegenüber der "professionellen Politik" von Parteien und Gewerkschaften ein Sprachrohr zu verschaffen. Sie traf natürlich den richtigen Moment (Kommunalwahlen, weitere Sparpakete und "Arbeitsmarktreformen"), aber entscheidend war der Übergang vom Symbolismus zur direkten Konfrontation mit dem Staat. In einem Augenblick größter Solidarität wurde der offizielle Krisendiskurs durchbrochen und die Spaltungen zwischen Sektoren und Generationen in den Hintergrund geschoben. Auf den Plätzen entstand in kürzester Zeit eine Gegenwelt, in der das Gefühl eines historischen Moments spürbar wurde und die Vorstellung von einer antagonistischen Kraft auflebte, die allgemeine gesellschaftliche Interessen repräsentiert. Die Erfahrung, dass spontane Organisation möglich ist, die Aufbruchstimmung und die Überwindung der Vereinzelung manifestierten sich in den unzähligen Versammlungen mit bis zu Tausenden TeilnehmerInnen. Sehr viele Leute schöpften hier neuen Mut, lernten andere kennen, fanden Raum für Austausch und Reflektion.

Die Zeit ist ein bedeutender Faktor für die Dynamik des Prozesses. Im Moment höchster Anspannung scheint der Volksaufstand zum Greifen nahe. Je länger die Zeit ohne spürbare Weiterentwicklung und neue Höhepunkte vergeht, desto deutlicher werden wieder die Differenzen und die Schwierigkeiten, sie dauerhaft zu überwinden. "Eine wirkliche Revolte erkennt man daran, dass sie die Raum-Zeit-Verhältnisse verändert" schrieb Guillermo Kaejane.

Asambleas - Selbstorganisation der Kämpfenden oder radikaler Parlamentarismus?

Versammlungen gelten als Sinnbild einer authentischen, horizontalen, "basisdemokratischen" Organisierung. In Spanien wird die Phase der Arbeiterautonomie Ende der 70er mit der Organisierung in 'asambleas' identifiziert. Damals war die Versammlung aller kämpfenden ArbeiterInnen eines Betriebes die letzte Instanz aller kollektiven Initiativen. Wenn die Versammlung zum Selbstzweck wird, zur Form, in der die Assoziation der beteiligten Individuen erst hergestellt wird, verkommt sie aber zur Institution. Sie wird dann bestimmt vom Versuch, die ursprüngliche empathische Verbindung der TeilnehmerInnen nicht durch Beiträge und Entscheidungen zu gefährden, die vom abstrakten gemeinsamen Konsens abweichen. Die Diskussionen werden lähmend und unattraktiv für neue Leute, eine Form radikalen Parlamentarismus. Auf diese Weise wurde die Suche nach emanzipatorischen Organisationsstrukturen konterkariert. Ebenso trug die radikale Ablehnung von Ideologien, mit der die (Selbst-)Verständigung vor einer vorschnellen Vereinnahmung bewahrt werden sollte, letztlich zur Entpolitisierung der Debatten bei.

Die wesentlichen politischen 'Widersprüche der Bewegung hängen mit ihrem Verhältnis zu Staat und Demokratie zusammen. Solange Demokratie nicht als Form kapitalistischer Herrschaft begriffen wird, bleibt die Kritik oberflächlich und populistisch. Wenn Politiker aufgrund ihres kriminellen Charakters korrupt werden, müssen sie nur durch "anständige" ersetzt werden. Und der "gierige" Banker muss nur durch anständige Politiker kontrolliert werden. Aus diesem Blickwinkel ist alles eine Frage der "richtigen" Leute und nicht von gesellschaftlichen Strukturen. Dann bleibt auch die Kritik am Europakt und an den Sparpaketen kurzsichtig und reicht grad mal bis zu "alternativen" Vorstellungen von keynesianischer Wirtschaftspolitik. In diesem Zusammenhang wird die Ambivalenz des fundamentalistischen Pazifismus deutlich. Dahinter stecken nicht nur Sorgen, dass die Bewegung instrumentalisiert werden könnte, sondern auch ein ausgeprägter Wille, sich "kritisch aber konstruktiv" als Gesprächspartner anzubieten. Dieser Anspruch wird auch aufrecht erhalten, nachdem mehrfach Sitzblockaden mit Prügeln abgeräumt wurden. Wie besessen erhoffen sich die Gewaltfreiheitsapostel in der (ver-)öffentlich(t)en Meinung als Märtyrer zu punkten, während es für Politiker und Medien natürlich ein Leichtes ist, genau das Gegenteil "nachzuweisen".

Überqualifizierung und Arbeitslosigkeit - Zur sozialen Zusammensetzung der Bewegung

Diese Widersprüche sind natürlich in der Bewegung diskutiert worden, und es hat eine Reihe von Schritten zu ihrer produktiven Auflösung gegeben. Sie verweisen auf unterschiedliche Pole in der sozialen Zusammensetzung der Bewegung. Obwohl die Trennungen nicht immer eindeutig verlaufen, lässt sich unterscheiden zwischen der Blogger- und Bürgerinitiativenszene, in der erstaunlich viele Juristen aktiv sind und das Streben nach gesellschaftlicher Anerkennung spürbar ist, und der Szene aus autonomen Gruppen, HausbesetzerInnen, Alt- und Neulinken. Letztere haben sich teils erst mit Verzögerung bei den Besetzungen eingeklinkt und ihre Ausweitung forciert, während erstere mit dem Verfassen von Forderungskatalogen beschäftigt waren und stets betonten, nicht "antisistema" zu sein.

Die Bewegung ist keine Jugendbewegung. Altersmäßig liegt der Schwerpunkt zwischen 25 und 40, bei den zuvor bereits organisierten Aktivisten eher im oberen Bereich. Die Bewegung ging weder von den Ausbildungszentren aus, noch hat sie dort besonderen Nachhall bewirkt, obwohl viele StudentInnen auf die Plätze und Demos kommen. Die Kategorie "Jugend" beschreibt absolut keine einheitliche soziale Realität. Die höchsten Arbeitslosenraten unter Spaniens Erstbeschäftigten haben neben den Schulabbrechern die Hochschulabsolventen. Nach OECD-Daten sind in Spanien mit Abstand die meisten Beschäftigten (25 Prozent) "überqualifiziert", üben also einen Job unter ihrem Ausbildungsniveau aus; unter den JungarbeiterInnen sind es 40 Prozent, 44 unter Hochschulabgängern (in allen OECD-Ländern 23 Prozent). In Spanien machen 29 Prozent eine Hochschulausbildung, im OECD-Durchschnitt 28, EU-weit 25, in der BRD weniger als 25 Prozent. Diese Zahlen sind nicht sehr verschieden. Aber in Spanien fangen 31 Prozent nach der Schule überhaupt keine Ausbildung an (EU-Durchschnitt 15 Prozent) und nur 38 Prozent schließen eine Berufsausbildung auch ab (in der EU 52 Prozent). Das unterrepräsentierte Segment "mittlerer" Qualifizierung erklärt sich historisch aus dem Prinzip des "Learning on the Job".

Mit der Krise steigt die Nachfrage nach "Ausbildung". Kritiker warnen bereits, dass diese Tendenz angesichts der strukturellen Arbeitsmarktprobleme nur zu mehr "Überqualifizierung" führt. Gleichzeitig bilden die SchülerInnen und Studierenden ein enormes Reservoir billiger Arbeitskraft für Praktikanten- und Gelegenheitsjobs. Für viele ist die Ausbildung eine Warteschleife,je länger die Krise anhält, desto mehr verewigt sich dieser Zustand. Studien belegen, dass in den letzten Jahren gerade die einkommens- und qualifikationsmäßig "mittleren" Jobs verschwanden. Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Entwicklung von edv und Kommunikationstechnologien mit der Proletarisierung ehemals qualifizierter und relativ gut bezahlter Mittelschichten. Die frühere Formel, dass (Aus-)Bildung den volkswirtschaftlichen Reichtum steigert und den individuellen Aufstieg fördert, gilt nicht mehr. Das führt einerseits dazu, dass Leute auf der Anerkennung ihrer Qualifikation bestehen, andererseits zur Radikalisierung der Kritik an den Verhältnissen. Aus der Perspektive des Kapitals liegt die Lösung in der Beseitigung der "Rigiditäten" des Arbeitsmarkts. Rigidität meint dabei alles, was die "natürliche" Anpassung der Ausbeutungsbedingungen an den Zyklus behindert: unflexible Tarifverträge, inflationsindexierte Löhne, hohe Abfindungen für Unbefristete.

Die Bezugnahme auf die Bewegungen in Nordafrika ist nachvollziehbar. Ebenso wie in Spanien hat dort die Globalisierung von Markt und Produktion die Spielräume für ein exportorientiertes Akkumulationsmodell erheblich eingeschränkt. Der demographische Druck dort und eine geplatzte Immobilienblase hier trafen zusammen mit der globalen Krise. Dieser Prozess beschleunigte die Proletarisierung der Mittelschichten und blockierte die neu auf den Arbeitsmarkt drängenden Generationen in informellen Ausbeutungsbedingungen. Dort wie hier haben die Bewegungen zwei Seelen. Die eine wird von den bedrohten Mittelschichten und aufstiegswilligen, beziehungsweise -fähigen "Jungen" getragen und zielt zugleich auf Modernisierung der politischen Strukturen und nostalgische Restauration des keynesianischen Sozialstaats. Die andere wird von den proletarischen Schichten und den "Jungen" ohne Aufstiegsperspektive getragen. Sie richtet sich auf den Ausbau sozialer Macht, um die Verhältnisse auf den Kopf zu stellen. Noch suchen sie das Bündnis als patriotische oder realdemokratisch-pazifistische Aktionseinheit. Behält die erstere die Kontrolle, wird es bei einer simulierten Revolution gegen eine simulierte Demokratie bleiben.


Konflikte um die Schulden der Provinzen

Nach der Franco-Diktatur war die Dezentralisierung staatlicher Macht eine vorrangiges Anliegen. Das haushaltspolitische Gewicht der Provinzen und Kommunen ist somit Ausdruck der Demokratisierung. Genau diese dezentralisierten Verwaltungsstrukturen sollen nun radikal beschnitten werden. Die Schulden der öffentlichen Verwaltungen der Provinzen (Comunidades Autónomas) stehen mit 10,2 Prozent des BIP auf dem höchsten Stand seit 1990 und wuchsen aufs Jahr mit 27 Prozent fast doppelt so schnell wie der Schuldenberg des Zentralstaats, der sich mit 467.348 Millionen Euro auf 44,1 Prozent des BIP beläuft. Die Ausgaben der Provinzverwaltungen machen zusammen mit denen der Kommunen die Hälfte aller Staatsausgaben aus, gelten als schwer kontrollierbar und wachsen exorbitant. Nach ihrem Brüsseler "Konsolidierungsgelöbnis" im Mai 2010 hatte die Regierung deshalb den Provinzen für das Jahr 2010 eine Obergrenze für die Neuverschuldung von 2,4 Prozent auferlegt und angekündigt, ansonsten keine neuen Kredite zur Refinanzierung der fälligen Schulden zu genehmigen.

Zuvor hatte das Bau- und Immobiliengeschäft für stete Einnahmen gesorgt. Mit dem Kriseneinbruch sind den Provinzen und Kommunen ihre Einnahmen aus Gewerbesteuern und Gebühren weggebrochen - und die kommunalen Ausgaben für Sozialleistungen stark angestiegen (auch wenn der Zentralstaat den größten Teil davon trägt). Die Akteure der Kapitalmärkte vertreten die Auffassung, dass diese Parallelstrukturen zu Intransparenz, Verschwendung und Ineffizienz führen. Die Anleihen der Provinzen wurden heruntergestuft, die Zinsen steigen. Die Sparkassen (cajas de ahorro), die bisher zur Refinanzierung von Kommunen und Provinzen eine gewichtige Rolle spielten, sind nun selbst am Kollabieren und werden privatisiert oder verramscht. Mittlerweile gehen die Provinzen deshalb dazu über, Anleihen mit relativ hohen Zinsen direkt den lokalen Sparern anzudrehen. Gleichzeitig fordern sie höhere Transferleistungen aus Madrid und Brüssel, weil immer mehr Kosten für Erziehung und Gesundheitsversorgung auf die lokalen Haushalte abgewälzt wurden.

Bereits im Mai 2010 hatte die Zentralregierung den 2,8 Millionen Staatsangestellten die Löhne um durchschnittlich fünf Prozent gekürzt und sämtliche Investitionen drastisch zurückgefahren. Eine entsprechende Senkung der Löhne der Beschäftigten bei den staatlichen Verkehrsbetrieben (Bahn, ÖPNV, Flughäfen) mit eigenen Tarifverträgen wurde durch die Kappung der Ausgaben erzwungen. Ähnliches gilt für die unzähligen privaten Dienstleister (Reinigung, Wartung) im Auftrag der Kommunen, die besonders unter Zahlungsverzug leiden, ebenso wie für die halbstaatlichen (concertados) Sektoren im Erziehungs- und Gesundheitswesen, die in Spanien ein großes Gewicht haben. Allein in Katalonien arbeiten beispielsweise 60.000 GesundheitsarbeiterInnen in privaten Einrichtungen und 23.000 LehrerInnen in privaten, meist kirchlichen Schulen, die aber weitgehend staatlich finanziert und reguliert werden. Auf all diesen Ebenen vollzieht sich seit Monaten ein zähes Tauziehen um Arbeits- und Einkommensbedingungen, ohne dass es zu einer vereinheitlichenden Bewegung kommt.

Die Haushaltspolitik der Provinzverwaltungen, bei denen die Hälfte des staatlichen Personals unter Vertrag steht, wird nun zum Brennpunkt weiterer Austeritätsmaßnahmen und zum politischen Experimentierfeld, auf dem die Vertreter der verschiedenen Parteien neue Szenarien testen, die gegebenfalls im großen Maßstab auf den Rest des Staates ausgeweitet werden können. Mittlerweile wurde deutlich, dass eine Reihe von Provinzen das Schuldenlimit reißen und dass die gesamtstaatliche Neuverschuldung schwerlich im gegenüber der EU-Kommission "versprochenen" Rahmen bleiben wird. Dennoch bleibt der Zentralregierung nichts anderes übrig, als auch den Schuldensündern die Kreditaufnahme zu gewähren, allerdings erst gegen Vorlage "drastischer" Sparpläne. Diese bestehen dann in weiteren Einschränkungen für die StaatsdienerInnen, erhöhten Abgaben und reduzierten Leistungen für die gesamte Bevölkerung. Wenn man bedenkt, dass der größte Teil der Ausgaben der Provinzen in das Bildungs- und Gesundheitswesen fließen und dass sie ihre Ausgaben in diesem Jahr von durchschnittlich 2,8 Prozent auf 1,3 Prozent des BIP senken sollen, kann man sich das Konfliktpotenzial leicht ausmalen.

Die Bewegung der "StaatsdienerInnen" in Murcia

Murcia ist mit etwa 440.000 EinwohnerInnen die Hauptstadt der gleichnamigen Provinz (1.460.000 EinwohnerInnen) an der Mittelmeerküste südlich von Valencia. Der Bauboom bescherte Murcia ein Rekordwachstum und ließ bis 2008 die Arbeitslosigkeit auf den historischen Tiefstand von 7,15 Prozent fallen - heute liegt sie bei 23,6 Prozent. Murcia sollte ein mediterranes Florida werden, Wohnungen und Golfplätze für 800.000 neue BewohnerInnen waren geplant. Die Schulabbrecherquote schlug Rekorde, weil der Boom die Kids mit leicht verdientem Geld lockte. Mit dem Platzen der Immobilienblase wurde die einseitige Ausrichtung der lokalen Wirtschaft zum Bumerang. 35.000 Wohnungen stehen unverkauft rum. Die Verschuldung der Provinz stieg im letzten Jahr um 51,61 Prozent auf über 2 Mrd. Euro, 7,4 Prozent des regionalen BIP. Das Haushaltsdefizit lag 2010 bei 3,4 Prozent.

Im Provinzparlament hat die konservative "Volkspartei" (Partido Popular) die Mehrheit. Ihr Präsident Valcárcel hat fast alle wichtigen Maßnahmen seiner 15-jährigen Amtszeit mit den Gewerkschaften abgestimmt. Die Regierungspartei hat in den Boom-Jahren ein dichtes Netz aus Seilschaften geweht, die ihre Dominanz in alle sozialen Bereiche verlängerte. 23 der 45 Kommunen sind in Korruptionsskandale verwickelt.

Bis vor kurzem regte sich kaum sozialer Protest. Selbst der Aufruf der Gewerkschaften für den Generalstreik am 29. September letzten Jahres wurde kaum befolgt. Dies schien sich auch nicht zu ändern, als Ministerpräsident Valcárcel am 21. Dezember den neuen um 300 Millionen Euro gekürzten Haushalt vorlegte. Am selben Tag bekundete seine Partei jedoch die Absicht, ein Gesetz ihr "Sondermaßnahmen zur Stabilisierung des Haushalts" einzubringen, das weitere Einschnitte vor allem für die öffentlichen Angestellten brachte. Damit wurden geltende Tarifverträge revidiert, ohne dass die Gewerkschaften auch nur informiert wurden.

Das am 23.12.2010 verabschiedete Gesetz bringt für die 55 000 Beschäftigten der Regionalverwaltung (davon sind 22 000 LehrerInnen) eine weitere Kürzung der direkten und indirekten Löhne und eine Verlängerung der Arbeitszeit. Bereits am Abend des 22.12. organisierten betroffene ArbeiterInnen eine spontane Protestaktion per SMS-Mobilisierung. Etwa 1000 Leute empfingen den zu einer Preisverleihung in der Handelskammer eilenden Präsidenten Valcárcel "gebührend" - bis die Polizei eingriff. Später versammelten sich 1500 in der Innenstadt vor seinem Wohnsitz in der Gran Via und bewarfen ihn mit Eiern. Von nun an sollte er noch viele Male Haltestelle und Eierwurfübungsplatz während immer größerer Demonstrationen werden.

Nun drängten auch die Mitglieder aller Gewerkschaften der betroffenen Branchen zu gemeinsamen Protestaktionen und zur Bildung eines Krisenkomitees: ugt (der sozialdemokratischen psoe nahestehend), ccoo (ehemals der kommunistischen Partei verbundene Comisiones Obreras), sterm (LehrerInnengewerkschaft), csif (Unabhängige Beamtengewerkschaft), anpe (LehrerInnen), SATSE (PflegerInnen), sidi (LehrerInnen), cesm (Ärzte), sae (TechnikerInnen im Pflegebereich) sowie die cgt (Anarchosyndikalisten). Das Bündnis war äußerst heterogen, keinesfalls gleichmäßig engagiert, und spaltete sich bald entlang seiner unterschiedlichen Interessen.

Gewerkschaftssprecher geben zu, dass sie selbst vom Umfang der Bewegung überrascht wurden. Fast täglich wurden in den Schulen und Krankenhäusern Versammlungen abgehalten oder kleinere Kundgebungen organisiert. Die gewerkschaftliche Aktionseinheit wurde von Anfang an auf zwei Ebenen eingerichtet: neben einer generellen Koordination, dem "Krisenkomitee", gab es Branchenkomitees für Allgemeine Verwaltung und Dienste, Gesundheitswesen und Schulen. Jedes Komitee bar eigenständig die Proteste in seinem Bereich organisiert beziehungsweise koordiniert, während das Krisenkomitee für die Großdemonstrationen und zentralen Kundgebungen zuständig war. Diese Aktionseinheit mit PP-nahen Organisationen, die von der Basis zum Protest gezwungen wurden, hat länger als erwartet gehalten. In Versammlungen am Arbeitsplatz wurden VertreterInnen gewählt, die in die überregionalen Komitees gingen und die Kommunikation aufrecht erhielten. Wichtig war auch die Kommunikation in den digitalen Netzwerken, wo in mindestens drei großen Foren sich über 7000 Leute austauschten. Sämtliche öffentlichen Einrichtungen hingen voller Transpis, alle Nase lang fanden Info- und Protestversammlungen mit Eltern und "Betroffenen" statt. Mehr und mehr konnten BürgerInnen angesprochen und überzeugt werden, dass es auch um die Qualität der öffentlichen Dienste geht. Damit wurde Boden gewonnen gegen die allgemeinen Vorurteile, die immer wieder gegen die Protestierenden geschürt werden: die Beamten seien Privilegierte mit sicheren Arbeitsplätzen, machten ständig blau und seien faul.

Die Absenkung der Gehälter im Öffentlichen Dienst werden gerne als Tribut im Gegenzug für das Privileg der Unkündbarkeit dargestellt. Aber nur gut 60 Prozent der öffentlich Beschäftigten sind tatsächlich Beamte, und es gibt einen hohen Anteil befristet Beschäftigter. Dennoch betrachten sich viele durchaus als bevorteiligt und bringen angesichts klammer Haushalte und über vier Millionen Arbeitsloser Verständnis für die scheinbare Notwendigkeit von "Einsparungen" auf Was das Fass zum Überlaufen brachte, waren nicht nur die Kürzungen und die schlechteren Arbeitsbedingungen. Zur Empörung trug auch die Art und Weise bei, wie mit ihnen umgesprungen wurde.

Kämpfe im Öffentlichen Dienst und öffentlicher Raum

Erstaunlicherweise hatte die Mobilisierung in Murcia landesweit wenig Echo gefunden. Die Medien übergingen die Bewegung weitgehend - während sie ausgiebig über die Proteste im arabischen Raum berichteten. Landesweit gab es in diesen Monaten viele ganz ähnliche Konflikte, die allerdings nicht die gleiche Größenordnung erreichten.

Die öffentlichen Beschäftigten galten bislang als wenig aufsässig. Die meisten haben kaum Erfahrung mit Arbeitskämpfen. Viele hatten erstmals im Frühjahr 2003 in den massenhaften Mobilisierungen gegen den Irakkrieg auf der Straße und am Arbeitsplatz gegen eine Regierungsentscheidung protestiert. Die LehrerInnen stellen noch vor den PflegerInnen die größte Gruppe im Öffentlichen Dienst. Zugleich sind es die zwei Branchen mit den jüngsten ArbeiterInnen. Während IndustriearbeiterInnen 1980 noch fast 78 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder ausmachten, gegenüber knapp 17 Prozent aus dem Öffentlichen Dienst, hat sich dieses Verhältnis heute fast umgedreht. Bezogen auf die Gesamtbeschäftigung in den Sektoren liegt die Mitgliedsquote in der Industrie bei 20 - im Öffentlichen Dienst bei 27-30 Prozent (Gesamtdurchschnitt Spanien 17 Prozent).

Die Legitimität der großen Gewerkschaften ist angeschlagen. Haben sie in der Krise doch alle als "Reformen" verkauften Verschlechterungen nach symbolischem Protest mitgetragen. Dieser symbolische Protest hat allerdings ausgereicht, um den offenen Bruch zu verhindern.

Die LehrerInnen haben selbst die Initiative ergriffen, ohne auf die Gewerkschaften zu warten. LehrerInnen und PflegerInnen beschränkten sich noch auf symbolische 15-minütige Arbeitsniederlegungen. Sie unterbrechen damit keinen Produktionszyklus, der einem Unternehmen Verluste bescheren würde. Betroffen sind vielmehr die Empfänger ihrer Leistungen, die Schüler und ihre Eltern, die Patienten. Ein Arbeitskampf bietet somit auch die Gelegenheit, mit den "Betroffenen" die Diskussion zu suchen und die Mobilisierung auszuweiten, wenn deutlich gemacht werden kann, dass die Regierungspolitik nicht nur unmittelbar die Beschäftigten betrifft, sondern mittelbar die Leistungen für alle verschlechtert. An diesem Punkt wird die Debatte um den Charakter der Krise und der Austeritätsoffensive fällig.

Die Bewegung 15-M hat neben der ursprünglich zentralen Parole "Wahre Demokratie jetzt" den Fokus nun klar auf die Krisenpolitik gelegt. Die Hauptparole heißt jetzt "den Euro-Pakt verhindem". Damit wird die Diskussion auf die zentrale Demarkationslinie der Klassenkämpfe gerichtet und zugleich wird die internationale Dimension betont. Plakate mit mehrsprachigen Parolen sind immer häufiger zu sehen, vor allem mit griechischen und arabischen Schriftzeichen.

Wie es weiter geht, wird weniger von der inneren Dynamik der Bewegung 15-M abhängen. Vielen AktivistInnen ist vollkommen bewusst, dass sie nur als Ausweitung ("Desbordar la Plaza") weitergehen kann. Netzwerke aus Stadtteilversammlungen werden aufgebaut, Kontakt zur organisierten Gewerkschaftsdissidenz hergestellt, Delegationen machten Soliaktionen vor Betrieben mit laufenden Konflikten. Es wurde die Parole ausgegeben, die Bewegung in die Betriebe zu tragen. Die weitere Entwicklung dürfte wesentlich von der Zuspitzung der Schuldenkrise und der Reaktion der öffentlich Beschäftigten abhängen. Neue Einschnitte werden sie zu weiteren Mobilisierungen zwingen. Und durch das Auftreten der 15-M-Bewegung könnte sich eine ganz neue Konstellation ergeben.


Randnotizen

Guillermo Kaejane in Seven key words on the Madrid-Sol experience, 15M, www.edu-factory.org/wp/spanishrevolution/

Peter Gelderloos schrieb dazu einen sehr lesenswerten Artikel: Spanish Revolution at a Crossroads,
www.counterpunch.org/gelderloos06072011.html

siehe dazu ausführlich den Artikel in der Wildcat 89 zur Bewegung in Italien: www.wildcat-www.de/wildcat/89/w89_italien.html


Eine kurze Chronologie macht die Dynamik der Mobilisierung in Murcia deutlich:

23.12. Über 2000 ArbeiterInnen protestieren vor dem Regionalparlament in Cartagena, während drinnen das umstrittene Gesetz verabschiedet wird.

4.1. An die 20.000 nehmen laut Gewerkschaften an der fünften Demonstration durch die Innenstadt Murcias teil.

12.1. Mit den 40.000 TeilnehmerInnen der sechsten Demo gewinnt die Bewegung an Breite, neben Familienmitgliedern, schließen sich nun auch besorgte Bürger, Schüler und ArbeiterInnen anderer Branchen an, ebenso wie Arbeitslose und linke Gruppierungen.

14.1. Protestversammlung vor dem Palacio San Esteban.

18.1. Symbolische 15minütige Arbeitsniederlegungen an den Schulen

20.1. Symbolische 15minütige Arbeitsniederlegungen im Gesundheitswesen

26.1. An der siebten Demo beteiligen sich an die 60.000 - fast ohne Transparente. Stattdessen tragen sie drei Stunden lang Kerzen und zwei Särge mit dem Motto "Wir lassen nicht zu, dass die Rechte der öffentlichen Beschäftigten begraben werden".

1.2. Der Aufruf zu zehnminütigen Versammlungen an allen öffentlichen Schulen der Provinz während des Schulunterrichts wird zu 75 Prozent befolgt. Trotz erheblicher Drohungen seitens des Schulministeriums hingen an vielen Schulen Transparente: "Mehr Kürzungen in der Bildung, weniger Zukunft für die Region"

2.2. In der Sekundarschule Jiménez de la Espada in Cartagena schließen sich LehrerInnen aus Protest ein. In der ersten Februarwoche kommt es zu ähnlichen, auf fünf Stunden begrenzten Aktionen in fast 100 weiteren Schulen. An vielen Schulen hängen weiterhin Transparente.

6.2. Die mittlerweile vierte Verhandlungsrunde zwischen Gewerkschaftsvertretern und Ministerialbeamten verläuft erneut ergebnislos. Die LehrerInnen drohen damit, im nächsten Schuljahr statt der Textbücher selbsterstellte Unterlagen zu benutzen. Sie drohen auch damit, ihre Ersparnisse von den regionalen Sparkassen abzuheben, wo die Rentenfonds verwaltet werden, die nun der Kürzung unterliegen.

9.2. Über 2500 SchülerInnen, viele angereist aus anderen Provinzstädten, protestieren in Murcia.

10.2. An der achten Demo mit 40.000 Leuten nimmt ein großer SchülerInnenblock teil. Nach einem Monat treffen sich erstmals Präsident Valcárcel und das gewerkschaftliche Krisenkomitee. Änderungen werden angeboten: die Lohnkürzungen sollen nur halb so hoch ausfallen, die Wochenarbeitszeit soll auf 36,5 Stunden (eine weniger) angehoben werden, das Gesetz soll auf 2011 befristet werden... Bis auf ugt, ccoo, sterm und cgt stimmen alle Gewerkschaften dem Angebot zu. Es setzt eine üble Polemik gegen die nicht-zustimmenden Gewerkschaften ein, denen gewerkschafts- und parteipolitische Interessen unterstellt werden.

1.3. Die neunte Demo in Karnevalsversion wird nun dem Test, was die "Basis" von der Sache hält. 45.000 TeilnehmerInnen sind eine deutliche Antwort.

3.3. Auf der dritten SchülerInnen-Demo in Cartagena wird dazu aufgerufen, im Koordinationskomitee mitzuarbeiten und eigene Komitees an den Schulen zu bilden.


EINSCHNITTE laut Gesetz 5/2010, teils modifiziert durch das Abkommen vom 10.2.

Alle öffentlichen Beschäftigten betreffend:
• Erhöhung der Wochenarbeitszeit von 35 auf 37,5 Stunden.
• dadurch werden 1500 Leute arbeitslos
• Freiwerdende Stellen werden nicht wiederbesetzt.
• "Generalplan zur Umverteilung des Personals", um die Belegschaften zu rationalisieren, Versetzungen und örtliche Flexibilität werden erhöht.
• Bei Krankschreibung wird vom ersten Tag an das Gehalt um 25 Prozent gekürzt, sofern es sich nicht um Arbeitsunfälle oder berufsbedingte Krankheiten handelt.
• Bis auf weiteres streicht die Regionalverwaltung die Beiträge für den "Rentenfonds der Öffentlichen Verwaltung der Region Murcia".

Das Personal der Regionalverwaltung betreffend:
• Aussetzung der Vereinbarungen zur Vergütung wegen Gleichstellung des Personals mit dem Gesundheitsdienst Murcias
• Verringerung der freigestellten (und vom Arbeitgeber entlohnten) Gewerkschaftsdelegierten von 300 auf 150.

Das Pflegepersonal betreffend:
• Die Zulagen für Nachtwachen und Schichtarbeit werden um zehn Prozent gekürzt.

Die LehrerInnen betreffend:
• Kürzung einer Produktivitätszulage um 75 Euro monatlich. Zusammen mit der allgemeinen Lohnkürzung für den Öffentlichen Dienst beläuft sich die Lohnsenkung auf 350 Euro monatlich bei einem Durchschnittslohn von 2250 Euro brutto in den ersten drei Berufsjahren (14 Monatsgehälter).


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Zeltplatz in Murcia
- Lehrerinnen bei der Schulbesetzung

Raute

Buchbesprechung

Griechische Blaupause?

Detlef Hartmann und John Malamatinas:
Krisenlabor Griechenland: Finanzmärkte, Kämpfe und die Neuordnung Europas.
Berlin und Hamburg (Assoziation A) 2001

Die Autoren analysieren die Auseinandersetzungen um die griechische Schuldenkrise und ordnen sie in die gesamteuropäische Situation ein. Ihre Hauptthese: die EU-Strategen wollen die Krise zur Reorganisierung Europas nutzen. Griechenland sei »Labor« für eine Schockpolitik«, die »ein neues Kommando« über die Klasse installieren soll, die aktuelle Strategie sei die Blaupause für das weitere Vorgehen in anderen, vor allem süd- und osteuropäischen, Staaten.

Das Buch hat drei Teile: Krisenproteste in Griechenland, Umbau Europas, unsere Handlungsmöglichkeiten.

Im ersten Teil beschreibt John Malamatinas die Bewegungen von Dezember 2008 bis Dezember 2010. Seine Fragestellung ist dabei: Wie ist die Bewegung gesellschaftlich und politisch konstituiert, was waren ihre Stärken und Schwächen, welche Perspektiven ergeben sich daraus?

Die Aufstandswochen im Dezember 2008 thematisierten auch die Unzufriedenheit mit den eigenen Lebensbedingungen. Malamatinas beschreibt die Kreativität und Militanz, aber auch die Heterogenität sowohl der Bewegung im Dezember 2008 als auch der Bewegung gegen die sozialen Angriffe des Staates in Reaktion auf die Schuldenkrise. Dabei hebt er besonders die Vereinigung der an den Rand der Gesellschaft gedrängten »zur Revolte bereiten« Akteure mit den streikenden Lohnabhängigen im Mai 2010 hervor. Aber am 5. Mai 2010 starben auch drei Menschen in einer Bank, die aus einer Demo heraus angezündet wurde. Damit ist der Mai gleichzeitig Höhepunkt und Schockmoment der Bewegung. Nach einer längeren Schockphase erreichte erst der siebte Generalstreik im Dezember wieder eine Beteiligung, die an die Bewegung vor dem Mai anknüpfen konnte.

Besonderen Wert legt der Bericht auf zwei Aspekte. Zum einen die Kritik an Teilen der griechischen Linken, die nationalistisch argumentieren, sich nicht kritisch genug mit dem griechischen Kapital auseinandersetzen, den Umgang mit der Schuldenkrise nur als imperialistischen Angriff sehen, oder sich in Diskussionen um Stadtguerilla verlieren. Zweitens die Versuche zur Spaltung der Bewegung durch mediale Hetze gegen »autonome Gewalttäter« und »ausländische Kriminelle«, die einen ansonsten friedlichen Protest zerstören. Die Zusammenarbeit zwischen Polizei, Zivilbullen und organisierten rechten Kräften wird angedeutet.

Als letztes beschreibt er die Hoffnung vieler linker Gruppen auf einen »Dezember der Arbeiter«, der nach seiner Ansicht nur dann möglich ist, wenn die Bewegung eine klare Trennlinie zwischen sich und dem Staat zieht.

Im zweiten Beitrag »Schockpolitik und der Umbau Europas« beschreibt Detlef Hartmann zunächst fast minutiös die Treffen und Diskussionen der EU-Entscheidungsträger im Kampf gegen den drohenden Zusammenbruch im Mai 2010. Danach ordnet er die Krise theoretisch ein.

Mithilfe von Artikeln aus der Tagespresse zeichnet er ausführlich den politischen und medialen Umgang mit der Schuldenkrise vom Herbst 2009 bis Mai 2010 nach. Dabei geht er auch auf den »sozialen Krieg« der Märkte gegen die griechischen Unterklassen ein. Er beschreibt die Funktionsweise des Rettungsschirms und die griechischen Sparprogramme. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der Medienhetze und dem sozialen Rassismus in Deutschland gegen die griechische Bevölkerung. Als letztes problematisiert er noch einmal die Rolle Deutschlands als treibende Kraft beim Umbau Europas.

Kern seiner Einschätzung der Krise ist die These, das Kapital versuche gerade, ein neues Regulationsmodell umzusetzen und den Kapitalismus auf ein neues Niveau zu heben. Diese Offensive zeichne sich vor allem durch zwei Bewegungen aus: Mithilfe von »Clustern«, also Zusammenballungen von innovativen Industrien, eine bessere technologische Basis der »Inwertsetzung der menschlichen Subjektivität« zu schaffen; zweitens durch massive Verelendungsangriffe die Verwertung von immer mehr Menschen zu erleichtern. Die New Economy in den USA sei ein erster dahingehender Versuch gewesen, ihre Krise 2001 brachte die Offensive zwar ins Stocken, ermöglichte dem US-Kapital aber einen großen Vorsprung zum Rest der Welt. Die Krisen der letzten Jahre sind Durchsetzungskrisen des neuen Regulationsmodells. Die aktuelle Eurokrise entstand beim Versuch der EU, diese Entwicklung nachzuholen. Viele EU-Strategen hätten die Hoffung, sie für einen beschleunigten Umbau Europas nutzen zu können. Europa und der Euro seien nicht grundsätzlich infrage gestellt, sie würden sogar gestärkt. Es soll ein »deutsches Europa« entstehen, das den Schock der Agenda 2010 auf den europäischen Großraum überträgt.

Das schließt Griechenland ein. Es soll nicht aus der EU ausgeschlossen werden, denn das würde Abschreibungen und den Staatsbankrott Griechenlands bedeuten und Bankenpleiten nach sich ziehen. Stattdessen soll es als Labor für »neue Strategien des sozialen Krieges« dienen, an dem ein Exempel statuiert wird.

Widerstandskräfte sieht Hartmann in Griechenland neben den im ersten Aufsatz beschriebenen Protestbewegungen vor allem in einer »Moral Economy«: »Die in der deutsche Hetze als Korruption und Klientelwirtschaft bezeichneten« Verhaltensweisen haben eine andere Seite, die der »Selbstorganisation der Unterklassen gegen Angriffe von Oben«. Bei diesen Angriffen ist die »deutsche Kommandohöhe des Kapitals« die Speerspitze der europäischen Offensive, die besonders massiv die Verelendung zur Durchsetzung ihrer Strategie betreibt. Dafür werden auch Institutionen wie der IWF benutzt. Diesen hat (vor allem Merkel) zu einer »Weltmacht« aufgebaut, zum einen als Mittel der Großraumpolitik, zum anderen als »Schutzschirm gegen den Volkszorn«.

Im namentlich nicht gekennzeichneten dritten Teil wird vorgeschlagen, mit einer »militanten Selbstuntersuchung« die eigenen Verhaltensmuster aufzubrechen. Eine inhaltliche Verständigung mit anderen Akteuren sei nur möglich, wenn wir unsere alten Vorstellungen infrage stellen. Dies sei erfolgversprechend, weil gerade im Moment »Proteste verschiedener sozialer Bereiche« zusammengefunden haben und in vielen Städten Europas »radikale Praktiken« zunehmen. Wenn wir unsere eigene Lage in der Situation der anderen erkennen und gegen die »Entwertung« kämpfen, »werden wir in der Lage sein, Verbindung zu den Kämpfen der MigrantInnen zu suchen und den Menschen, die sich in den drei Kontinenten mit den neuen postmodernen Barbareien konfrontiert sehen«. Drei Sachen kann man sofort einfach machen: In bestehende Aktionen und Initiativen eingreifen, der »medialen, gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Vermittlung entgegentreten« und sich kollektiv gegen Repression und Extremismus-Stimmungsmache wehren.

Das Buch bietet einen Überblick über die griechischen Bewegungen und ihre Zusammensetzung und bettet sie in die politische und ökonomische Entwicklung ein. Es gibt aber zwei Probleme. Zum einen der dominante Blick von oben: Auch wenn Hartmann immer von »beiden Seiten«, von Unterklassen und Kämpfen spricht, kommt eigentlich nur das Kapital als handelndes Subjekt vor. Zum anderen erscheint mir die politische Kernthese der Analyse nicht haltbar. Die angeblich hinter Sparpolitik und Krisenangriffen stehende homogene Strategie des Kapitals unter amerikanischer respektive deutscher Hegemonie ist kaum plausibel. Schließlich hat die »New Economy« keineswegs zu einer grundlegenden Veränderung der Produktivität geführt. Daneben sind die Vorschläge, sich durch eine »militante Selbstuntersuchung« zur Solidarität mit den anderen, weltweit Kämpfenden zu befähigen, und so als Teil dieser Kämpfe handeln zu können, etwas schwach. Auch wenn wir selber an dieser Stelle Nachholbedarf haben und eine Debatte über unsere Rolle in den Kämpfen dringend notwendig ist, scheinen mir die Vorschläge schnell zusammengeschrieben und wenig konkret durchdacht.

Raute

Weiße Rosen aus Athen

Die EWG - ein Modernisierungsprojekt

Die Geschichte der Vereinigung Europas zerfällt in mehrere Etappen. Die EWG symbolisierte den Traum vom Ende der miteinander Krieg führenden europäischen Nationalstaaten. Sie war ein kapitalistisches Modernisierungsprojekt mit dem Ziel eines Großwirtschaftsraum mit einheitlichen Lebensbedingungen. Dieses Projekt zerbrach mit dem Ende von Bretton Woods und den beiden "Ölkrisen". Die EU soll(te) Löhne, Arbeitsbedingungen und sozialstaatliche Leistungen zueinander in Konkurrenz setzen und nach unten angleichen. Die sogenannte "Eurokrise" ist eine Verfassungskrise genau dieser Konstruktion.


1951 wurde die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl ("Montanunion") gegründet; Mitglieder waren Belgien, die BRD, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande. Mit den Römischen Verträgen von 1957 wurde daraus die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), die in Schritten immer weiter integriert wurde, z.B. gilt seit 1968 die Zollunion.

Die EWG subventionierte die "Modernisierung der Landwirtschaft" und den "industriellen Strukturwandel".

"Bauernlegen"

Zu Beginn waren die Bauern noch die Mehrheit in der EWG; von den etwa 500 Millionen EinwohnerInnen in den 27 EU-Ländern sind heute noch 12 Millionen Vollzeit-Landwirte (in der BRD eine halbe Million). Die Agrarsubventionen der EWG haben zu gewaltigen Konzentrationsprozessen und Produktivitätssteigerungen geführt. Es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen der Freisetzung agrarischer Arbeitskräfte und dem Wirtschaftswunder der 50er und 60er Jahre. Die Lohnabhängigen in West-Deutschland nahmen von knapp 14 Mio. 1950 auf knapp 20 Millionen 1960 zu. Dieses Anwachsen v.a. der Industriearbeiterklasse ging einher mit "chinesischen" Wachstumsraten des BSP: 1950-54 im Durchschnitt 8,8 Prozent; 1955-58 7,2 Prozent, 1959-63 5,7 Prozent usw. (diese fallende Tendenz hat sich im übrigen seither fortgesetzt).

Einkesseln der Klassenkerne und "sozialverträglicher" Abbau.

Dieser Zusammenhang lässt sich am besten an den Bergarbeitern zeigen, nicht von ungefähr entstand die EWG aus der Montanunion! Bei Gründung der EWG 1957 gab es in der BRD 153 Zechen mit 607.000 Beschäftigten, darunter 384.000 Bergarbeiter unter Tage. Durch billiges Erdöl wurden die Bergarbeiter beschleunigt abgebaut, gleichzeitig sorgten Subventionen, Sozialpläne, Umqualifizierung und Frühverrentungen dafür, dass dieser massive Prozess weitgehend ohne Kämpfe vonstatten ging. Von 1957 bis 1966 wurde die Anzahl der Zechen und der Bergarbeiter in etwa halbiert, bis zur deutschen Wiedervereinigung auf etwa ein Sechstel reduziert; 2006 war man bei etwas mehr als einem Zwanzigstel angekommen (acht Zechen mit 35.000 Beschäftigten). Die gleichen Zahlenverhältnisse gelten EU-weit: In den 50er Jahren arbeiteten z.B. noch über 1,8 Millionen im Steinkohlebergbau, 2000 (also vor den Osterweiterungen) waren es noch knapp 90.000 Bergleute.

Strukturell das gleiche passiert seit den 70er Jahren auf europäischer Ebene mit den AutoarbeiterInnen - nur dass es nun keine neue Industrie gibt, die sie aufnimmt; deshalb verfestigt sich die Massenarbeitslosigkeit seit den 80er Jahren.


Herausbildung der deutschen Hegemonie

Seit 1972 stimmten die EWG-Länder ihre Wechselkurse in einer Währungsschlange aufeinander ab, um die Schockwirkung der Aufkündigung von Bretton Woods durch die USA abzuwehren. 1973 traten das Vereinigte Königreich, Irland und Dänemark bei. Qualitativ stagnierte allerdings seit dem Kriseneinbruch 1973/74 die europäische Integration. Die Währungsschlange war von kurzer Dauer, nach ein paar Jahren war sie von zehn auf vier Mitglieder geschrumpft und somit gescheitert. Italien hatte sie während ihres Bestehens mit einem Mix aus Inflation und Abwertung geschickt ausgenutzt, um seine Exporte massiv zu steigern. Die ArbeiterInnen in Italien nahmen sich sehr viel mehr vom Kuchen, als ihnen zugestanden werden sollte, am Ende der Währungsschlange lagen die Löhne in Italien für ein paar wenige Jahre in etwa auf dem Niveau der BRD.

Gegen diese "Abweichungen" tüftelte man in den 80er Jahren das Binnenmarkt-Konzept aus: ein gemeinsamer Markt mit freiem Kapitalverkehr, weit größer als der Binnenmarkt der USA, der das europäische Kapital vor den Krisenentwicklungen im Rest der Welt abschottet (z.b. von der in den 80er Jahren grassierenden "Schuldenkrise der Dritten Welt").

Auf Druck der BRD wurde nach dem Ende der Währungsschlange im März 1979 zunächst das EWS gegründet (Europäisches Währungs System). Im Zentrum des EWS stand die Währungseinheit ECU, die durch einen Währungskorb aus den wichtigsten europäischen Währungen gebildet wurde. Feste Wechselkurse sollten einen stabilen Absatzmarkt für die deutschen Exporte bilden, so sollte die Stagnation der BRD-Ökonomie überwunden werden. Bereits mit der Süderweiterung in den 1980er Jahren - Aufnahme der drei ehemaligen Diktaturen Griechenland (1981), Portugal und Spanien (beide 1986) - war das ursprüngliche Ziel eines wirtschaftlich homogenen Großraums abgeschrieben, nicht erst mit den Osterweiterungen 2004 und 2007. Portugal und Griechenland wurden erst 1999 in das EWS II aufgenommen.

Anfang der 80er Jahre stieg die Arbeitslosigkeit in der BRD auf über zwei Millionen. Neben Sozialkürzungen, Ausdehnung von Leiharbeit und befristeten Arbeitsverträgen wurde in Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften durch "Arbeitszeitverkürzung" die Arbeitszeit flexibilisiert und die Arbeit verdichtet, was die Arbeitslosigkeit in der BRD, flankiert durch Frühverrentungen, aber relativ niedrig hielt. Trotzdem stagnierte die BRD-Ökonomie auch in den 80er Jahren. Nach einer kurzen Aufschwungphase Anfang der 90er Jahre ("Wiedervereinigungsboom") brachen die deutschen Exporte durch die Krise des EWS 1992 erneut ein; dadurch wurden auch die 90er Jahre zum "verlorenen Jahrzehnt" für das deutsche Kapital.

Durch den Zusammenbruch der Sowjetunion und des RGW kamen weitere Dynamiken ins Spiel: die rasche Osterweiterung der EU befestigte den Trend zu einem Wirtschaftsraum mit "Kern" und "Peripherie"; 1994 brachten Wolfgang Schäuble und Karl Lamers den Begriff "Kerneuropa" ins Spiel (darunter sind im Moment die Staaten zu verstehen, die zur Eurozone gehören, das Schengener Abkommen unterschrieben haben und in der NATO sind).

Erst die Einführung des Euro 1999/2002 führte auf der Basis noch weiter flexibilisierter Arbeitszeiten und eines stark gewachsenen Niedriglohnsektors zu einem gewaltigen take-off deutschen Exportindustrie, gefördert von den Hartz-Gesetzen des Schröder-Regimes.(1) Gerade diese ökonomische Schieflage der EU hat zu einer beinahe zehnjährigen Blüte des Euroraums beigetragen.


Die institutionelle Entwicklung seit den 90er Jahren...

1992 wurde im Vertrag von Maastricht die Europäische Union (EU) gegründet. Die EWG wurde 1993 in Europäische Gemeinschaft (EG) umbenannt, und am 1. Dezember 2009 mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon aufgelöst. 1995 traten Schweden, Finnland und Österreich in die EU ein. Auf der Grundlage der im Maastricht-Vertrag festgelegten Konvergenzkriterien (Inflation, Haushalt, Wechselkurs, Zinsen) und des Euro-Stabilitätspakts (Haushaltsdisziplin, Verschuldung)(2) wurde der Euro - nicht in alle EU-Ländern! - als gemeinsame Währung eingeführt: 1999 für die Zentral- und Geschäftsbanken, 2002 als Bargeld.

Am 1. Mai 2004 wurden weitere zehn Staaten in die EU aufgenommen, Malta, Zypern, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, Slowenien, Slowakei und Ungarn; am 1. Januar 2007 als 26. und 27. Mitgliedstaat Rumänien und Bulgarien. Diese 27 EU-Staaten haben insgesamt rund 500 Millionen Einwohner. Der Europäische Binnenmarkt ist der größte gemeinsame Markt der Welt, das BIP der EU wird für 2011 auf 17.452 Milliarden Dollar geschätzt, das der vier Bric-Länder zusammen auf 12.536 Milliarden Dollar, das der USA liegt dazwischen.

Aktuell gibt es fünf Beitrittskandidaten zur EU: Kroatien, die Türkei, Mazedonien, Island und Montenegro. Albanien und Serbien haben Beitrittsanträge gestellt, sind aber noch nicht als Beitrittskandidaten anerkannt (die Verhaftung von Mladic hat kurzfristig dazu geführt, dass Serbien nun Kandidat wird - das zeigt die große Bedeutung politischer Motive; fast im gleichen Zug rückt Kroatien auf die Pole position und wird wohl das 28. Mitgliedsland werden). Norwegen und Liechtenstein sind wirtschaftlich, aber nicht politisch integriert.

Eurozone

Mit der Aufnahme Estlands am 1. Januar 2011 bilden nun 17 Staaten innerhalb der EU die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion, die sogenannte Eurozone: Belgien, BRD, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Irland, Italien, Luxemburg, Malta, Niederlande, Österreich, Portugal, Slowakei, Slowenien, Spanien, Zypern. Sie koordinieren ihre Wirtschafts- und Finanzpolitik in der Eurogruppe, in der sich ihre Finanzminister treffen. Die Sitzungen der Gruppe sind informell und finden in der Regel am Vortag des Rats für Wirtschaft und Finanzen (Ecofin-Rat) statt. Der Ecofin-Rat selber ist eines der mächtigsten Entscheidungsgremien der EU und tagt einmal im Monat.

Die Krise wurde benutzt, um durch weitete bürokratische Mechanismen die bisherigen wirtschaftspolitischen Strategien zu verschärfen. Neue Institutionen wie die EFSF (Europäische Finanzstabilisierungsfazilität - European Financial Stability Facility), eine Art Zweckgesellschaft für den Rettungsfonds (Chef Klaus Regling) und der EFSM (European Financial Stabilisation Mechanism) wurden eingesetzt. Bereits im März 2010 wurde eine Task Force beim Europäischen Rat beschlossen; diese tagt seither unter Ausschluss der Öffentlichkeit und bringt die europäischen Finanzminister auf Linie. Herman van Rompuy, der Vorsitzende des Europäischen Rats, hat sieh damit eine Konstruktion geschaffen, die ihn zum Vorsitzenden des Ecofin macht. Der EU-Gipfel im Dezember 2010 hat den ESM (Europäischen Stabilitätsmechanismus) beschlossen, der 2013 den EFSF ablösen soll. Am 2. Juni 2011 schlug der scheidende EZB-Präsident Trichet in seiner Rede zur Verleihung des Karlspreis ein europäisches Finanzministerium vor. Solche Pläne werden in Wirklichkeit schon seit längerem vorbereitet. Anfang 2011 haben neu errichtete europäische Aufsichtsbehörden ihre Arbeit aufgenommen, und ein Europäischer Ausschuss für Systemrisiken wurde errichtet. Wiederum soll die Zuständigkeit nicht bei der Europäischen Kommission liegen, sondern bei ihrer Generaldirektion und dem Kommissar für Wirtschafts- und Finanzfragen. Diesen bevorstehenden weiteren Machtzuwachs der europäischen Bürokratie nannte der Präsident der Europäischen Kommission, Barroso, in einer Rede im Juni 2010 triumphierend eine "stille Revolution". Beim EU-Gipfel am 24. Juni sollen nun Nägel mit Köpfen gemacht und ein Paket mit Beschlüssen zur economic-governance verabschiedet werden. (more to come...)


Die EU - der "unsichtbare Fürst"

An der EU werden immer wieder zwei Aspekte kritisiert: gewählte Parlamente seien durch nicht gewählte Institutionen entmachtet worden; der Waren- und Kapitalverkehr sei liberalisiert worden, die Bewegungsfreiheit der ArbeiterInnen sei viel später - wenn überhaupt! - gekommen. Diese beiden Punkte sind keine zu korrigierenden "Fehler" oder "Probleme der Bürokratie" - sie sind so gewollt und konstitutiv.

Die Europäische Währungsunion sollte die Starrheit der Löhne nach unten durchbrechen, in EU-Sprech: "die Arbeitsmärkte zum Funktionieren" bringen, deshalb entscheidet der "Fürst"(3) über die Geldpolitik, die einzelnen Nationalstaaten müssen konkurrenzfähige Arbeitsmärkte bereitstellen, das beißt dafür sorgen, dass die ArbeiterInnen die Konvergenzkosten tragen. Padoa-Schioppa herrsche der "kollektive Fürst" ohne zu "regieren", die Währungsunion reduziere "Regierung" auf "Verwaltung" ("government to governance"). Die wirtschaftspolitischen Entscheidungen werden von Bürokratien gefasst; umsetzen müssen sie die nationalen Parlamente, die keinen Einfluss auf die Entscheidungen haben. Die EZB ist eher wie ein Gerichtshof und nicht wie ein Instrument der Politik verfasst. Die Finanzpolitik ist im Zwischenraum zwischen den Nationalstaaten und der EU angesiedelt, um die Regierungen daran zu hindern, soziale Probleme mit steigenden Ausgaben befrieden zu wollen.

Die Maastricht-Verträge setzen die nationalen Arbeitsmärkte und Sozialpolitiken in ein Wettbewerbsverhältnis. Die Konvergenzkriterien und der Euro-Stabilizätspakt sind darauf gerichtet, eine gewaltige Umverteilung von der Arbeiterklasse zum Kapital durchzuführen. Die Hauptaufgabe der EZB ist das Bekämpfen der Inflation. Dazu äußerte sich ihr derzeitiger Chef Trichet sehr offen im Gespräch mit der ZEIT Mitte Februar 2011: Eine Zentralbank könne nichts dagegen machen, dass Lebensmittel, Heizung, Strom und Benzin teurer werden, aber die EZB könne und werde mit ihrer Zinspolitik dafür sorgen, "dass es nicht zu Zweitrundeneffekten kommt". Das ist ein anderer Ausdruck für Lohnerhöhungen.


Warum kam es 1992 zur Krise im EWS?

Um zu verstehen, was in den letzten 20 Jahren passiert ist, und um heute neue Orientierung zu finden, müssen wir uns nochmal die Phase zwischen 1988 und 1992 angucken. Auch die Gegenseite diskutiert seit Monaten sehr heftig über drohende historische Parallelen zur EWS-Krise 1992. Damals hatte die Bundesbank unter Schlesinger (den Tietmeyer 1993 ablöste) die Leitzinsen immer weiter erhöht - selbst dann noch, als der konjunkturelle Aufschwung in Rezession überging. Die D-Mark wertete dadurch immer stärker auf; andere europäische Währungen wurden zum Spekulationsobjekt. Im Herbst 1992 mussten nacheinander die Lira, das britische Pfund, die spanische Peseta und der portugiesische Escudo abwerten, im Februar 1993 schließlich das irische Pfund. Im August 1993 wurde die ursprüngliche Bandbreite, innerhalb derer die Währungen zueinander schwanken durften, von 2,25 auf 15 Prozent erhöht; damit war das EWS faktisch außer Kraft gesetzt. Die deutschen Exporte stürzten ab, allein von 1992 auf 1993 um gut sieben Prozent - trotz Aufschwung in den USA. Auch die nächsten beiden Jahre blieben sie um elf Prozent hinter der globalen Importnachfrage zurück. Die deutsche Leistungsbilanz blieb von 1992 bis 2000 negativ.

Die Bundesbank fuhr diesen Kurs

Die ganzen 80er Jahre über war die BRD-Wirtschaft sehr langsam gewachsen; 1988 bis 1991 hingegen wuchs sie sehr stark. 1988/89 hatten wir in der Wildcat Hoffnungen auf eine neue Kampfwelle (Krankenschwesternbewegung, in vielen Betrieben wurden Nachschlagsforderungen durchgesetzt, wilder Streik sogar in Halle 54 bei VW, der lange Erzieherinnenstreik in Westberlin, Lohnforderung der ÖTV 1991: 10 Prozent; bereits 1990 Demos von Charité-Beschäftigten für gleiche Löhne in Ost und West; usw.). Als im Wiedervereinigungsboom Löhne und soziale Aspirationen massiv anstiegen, erhöhte die Bundesbank 1992 massiv die Zinsen. Steigende Löhne und hohe Binnennachfrage würden die deutsche Exportstrategie aufs Spiel setzen; höhere Zinsen sollten die Inflation eindämmen und die Konkurrenzfähigkeit nach außen durch eine erzwungene Umstrukturierung wieder herstellen. Damit versenkte die Bundesbank wissentlich das EWS; Klassenkampf hat Vorrang vor internationalen Verträgen.

Im übrigen wurde auch die deutsche Wiedervereinigung als Währungsunion gestartet. Mit einem viel zu hohen Umtauschkurs für die Ost-Mark ruinierte man die Wirtschaft der ehemaligen DDR in kürzester Zeit und löste eine strukturelle Arbeitslosigkeit aus, die als industrielle Reservearmee noch viele Jahre lang die Löhne und Arbeitsbedingungen in der BRD absenkte. Historisches Erfahrungswissen, das die Bundesbank in die Konstruktion der Europäischen Währungsunion einbrachte.

... um die strukturelle Arbeitslosigkeit der DDR in Angriff auf die Masse umzumünzen

Erst mit der Einführung des Euro und mit der Deregulierung des Arbeitsmarkts in der BRD kehrte die Exportstrategie des deutschen Kapitalismus in die Erfolgsspur zurück. 2001 erreichte die BRD zum erstenmal wieder einen Leistungsbilanzüberschuss, der in den folgenden Jahren gewaltig anwuchs, denn der Außenhandelsüberschuss stieg von minus 17 Milliarden Euro im Jahr 2000 auf plus 198 Milliarden 2007.


Exkurs: Modell Deutschland

Zwischen der ersten und der zweiten "Ölkrise" war in der BRD eine Kombination aus Neomerkantilismus, starker Währung und Ausdifferenzierung der Klasse entstanden, das die SPD-Regierung unter Schmidt als "Modell Deutschland" propagierte. Auf die starken Lohnerhöhungen Anfang der 70er Jahre reagierte die Bundesbank mit wachstumsbremsenden Maßnahmen, die einseitig auf Preisstabilität zielten und die inländische Nachfrage bremsten. Die Gewerkschaften trugen diese Exportorientierung mit (Produktivitätssteigerung bei "maßvollen Lohnzuwächsen"). Somit blieben die Lohnstückkosten stabil. Sozial funktionierte dieses "Modell Deutschland" darüber, dass die Kernbelegschaften abgesichert wurden, während das Niveau der Ränder abgesenkt wurde. Von den Kohlregierungen bis Rot-Grün wurde diese Tendenz immer weiter verstärkt, Leiharbeit entgrenzt, die Steuern für Unternehmer gesenkt, Staatsausgaben und Sozialleistungen gekürzt. In der jetzigen Krise haben die Merkel-Regierungen und die Unternehmer diesen Kurs nochmals verschärft.

Seit dem Krisenangriff zu Beginn der 90er Jahre verschieben sich die Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen insgesamt. Die Lohnquote nimmt seit 1993 beständig ab, die Lohnsumme verteilt sich immer ungleicher ("Lohnspreizung"). Zunächst erklärte sich der Rückgang der Lohnquote hauptsächlich mit der Zunahme der Teilzeitarbeit, aber seit 2003 sinken auch die realen Stundenlöhne. Das hängt großteils mit der Ausweitung der sogenannten "atypischen Beschäftigungsverhältnisse" zusammen. Der Prozess lässt sich ganz gut in einem Satz zusammenfassen: "Zwischen 1998 und 2008 ist die Zahl der atypisch Beschäftigten um 2,4 Millionen Personen gestiegen, während die Normalarbeitsverhältnisse um 0,8 Mio. zurückgegangen sind." (Logeay / Weiß) Aktuell geht man von 7,6 Millionen "atypisch Beschäftigten" aus, das ist ein Viertel der gesamten ArbeitnehmerInnen. Im Durchschnitt sind die Löhne bei Minijobs und in Leiharbeit fast um die Hälfte niedriger als in "Normalarbeitsverhältnissen". Diese Lohnunterschiede "bleiben auch dann noch bestehen, wenn der Erklärungsbeitrag der üblichen sozialen, demographischen und ökonomischen Merkmale (Art der Tätigkeit, Betriebsgröße, Branche, Alter, Geschlecht, Bildungsniveau, Berufserfahrung, Region) in den Untersuchungen berücksichtigt wird." (ebenda)

Das deutsche Exportmodell

Der Anpassungsdruck der EU auf die Arbeitsmärkte führte zu einem race to the bottom in bezug auf Flexibilisierung, Löhne senken und Ausweitung der "atypischen Beschäftigungsverhältnisse". Die Arbeiterklasse hat dabei überall an Boden verloren - aber das Rennen hat die BRD gemacht: hier wurden die ArbeiterInnen am stärksten gedrückt. In Vollzeitstellen gerechnet fiel die Beschäftigung in der BRD von 1996 bis 2006 um 1,36 Millionen. Von 2000 bis 2008 wuchs die Arbeitsproduktivität um 35 Prozent, während die Löhne nur halb so schnell wuchsen wie in der EU. Drei Gründe waren dafür ausschlaggebend. Erstens die Voraussetzung: Das starke Abbremsen der Bundesbank 1993 führte zu hoher Arbeitslosigkeit im Osten, die als industrielle Reservearmee wirkte. Zweitens der Euro: Die mit ihm verbundenen niedrigen Zinsen für alle Länder führten zu Booms in der europäischen Peripherie, deren Nutznießer vor allem die BRD-Konzerne waren. Gleichzeitig sorgte die EZB für seine "Stabilität", was ebenfalls der deutschen Industrie zugute kam. Deutsche Maschinenbau-Unternehmen müssen ihre Waren nicht über den Preis in den Markt drücken; ihre Beschäftigten können bei starker Währung günstig mit Billigtextilien und Billignahrungsmitteln versorgt werden; in Dollar bezahlte Rohstoffe wie Erdöl bleiben relativ billig. Drittens war aufgrund der deutschen Industriestruktur (Exportbranche!) das Absenkungsprogramm hier leichter durchzusetzen. Während die Löhne im Exportsektor weiter stiegen, wurde der Niedriglohnsektor sehr rasch ausgeweitet.

Ergänzt wurde das durch eine Wirtschaftspolitik, die für Deregulierung der Finanzbranche und umfangreiche Steuersenkungen für Unternehmer sorgte. Seit der Steuerreform des Schröder-Regimes ist Deutschland ein Steuerparadies für Kapitalisten, schon 2005 machten die Unternehmenssteuern nur noch 0,6 Prozent des BIP aus (EU-Durchschnitt 2,4 Prozent). Mit der Unternehmenssteuerreform von 2008 fielen die Steuersätze für Unternehmer unter 30 Prozent und damit hinter diejenigen aus Belgien, Frankreich, Italien oder Malta zurück. Durch diese beiden Steuerreformen entgingen dem Staat bis heute gut 100 Milliarden Euro.

Das soziale Ergebnis fasste eine OECD-Studie im Oktober 2008 knapp zusammen: "Seit dem Jahr 2000 haben in Deutschland Einkommensungleichheit und Armut stärker zugenommen als in jedem anderen OECD-Land. Der Anstieg zwischen 2000 und 2005 übertraf jenen in den gesamten vorherigen 15 Jahren (1985-2000)". Hartz IV wurde am 1. Januar 2005 eingeführt, es hat diese Entwicklung also nicht eingeleitet, sondern festgeschrieben und verschärft. Und es war politisch genau vor dem Hintergrund der mit der Exportstrategie zusammenhängenden Klassenspaltung durchsetzbar - die es wiederum flankierte.

Hartz IV und ein rasant wachsender Niedriglohnsektor, in dem inzwischen etwa ein Viertel aller Beschäftigten in der BRD schuftet, drückte die Lohnquote weiter nach unten (während die Gehälter der Festeingestellten stabil blieben oder leicht stiegen). Die Lohnstückkosten waren in der BRD 2005 niedriger als 1995. Von 2000 bis 2010 stiegen sie um sechs Prozent, in den Euroländern aber um 20 Prozent. In der hochproduktiven Industrie wuchsen sie in der BRD sogar nur um ein Prozent gegenüber zehn Prozent in der Euro-Zone.

Von der unterdurchschnittlichen Lohnentwicklung profitiert besonders der Exportsektor. Heute werden ein Drittel der Arbeitsstunden in der Exportindustrie geleistet. Der Anteil der Warenexporte am deutschen BIP hat sich seit 1993 mehr als verdoppelt! Die Industrie exportiert knapp die Hälfte ihrer Produkte. Nur hier steigen die Löhne so stark wie Inflation und Arbeitsproduktivität zusammen. Sie stehen mit 33,10 Euro pro Stunde (inkl. Abgaben) EUweit an dritter Stelle. Konkurrenzvorteil der deutschen Exportwirtschaft beruht auf dem enormen Einkommensgefälle zum Dienstleistungsgewerbe. Es beträgt 20 Prozent, weit höher als im Rest Europas. Dadurch hat die Industrie einen Kostenvorteil, weil sie Dienstleistungen billig einkaufen kann. Sie profitiert am stärksten vom Niedriglohnsektor.

Die Exportstrategie der BRD war eine effektive beggar-thy-neighbour Politik(4) gegenüber den meisten anderen EU-Ländern - auf der Grundlage, dass sie ihre ArbeiterInnen als erstes ausplünderte. Von Mitte der 90er Jahre bis 2008 wuchsen von allen EU-Ländern Spanien (3,8 Prozent), Griechenland (3,9 Prozent) und Irland (6,8 Prozent) am schnellsten. Auch Portugals BIP wuchs mit durchschnittlich 2 Prozent jährlich in dieser Phase schneller als die BRD (1,8 Prozent). Vor allem durch diese wachsenden Märkte kam die BRD-Ökonomie aus der Stagnation der 90er Jahre. 2007 machten die Exporte der BRD nach Portugal, Irland, Griechenland und Spanien mehr als 17 Prozent des deutschen Exportüberschusses aus; einschließlich Italien sogar 27,5 Prozent - für die ganze EU 63,4 Prozent. Den dauernden Handelsbilanzüberschüssen der BRD entsprachen ständige Handelsbilanzdefizite der peripheren Länder. Deren Wachstum war aber nicht nur an Importe gekoppelt, es war zudem kreditfinanziert. Und nicht nur die Waren, sondern auch die Kredite kamen größtenteils von deutschen Unternehmen und deutschen Banken.

Ihre Überschüsse im innereuropäischen Handel waren die Voraussetzung für den Kapitalexport der BRD nach China. Geopolitisch positioniert sich die BRD zwischen Osteuropa (wohin sie viele Produktionskapazitäten ausgelagert hat) und dem Versuch, den austrocknenden Binnenmarkt durch den Warenexport an die Mittelschichten der Schwellenländer zu ersetzen. Der Vorteil des BRD-Kapitals ist dabei, dass die deutsche Industriestruktur im Gegensatz zu Italien, Frankreich und Großbritannien konsistent geblieben ist, so dass sie auslagern können und trotzdem die Produktivitätsgewinne kassieren.


Neuzusammensetzung der Klasse in der Krise

Von Mai 2010 auf Mai 2011 stieg der Dax um 53 Prozent - das war sicherlich nicht durch reale Wirtschaftsdaten gedeckt, macht aber "die Stimmung" in der BRD-Wirtschaft deutlich. Der bisherige Verlauf der Krise für die Reichen, die Unternehmer und die Banken war eindeutig Vförmig (der Nettogewinn nach Steuern der 30 Dax-Konzerne lag 2010 bei 63 Milliarden Euro, davon wurden 25 Milliarden als Dividende ausgeschüttet); für den Rest ist die Krise Lförmig (immer mehr Leiharbeit, hohe Inflation bei den Basislebensmitteln, Finanzkrise der Kommunen usw.). Die Tarifabschlüsse lagen 2010 im Durchschnitt bei 0,9 Prozent, die offizielle Inflation bei zwei Prozent.

Die registrierte Arbeitslosigkeit lag in der BRD seit der Krise zu Beginn der 80er Jahre immer über zwei Millionen (mit Ausnahme von 1990; s.o. "Wiedervereinigungsboom"). Nun ist die offiziell registrierte Arbeitslosigkeit unter 3 Millionen zurückgegangen; das geht zum einen auf die Zunahme von Teilzeit- und Minijobs zurück (das Arbeitsvolumen ist einfach auf mehr Personen verteilt worden), zum anderen weil die offizielle Arbeitslosenstatistik immer weiter umgestellt worden ist und nur noch einen Teil der Arbeitslosen erfasst - seriöse Berechnungen gehen aktuell von knapp fünf Millionen Arbeitslosen aus ("Beschäftigungslücke"). Rein rechnerisch kommen zehn Arbeitslose auf eine offene, sozialversicherungspflichtige Stelle. Die BRD hat weltweit die meisten Langzeitarbeitslosen (laut ILO-Studie; zitiert in der Welt vom 21.3.2011): von den offiziell drei Millionen Arbeitslosen sind 1,4 Millionen ein Jahr oder länger arbeitslos; mehr als 900.000 sogar mehr als zwei Jahre.

In der Krise wurden Industriearbeitsplätze abgebaut und Jobs im "Dienstleistungsbereich" aufgebaut; das spiegelt teilweise die Umwandlung von festen Stellen in Leiharbeitsjobs wider. Die Leibarbeit hat stark zugenommen und lag im November 2010 bei 900.000 Leuten, ein Höchststand in der Geschichte der BRD. Ein vollzeitbeschäftigter Leiharbeiter verdient in Westdeutschland 52 Prozent vom Durchschnitt aller Vollzeitbeschäftigten. Knapp 100.000 Leiharbeiterlnnen stocken ihren Lohn mit Hartz IV auf Die Zahl der Aufstocker insgesamt ist von 2005 bis 2009 um knapp 400.000 auf fast 1,3 Millionen Menschen gestiegen, darunter 390.000 mit Vollzeitjob.

Trotzdem müssen wir heute feststellen, dass der Kern des "Modell Deutschland", die enge Kooperation zwischen Kapital, Gewerkschaften und Staat zugunsten der Exportwirtschaft, in der Krise sogar noch gestärkt wurde. 2009 arbeiteten 1,5 Millionen Menschen kurz und ungefähr 1,2 Millionen Arbeitsplätze wurden durch Arbeitszeitverkürzungen erhalten. Entlassen wurden vor allem die LeiharbeiterInnen. Merkel kümmerte sich nicht nur persönlich um die Opel-Arbeiter, sie verteidigte auch - gegen die Europäische Kommission - den VW-Konzern gegen den Versuch, ihn von staatlichem und gewerkschaftlichem Einfluss zu "befreien". Aufgrund des staatlichen Anteils scheiterte die Strategie Porsches, die Übernahme von VW durch den Cash-Flow von VW zu finanzieren. Stattdessen übernahm VW Porsche, und der VW-Betriebsrat behielt seine starke Stellung. Seit Ende 2009 boomt VW - die Zusammenarbeit scheint sich zu bewähren. Seit dem Aufschwung werden Kernbelegschaften (z. B. bei Siemens) für ihre Loyalität mit Zusatzzahlungen belohnt - Leiharbeiterlnnen und ArbeiterInnen außerhalb der Exportindustrie geben leer aus, sozialstaatliche Leistungen werden weiter gekürzt.

Aber nicht nur die Kurzarbeit spaltete die Klasse in die "Geretteten" und die Leiharbeiter/Arbeitslosen, auch die Garantie aller Spareinlagen durch Merkel und Steinbrück im Oktober 2008 half denen, die was "gespart" haben, während Hartz IV-EmpfängerInnen gar nicht mal sparen dürfen! Das gleiche galt für die Abwrackprämie.

Dass diese Klassenspaltung politisch so gut funktioniert, hängt am vorläufigen Erfolg der Exportstrategie.


Der Boom in der BRD

2010 wuchs die Weltwirtschaft real um fünf Prozent, das BIP der BRD um 3,6 Prozent. Im Sommer 2011 wird das BIP von vor der Krise wieder erreicht sein. Allerdings hatten Regierung und Unternehmer hier mehr "Glück als System" (FTD). Denn die etwa 60 Milliarden Euro an Konjunkturprogrammen waren zwar sozial sehr wirkungsvoll (Kurzarbeit; das Handwerk päppeln; Abwrackprämie), quantitativ allerdings bei weitem nicht so bedeutend wie die Konjunkturprogramme der USA und vor allem von China, die 7 bzw. 14 Prozent vom jeweiligen BIP ausgaben (die BRD gerademal 2,5). Es waren deren staatliche Programme, die die BRD aus der Krise holten. Aktuelle Untersuchungen zeigen, dass die USA bereits so weitgehend de-industrialisiert sind, dass Konjunkturprogramme ins Ausland abfließen. Noch mehr kam das chinesische Konjunkturprogramm der deutschen Wirtschaft zugute: 2010 stiegen die deutschen Exporte nach China um 40 Prozent - obwohl sie auch in den Krisenjahren zuvor fast nicht eingebrochen waren. Der Boom der deutschen Autoindustrie hing 2010 fast ausschließlich an den Bric-Staaten, wiederum vor allem an China - während in Europa die Neuzulassungen um 5,1 Prozent zurückgingen.

Der Aufschwung der BRD hängt ausschließlich am Export, während die Binnenkonjunktur lahmt. Er ist nicht "selbsttragend". Das (kalenderbereinigte) Wachstum um 3,5 Prozent im Jahr 2010 schlüsselt sich nach vorläufigen Angaben des Statistischen Bundesamts so auf: der Außenhandel trug 1,1 Prozentpunkte bei, der Lagerzyklus 0,8, der staatliche Konsum 0,4, Ausrüstungsinvestitionen und privater Konsum aber jeweils nur 0,3 Prozentpunkte. Lagerzyklus und Export machten also über die Hälfte aus - aber Lageraufbau geht nur einmal, und zweitens herrscht durch die Bank die Einschätzung, dass vom Außenhandel nur noch geringe Wachstumseffekte ausgehen werden.

Auch 2010 gingen 71 Prozent der deutschen Exporte in die EU, 40 Prozent in die Eurozone. Aber die Ausfuhren in das außereuropäische Ausland, vor allem nach China, Brasilien und Indien, erhöhten sich um 26 Prozent, während die Exporte in die von der Schuldenkrise belasteten Euro-Länder nur um 12,7 Prozent im Vergleich zum Vorjahr zunahmen. Im März 2011 brachen die deutschen Exporte alle Rekorde und erreichten fast 100 Milliarden Euro, der höchste Wert in der seit 1950 geführten Statistik. Im April exportierte die BRD mit Waren im Wert von 84,3 Milliarden Euro spürbar weniger. Inzwischen lässt sich feststellen, dass die Auftragseingänge in den Schlüsselbranchen zurückgehen.


Die sogenannte PIGS-Krise hat verschiedene Gesichter, aber strukturell dieselben Ursachen.

Im Boom hatten die Ungleichgewichte für die gesamte EU "funktioniert", weil die Peripherieländer stark wachsen konnten. In der Krise führten die EU-Mechanismen (und direkter politischer Druck) dazu, dass jedes Land seine insolventen Banken retten musste. Dadurch explodierte die Staatsverschuldung der betroffenen Länder. Als Griechenland im November 2009 in Zahlungsschwierigkeiten geriet, senkten die Ratingagenturen ihre Noten für die PIGS(5), die Zinsen auf die Staatsanleihen der betroffenen Länder stiegen massiv, die "Eurokrise" war da. Sobald die Refinanzierungskosten der Staatsschulden so hoch werden, dass die Staaten ihre Regierungstätigkeit nicht mehr finanzieren können, müssen sie sich der BRD (und dem IWF) unterwerfen - bzw. "unter den Eurorettungsschirm schlüpfen", wie das offiziell genannt wird.

Obwohl die BRD selber jahrelang die Maastricht-Kriterien verletzt hat, benutzt die Merkel-Regierung seither die Krise, um historisch einmalige Sparprogramme in ganz Europa durchzudrücken; nach innen hat die Große Koalition sogar eine Schuldenbremse ins Grundgesetz geschrieben.

Der Euro ist für die Peripherieländer zu einem modernen Goldstandard geworden. Sie müssen ihre Schulden in einer Währung bezahlen, die auch außerhalb ihrer Landesgrenzen über Kaufkraft verfügt. (Um den New Deal überhaupt finanzieren zu können, hatte Roosevelt 1933 die Goldbindung des Dollar gelöst und ihn stark abgewertet. Der Währungsexperte Eichengreen sagt in seinem Buch über die Geldpolitik in den 20er und 30 Jahren, Golden Fetters, dass Wahlrecht für Arbeiter und Goldstandard nicht mehr zusammen passten, weil die ArbeiterInnen es nicht mehr hinnahmen, so wie zuvor durch hohe Arbeitslosigkeit die Anpassungskosten des Goldstandards zu tragen. Das ist die historische Parallele zu den aktuellen Kämpfen in Südeuropa.)

Strukturell stecken die Südländer (PIGS) in einer "Sandwich"-Position zwischen dem Produktivitätsvorsprung der BRD und den niedrigen Löhnen der asiatischen Länder. Spanien, Portugal, Italien, Griechenland (übrigens auch Frankreich!) nahmen die deutschen Exportüberschüsse auf; während ihre eigenen Exporte von chinesischen Waren niederkonkurriert (und ihre Binnenmärkte davon überflutet) wurden. Sie haben deshalb Defizitkonjunkturen mithilfe des niedrigen Zinsniveaus in der Eurozone ausgebildet. Die Schulden der privaten Verbraucher und der nichtfinanziellen Firmen sind in der Eurozone seit 1999 dreimal so schnell wie das nominale BIP gestiegen (in den USA "nur" 2,4mal so schnell). Private Schulden werden durch die Maastricht-Kriterien allerdings nicht erfasst.

Die Vorgaben der EU sind: Unternehmenssteuern senken und Staatsausgaben abbauen. Allein zwischen 1997 und 2007 sanken die Unternehmenssteuersätze in den alten EU-15-Ländern von gut 38 auf knapp 29 Prozent. Die Nationen, die in diesem Zeitraum Mitglied der EU wurden, reduzierten noch effektiver, durchschnittlich von 32 auf 19 Prozent. In den letzten Monaten wurde des öfteren die Tatsache skandalisiert, dass Irland rekordniedrige Unternehmenssteuern von 12,5 Prozent hat und gleichzeitig den Rettungsfonds der EU in Anspruch nimmt - dabei wurde in der Regel vergessen darauf hinzuweisen, dass sie in der BRD auch nur bei 15 Prozent liegen. Jahrelang wurden aber gerade die Länder, die nun als "pigs" tituliert werden, als Musterschüler hingestellt, weil sie es schafften, gleichzeitig ihr Staatsdefizit stark zu reduzieren. Die Schuldenquote der Eurozone fiel von 72 Prozent 1999 auf 66 Prozent im Jahr 2007. Irland und Spanien reduzierten im selben Zeitraum ihre Schuldenquote um 23,4 bzw. 26,2 Prozent - während die der BRD um 4,1 Prozent anwuchs. Diese beiden Länder sind nicht durch übermäßiges Schuldenmachen in die Krise geraten, sondern weil ihr Wachstum an einer Immobilien-/Bankenblase hing. Das Platzen dieser Blase in Kombination mit der globalen Krise hätte ihnen nur die Möglichkeit des Schuldenschnitts und der Abwertung gelassen. Beide Möglichkeiten verstellt ihnen die EU. Deshalb stieg die Schuldenquote von 2007 bis 2010 in Irland von 25 auf 84,1 Prozent, in Spanien von 36,1 auf 97,4 Prozent. Das ist prozentual der stärkste Anstieg; er liegt noch über dem in Großbritannien (von 44,5 auf 77,8 Prozent) und der USA (von 62,1 auf 77,8 Prozent), wo ebenfalls Immobilienblasen geplatzt waren. Insgesamt hat sich das Staatsdefizit der Eurozonenländer seit 2007 versiebenfacht.

Irland wurde von den USA, der EU und dem IWF gezwungen, seine Banken zu retten - die irische Regierung hatte sie ursprünglich pleite gehen lassen wollen. Um nur die Angle Irish über Wasser zu halten, mussten 25 Milliarden Euro, rund elf Prozent des irischen BIP, versenkt werden. Allerdings waren die drei größten irischen Banken bankrott diese hatten zwei Drittel ihrer Darlehen an irische Hotels, Büros und Einkaufszentren vergeben, dazu 15 Prozent für den Kauf irischer Grundstücke; diese langfristigen Kredite hatten sie am Finanzmarkt mit kurzfristigen Anleihen finanziert, im Sommer 2008 beliefen sich die Außenstände allein bei ihren 20 größten irischen Kunden auf 11,4 Milliarden Euro.

Zwischen 1996 und 2006 hatten sich die Immobilienpreise vervierfacht. Vom Sommer 2008 bis Ende 2010 fielen sie um 50-60 Prozent. Der Boden ist noch nicht erreicht, zudem stehen etwa 350.000 Gebäude leer... Die irischen Banken wären auch ohne Lehman kollabiert. Irland war bereits 2007 stark von der Krise gebeutelt. Die harten Sparprogramme, die die Regierung damals auflegte, galten bis Sommer 2010 noch als vorbildlich - bis Irland im Herbst 2010 ebenfalls unter die Räder geriet, und im November - das Haushaltsdefizit lag inzwischen bei 32 Prozent! - "unter den Rettungsschirm schlüpfen" musste.

Auch in Spanien waren die Immobilienpreise noch schneller als in den USA gestiegen, auch hier war die Immobilienblase in Relation zum BIP größer als die in den USA. Nach deren Platzen stehen über 1,5 Millionen Wohnungen leer, darunter ganze Geisterstädte. Banken hatten an Immobilien-Entwickler geschätzte 325 Milliarden Euro Kredite vergeben, abgesichert mit Immobilien, die noch immer an Wert verlieren. Typisch für eine Immobilienblase ist, dass die Staatsschulden zunächst sehr niedrig sind, die Privatschulden sehr hoch; Spanien hatte bereits Ende 2009 eine Gesamtverschuldung von 390 Prozent des BIP.

In Portugal begann schon Anfang 2007 eine industrielle Krise. Nach dem Ende der Militärdiktatur Mitte der 70er Jahre hatten multinationale Konzerne hier Textil- und Schuhfabriken aufgebaut, die vor allem auf die niedrigen Löhne in Portugal setzten. Am Ende waren aber Monatslöhne von 600 Euro eben viermal so hoch wie die in Vietnam, Bangladeseh oder China. "Portugal erwies sich auf dem Zug der Billiglohnnomaden nur als Zwischenstation" kommentierte der Tagesspiegel am 22. November 2010.

Griechenland ist ein Spezialfall: Es wurde vor allem aus geostrategischen Erwägungen 1981 in die EG geholt, war aus dem EWS rausgeflogen, und wurde trotzdem kurz danach in den Euro aufgenommen. Alle wussten, dass die Zahlen nicht stimmten, mit denen Griechenland die "Konvergenzkriterien" erfüllte. Zur enormen Staatsverschuldung haben mehrere Faktoren beigetragen. Griechenland ist mit elf Millionen EinwohnerInnen Europas größter Waffenimporteur. Bezeichnenderweise haben die französische und die deutsche Regierung zur Auflage für das erste "Rettungs"paket gemacht, dass Griechenland weitere deutsche U-Boote und französische Fregatten kauft. Das politische System funktioniert stark über Klientelbindung durch Jobs im Öffentlichen Dienst, dieser ist groß, kostspielig und unproduktiv. Korruption ist in Griechenland weit verbreitet, auch hier sitzen deutsche Konzerne in der ersten Reihe. Siemens soll für Aufträge zur Digitalisierung des griechischen Telefonnetzes, Kommunikationssysteme fürs griechische Militär und das Überwachungssystem für die Olympischen Spiele rund 1,3 Milliarden Euro an "ranghohe Politiker" gezahlt haben. Dazu kommt eine große Schattenwirtschaft, sie wird auf 25 bis 40 Prozent vom BIP geschätzt. Das ginge aber alles als business us usual durch. Der Stachel im Fleisch der EU-Hardliner ist, dass Griechenland eine Art "Keynesianismus in einer nicht-keynesianischen Welt" durchgezogen hat und neben der ganzen Korruption eben auch Vollbeschäftigung und steigende Löhne finanzierte. Deshalb wird in der öffentlichen Debatte Griechenland in den Fokus gerückt.

Teufelskreis

Auch in der "Eurokrise" wird - wie nach dem Lehman-Kollaps im Herbst 2008 - den Banken unbegrenzt Liquidität zur Verfügung gestellt und die Sparpolitik verschärft. Das ist nicht der Versuch, die Probleme zu lösen, sondern ähnlich wie in der Schuldenkrise der 80er Jahre in Lateinamerika soll Zeit gewonnen werden. Zeit, in der u.a. die Banken ihre betroffenen Papiere an steuerfinanzierte Institutionen weiterreichen können (die deutschen Banken und Versicherungen haben zwischen Frühjahr 2010 und Frühjahr 2011 etwa die Hälfte ihrer griechischen Anlagen abgestoßen).

Die Sparprogramme verschärfen die ökonomischen Probleme, und die Zinssätze, die die Länder für die "Rettungskredite" zahlen müssen, liegen auch mittel- und langfristig höher als ihr mögliches Wirtschaftswachstum. Hohe Zinsen und drastische Sparprogramme führen zu jahrelanger Deflation und Massenarbeitslosigkeit, ohne die Chance, aus den Schulden "herauszuwachsen". Die "Rettung" schiebt den Bankrott nur auf Der IWF fordert "Reformen, die den Arbeitsmarkt effektiver machen, sozialpolitische Leistungen, die einer Arbeitsaufnahme im Weg stehen," müssen abgeschafft, "die Lohnverhandlungen flexibilisiert und der Dienstleistungssektor weiter liberalisiert" werden.(6) Also Mehr vom Gleichen!

Die Krisenpolitik verschärft den Hauptgedanken der EU: die Starrheit der Löhne nach unten aufzuweichen; einen Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Lohnentwicklung (wieder) herzustellen, der in den 70er Jahren verloren gegangen war. Was früher über Wechselkurse ("externe Abwertung") ausgeglichen wurde, muss in der Eurozone durch "interne Abwertung" ausgeglichen werden, das heißt, Löhne, Renten und andere Sozialleistungen müssen sinken. Wenn die Arbeiterklasse nicht genügend "flexibilisiert" werden kann, führt das zu Arbeitslosigkeit und zum Emigrationszwang. Die Arbeitsmigration soll die unterschiedlichen Levels nach unten angleichen, "workers can move; wages can change" (Currie, Wirtschaftsprofessor an der London Business School). Dieser Mechanismus lässt sich aktuell auch an Irland beobachten: Bei etwas mehr als vier Millionen EinwohnerInnen und einer offiziellen Arbeitslosigkeit von 13,5 Prozent wanderten von April 2009 bis April 2010 65.300 IrInnen auf der Suche nach Arbeit ins Ausland ab, 2011 sollen es 100.000 werden, zu Beginn des Jahres lag die Arbeitslosigkeit nämlich schon bei 14,1 Prozent.


Griechenland raus aus dem Euro!?

"Nur mit neuen Krediten könnte in Griechenland ... der soziale Frieden gewahrt werden. ... Die Wirtschaftslage sei explosiv... Auch Brüssel scheint nicht mehr bereit zu sein, das griechische 'Faß ohne Boden' bedingungslos zu füllen."

"Die geliehenen Gelder treiben die ohnehin drückenden Auslandsschulden weiter in die Höhe. Kredite werden benötigt, um den beim Staat Beschäftigten überhaupt noch Löhne, Gehälter und Pensionen garantieren zu können."

"Griechenland taumelt auf den Abgrund zu. Streiks in der öffentlichen Wirtschaft drohen den Staat, der schon mit 150 Prozent des Bruttosozialprodukts verschuldet ist, in den Ruin zu treiben. ... Die von der Regierung angekündigte Verfolgung von Steuerhinterziehung, die die Einnahmen des Staates um schätzungsweise 40 Prozent anheben könnte, scheint nahezu aussichtslos." "Der sich am Rande des Bankrotts bewegende Staat kann sich keine weiteren Verluste durch Arbeitsniederlegungen leisten. Deshalb will die Regierung jetzt das Streikrecht ändern."


Klingt vertraut? Die Meldungen sind von 1990, der Reihe nach aus der FAZ vom 2.1., 26.3., 1.10. und 4.10. Von 1989 bis 1992 gingen Streikwellen durchs Land - gegen Privatisierungen, Lohnkürzungen und die allgemeine Anpassung Griechenlands an die bevorstehenden Maastricht-Kriterien der EU. Trotz dieser hohen Verschuldung, der Schattenwirtschaft, hoher Inflation, dauernder Abwertung, der Unfähigkeit des griechischen Staates, Steuern einzutreiben usw. wurde Griechenland 1999 mit einer erlaubten Währungsschwankung von 15 Prozent (!) in das 1996 geschaffene EWS II aufgenommen, das die Einführung des Euro vorbereiten sollte. Als dieser kam, war ein 10.000-Drachmen-Schein, 2001 die größte Banknote, gerade mal 30 Euro wert. Die mit dem Euro verbundenen niedrigen Zinsen führten zu einem kreditfinanzierten Wachstum. Die Kreditblase platzte aber in der globalen Krise. Im Juli 2009 wies der damalige EU-Kommissar für Finanz- und Währungsfragen Almunia die Finanzminister der Eurozone daraufhin, dass der Regierung Karamanlis das Staatsdefizit aus dem Ruder zu laufen droht. Offiziell wurde das von der EU unter den Teppich gekehrt. Aber etwa zur selben Zeit trafen sich der spätere Wahlsieger Papandreou und der damalige IWF-Chef Strauss-Kahn, also bereits vor den Wahlen im Herbst, um den Gang Griechenlands zum IWF vorzubereiten.

Nach den Wahlen wurden Schritt für Schritt immer krassere Zahlen veröffentlicht. Obwohl im Frühjahr 2010 schon klar war, dass eine kapitalismusimmanente Lösung nur aus einer Kombination von Finanzhilfen und Schuldenschnitt bestehen kann, wurden Anfang Mai Notkredite von 110 Milliarden zugesichert, und dann ein Jahr lang betont, Griechenland werde auf keinen Fall pleite gehen. Hysterisch wurde über "Transferunion" oder Austritt Griechenlands aus dem Euro debattiert. Mit "Transferunion" wird das ständige Nachschießen zur Aufrechterhaltung des Status quo bezeichnet, es ist ein politischer Kampfbegriff, weil er die Parallele zu den Sozialtransfers aufmacht: "die faulen Griechen sind die Hartzer Europas". In Wirklichkeit ist eine Rückkehr zur Drachme kaum machbar; wenn, dann müsste sie unangekündigt und über Nacht kommen. Sie ist in Griechenland völlig unpopulär (in Umfragen sind regelmäßig mehr als zwei Drittel dagegen), und sie wäre die krasseste Form des "Ausverkaufs" und eine historisch einmalige Vermögensumverteilung: Reiche Griechen, die große Eurobestände im Ausland haben, würden sich mit billig eingetauschten Drachmen "Notverkäufe" unter den Nagel reißen, das Auslandskapital würde sich die größten Brocken holen, zum Beispiel im Tourismussektor.

Aber auch der griechische Staat hängt weiterhin am Euro: durchschnittlich zahlt er 2011 etwas mehr als vier Prozent Zinsen für seine Schulden während griechische Staatsanleihen auf dem Sekundärmarkt zeitweise mit 25 Prozent gehandelt werden! Zu den aktuellen "Rettungs"konditionen bleibt die durchschnittliche Zinslast für den griechischen Staat noch bis 2016 bei etwa vier Prozent. Somit "verdienen" beide Seiten daran, denn die griechischen und europäischen Banken, die diese Staatsanleihen halten, zahl(t)en für die Gelder, die sie dafür bei der EZB aufnahmen, durchschnittlich weniger als ein Prozent Zinsen.

Eine Rückkehr zur Drachme würde zu weiteren Problemen führen: die Leute wissen, dass die Drachme stark abwerten würde und sieh soviel Geld wie möglich bei der Bank holen, um es weiterhin in Euro aufzubewahren. Zweitens lauteten die Staatsschulden weiterhin auf Euro, diese abzuzahlen, wäre völlig unmöglich - ein Austritt aus dem Euro wäre somit zwingend mit einer Abschreibung von mehr als 50 Prozent der Staatsschulden verknüpft. Das würde zum Kollaps der meisten griechischen Banken führen, sie halten fast ein Drittel der ausstehenden griechischen Staatsanleihen.

Im Januar 2011 drang an die Öffentlichkeit, dass die griechische Regierung selber einen Schuldenschnitt will. Nun verschob sieh die Debatte auf "ungeordnete Pleite" oder "sanfte Umschuldung". Die Schockwellen einer ungeordneten Pleite werden für gefährlicher als die der Lehman-Pleite im Herbst 2008 gehalten. Eine "sanfte Umschuldung" soll den "Default"-Fall verhindern, keine CDS-Versicherungen sollen fällig werden, die Ratingagenturen sollen die griechischen Staatsanleihen nicht weiter runterstufen usw. Mit anderen Worten: sie müsste dermaßen "sanft" sein, dass sie keins der Schuldenprobleme löst und nur noch einmal Zeit gewinnt. Am Ende wird so oder so eine Mischung aus massiven Kapitalspritzen (Bailout) und Umschuldung (Default) stehen.

Die Troika regiert

Um das "Rettungs"paket so weit wie möglich aus politischen Auseinandersetzungen rauszuhalten, war es der Bundesregierung im Frühjahr 2010 sehr wichtig, den IWF daran zu beteiligen. Damit war nicht nur "know how", sondern ein weiterer bürokratischer Mechanismus eingezogen. Zum Beispiel darf der IWF die nächste Tranche einer Kreditzusage jeweils nur dann auszahlen, wenn auf der Gegenseite die Finanzierung für die nächsten zwölf Monate steht. Somit wird ein regelmäßiger Druck vor jeder neuen Tranchenzuteilung erzeugt.

EU, IWF und EZB ziehen den "Anpassungsprozess" möglichst lange, um Druck auf Löhne und Renten und für weitere Privatisierungen aufzubauen. Ende April warnte der damalige Chefunterhändler Griechenlands bei der Euro-Einführung, Yannis Stournaras in der Süddeutschen Zeitung ganz offen vor den Konsequenzen eines Schuldenschnitts: Die griechischen Banken wären sofort bankrott, die Sozialversicherungen würden 15 Milliarden Euro verlieren, die sie in Staatsanleihen angelegt haben, ein Dominoeffekt drohe (Irland, Portugal...) vor allem aber hätte man kein Druckmittel mehr gegen die "Reformmüdigkeit"! Das Land müsse von der EZB, dem IWF und der EU weiter unter "Reformdruck" gesetzt werden. Sehr gut brachte es die Financial Times auf den Punkt: "Manche klagen, die bisherigen Maßnahmen hätten nur Zeit gekauft. Na und? Schließlich hat Griechenland im letzten Jahr viele Reformen durchgeboxt, was kaum passiert wäre, hätte man direkt das EU-Scheckheft gezückt." (FTD, 15.5.2011)

In ihrem Bericht vom Juni 2011 bescheinigte die "Troika" (EU-Kommission, EZB und IWF) Griechenland, das Staatsdefizit so stark gedrückt zu haben, wie es vor einem Jahr ausgehandelt worden war. Kein Industrieland hat seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs binnen eines Jahres härter gespart als Griechenland. Zugleich verkündete sie, Griechenland werde 2012 nicht an die Finanzmärkte zurückkehren können, deshalb könne die nächste Auszahlung nicht stattfinden. Wie passt das zusammen?

2009 war das griechische BIP um zwei Prozent geschrumpft, mit den harten Sparauflagen 2010 dann um weitere 4,5 Prozent. Somit sinken die Steuereinnahmen 2011 stärker, als es der Rettungsplan vorsah, im ersten Quartal 2011 lagen sie acht Prozent unter den Vorjahreseinnahmen (veranschlagt war nur ein Minus von drei Prozent). Die Zahl der erteilten Baugenehmigungen sank im Vergleich zum Vorjahr um mehr als 62 Prozent, der Verkauf von Neuwagen um 50 Prozent, usw. Die meisten Leute haben heute ein Drittel weniger Geld zur Verfügung als vor dem Ausbruch der Krise. Im Privatsektor sind ausbleibende Lohnzahlungen längst die Regel, im öffentlichen Dienst beträgt der Gehaltsrückstand durchschnittlich zwei Monate. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 16 Prozent. Vom Antrag auf bis zur Bewilligung vergehen durchschnittlich 18 Monate, in denen nur eine Abschlagszahlung geleistet wird. Die Energiepreise sind massiv angestiegen. In Folge dessen ist der Konsum massiv eingebrochen - und der macht in Griechenland 75 Prozent des BIP aus (zum Vergleich: in den USA 70, in der BRD 56 Prozent).

Das Rettungsprogramm der "Troika" hat die Situation massiv verschlechtert.

In der eigenen Schlinge?

Spätestens seit das "Geheimtreffen" am 6. Mai 2011 in Luxemburg bekannt wurde, bei dem Papandreou angeblich über den Austritt Griechenlands aus der Eurozone verhandeln wollte, hat der Countdown für die Umschuldung begonnen. Mitte Mai sagte der Euro-Gruppen-Chef Jean-Claude Juncker, die Schulden Griechenlands müssten "neu geordnet" werden. Selbst Klaus Regling, der Chef des EFSF, sprach nun erstmals öffentlich von der Möglichkeit eines Staatsbankrotts im Euroraum. "Es ist unabdingbar: Wenn eine Insolvenzsituation vorliegt, werden natürlich auch die privaten Gläubiger miteinbezogen." (auf einer Podiumsdiskussion am 13. Mai 2011 in München)

Da der IWF die nächste Tranche nicht auszahlte, drohte Zahlungsunfähigkeit Griechenlands innerhalb weniger Wochen, die "ungeordnete Pleite". Um diese zu verhindern, gab es zwei Optionen: Die EU übernimmt den IWF-Anteil. Das hätte die griechische Zahlungsunfähigkeit nur um drei Monate bis zur nächsten Tranche rausgeschoben. Trotzdem wollte die Bundesregierung diese Variante, weil dann keine Zustimmung der nationalen Parlamente nötig gewesen wäre. Sie hätte aber die Finanzmittel des EFSM bank run wegen der bereits verplanten Hilfen für Irland und Portugal aufgebraucht. Also blieb nur Variante zwei: ein neues "Rettungs" - bzw. "Anpassungs"-Programm muss her.

Bundesregierung, EU und EZB sind sich prinzipiell einig, mit einer Kombination aus "freiwilliger" Umschuldung und einem weiteren "Rettungspaket" nochmal ein, zwei Jahre Zeit zu gewinnen, in der Hoffnung, einen richtigen Schuldenschnitt in eine weniger dramatische Phase legen zu können. Trotzdem tobte von Mitte Mai bis Mitte Juni ein heftiger, auch öffentlicher, Kampf zwischen Bundesregierung, EZB und anderen europäischen Regierungen darüber, wie freiwillig die Abschreibung von Schulden sein müsse. Die Bundesregierung hat Probleme, die eigene Fraktion hinter sich zu bringen und im Bundestag eine Mehrheit zu bekommen. Schäuble forderte deshalb eine "sanfte Umschuldung". Gebraucht werden in etwa 100 Milliarden Euro; EU und IWF sollen jeweils etwas mehr als ein Drittel zuschießen, der Rest solle durch "freiwillige Stundung der privaten Gläubiger" aufgebracht werden, indem ihre Kredite einfach verlängert werden. Die EZB kritisierte diese Forderung als "großen Fehler", denkbar sei lediglich ein "Rollover" (beim Auslaufen alter Anleihen willigen Gläubiger ein, neue Anleihen mit den gleichen Bedingungen zu kaufen). Sie selber würde nach einer Umschuldung keine griechischen Staatsanleihen mehr als Sicherheit akzeptieren, somit bräche die "Versorgung mit Liquidität" zusammen, und "das Kapital der griechischen Banken (werde) ganz oder teilweise ausradiert."

Die "üblichen Marktreaktionen" (UM) setzten ein: Die Zinsen auf griechische Staatsanleihen schossen auf 25, Mitte Juni sogar auf 30 Prozent, Anleger stießen ihre griechischen Papiere ab - und erhöhten damit den Druck weiter; Ratingagenturen stuften Griechenland auf Ramschstatus herunter - und erhöhten den Druck noch weiter, die CDS auf griechische Staatsanleihen gingen durch die Decke (Mitte Juni kostete es zeitweise mehr, eine griechische Staatsanleihe auf zehn Jahre zu versichern, als diese nominal wert war!), der bank run auf griechische Banken verschärfte sich, der Interbankenmarkt drohte einzufrieren, der Euro gab nach...

Man drohte sich in der eigenen Falle zu fangen, denn eine ungeordnete Pleite oder eine richtige Umschuldung soll ja auf jeden Fall hinausgezögert werden! Die Konstruktion der EU mit einer Zentralbank, die ihre Geldpolitik völlig unabhängig von politischen Erwägungen hält und mit Maastrichtkriterien, die als einzigen Ausweg immer nur noch schärfere Einsparungen vorsehen, war vor aller Augen gescheitert. Und die neoliberale Beschwörung der Märkte und ihrer Sachzwänge in Form von Zinsen, Ratingagenturen usw hatte sich erneut blamiert. Der unsichtbare Fürst war sichtbar geworden, und er war nackt. ("Tritt ein Kreditereignis ein, das nicht als solches bezeichnet wird, (sind) die Banken 'nackt'; (und) noch mehr nackte Banken will niemand" - in FTD vom 17.6.2011: "Finanzmarkt gibt Griechenland auf")

Die EZB

steht mit dem Rücken zur Wand. Sie ist inzwischen Griechenlands größter Gläubiger, man kann fast sagen, das ganze griechische Bankensystem gehört ihr. Die griechischen Banken haben, geschätzt, 91 Milliarden Euro über die EZB refinanziert, zusätzlich soll die EZB griechische Staatsanleihen im Wert von 50 Milliarden Euro in ihren Beständen haben. Ende Mai wurde zudem bekannt, dass Banken aus Griechenland, Irland, Portugal und Spanien Risiken von mehreren Hundert Milliarden Euro bei ihren jeweiligen Notenbanken abgeladen hatten auf der Grundlage von "surprime Sicherheiten. Auch die EZB selber hatte Anfang 2011 - gegen die Vorschriften - Schuldverschreibungen im Wert von 480 Milliarden Euro als Sicherheiten angenommen. Sie ist zu einer riesigen "Bad Bank" geworden, bei der überschuldete Staaten und insolvente Banken ihre Giftpapiere als Sicherheiten gegen frisches Geld eingetauscht haben. Damit ist ihr Spielraum so eng geworden, dass sie künstlich verlängerte Kredite, wie es Schäubles Vorschlag vorsieht, tatsächlich nicht mehr als Sicherheit akzeptieren kann. Im Gegensatz zum IWF hat sich die EZB nicht abgesichert und müsste bei einem Zahlungsausfall selbst ("vom europäischen Steuerzahler") refinanziert werden - ein GAU für das Ansehen einer Zentralbank.

Die Politik

Die "Troika" arbeitet vertrauensvoll mit Teilen der griechischen Regierung zusammen. Wenn der Widerstand in Griechenland gegen die Sparpakete wächst, können aber Politiker um ihre Wiederwahl fürchten und panisch vor die Presse treten, um etwas von "Bankrott" oder "Drachme" zu faseln (was in den letzten Monaten ein paarmal passiert ist). Oder Politiker in den EU-Ländern, deren "Steuerzahler" den Bailout finanzieren müssen, machen beim Versuch, eben denen das beizubiegen, wirre Äußerungen in der Öffentlichkeit (das passiert z.B. in der BRD mehrmals täglich). Ihr Spielraum ist extrem eng geworden, "dem Wähler" ist es immer schwieriger zu vermitteln, dass immer wieder mit Steuergeldern die Banken gerettet werden, während diese riesige Profite machen und Boni wie vor der Krise zahlen. Die politische Klasse hat regelrecht verkackt.

Zuspitzung Mitte Juni 2011

Die Krise der EU ist nicht geklärt und schaukelt sich deswegen immer wieder gegenseitig hoch. Als z.B. Portugal Anfang April "unter den Rettungsschirm schlüpfte", kam es wieder zu "ÜM" bzgl. Griechenland. Sie haben keine Lösung und spielen nur auf Zeit. Dabei rollen sie allerdings einen Schneeball aus ungelösten Problemen den Abhang runter. Kenneth Rogoff, der selbst von 2001 bis 2003 Chefökonom des IWF gewesen war, gebrauchte Mitte Juni dieses Bild ("Vom Euro-Schneeball zur Lawine"). Am selben Tag schlug der IWF Alarm und warnte vor der "Finanzkrise II"; die Griechenlandkrise und die Wachstumsschwäche der USA "bedrohen die gesamte Weltwirtschaft". Denn nun kulminierte die Situation: Am 15. Juni titelte die FTD "Aufruhr gegen Sparkurs - Griechenland im politischen Chaos" und "Merkels zerrüttete Koalition". Während in der BRD aber nur die "Wählerzustimmung" weiter ab- und die internen Regierungskonflikte weiter zunahmen, lief in Griechenland ein Generalstreik, und in Athen hinderten tausende DemonstrantInnen die Regierung daran, überhaupt das Parlament zu betreten, um das nächste Sparpaket zu beraten. Eine "Regierung der nationalen Einheit" sollte gebildet werden - schließlich hatte das der IWF ja implizit verlangt - dann weigerte sich aber die Opposition, sich daran zu beteiligen. Gerüchte über die Ausrufung des Notstands machten die Runde...

Als alle Optionen blockiert sind, wird am 16. Juni eine "Kehrtwende" vermeldet. "Offenbar soll es spätestens am Montag [20. Juni] einen Beschluss geben, die zwölf Milliarden Euro an Athen auszuzahlen - auch ohne Einigung auf ein zweites Hilfspaket und die damit verbundene Gläubigerbeteiligung. "Damit vermeiden wir das Szenario eines Zahlungsausfalls", sagte Währungskommissar Olli Rehn. "Wir möchten Zeit kaufen, weil wir nicht wissen, was wir tun sollen", sagte ein EU-Beamter in Brüssel."


Am 20. Juni ist dieses Heft bereits in Druck - uns bleibt an der Stelle nur ein kleines Resümee und ein Ausblick.


Der unsichtbare Fürst ist nicht reformierbar!

Private Schulden (der Banken, Versicherungen, Konzerne usw.) wurden in Staatsverschuldung überführt, das hat die sogenannte Eurokrise ausgelöst. Die Rettungsprogramme setzen diesen Prozess fort: die EZB kauft den Banken ihre Anleihen ab, die europäischen Staaten vergeben Kredite. So dass am Ende nicht die Frage sein wird: müssen bei einem Schuldenschnitt die Sparer (= Banken) oder bei weiteren Krediten die Steuerzahler bluten? Sondern in beiden Fällen werden die Steuerzahler (= die Proleten) bluten.

Griechenland wird ein zweites "Rettungs"paket bekommen - im Gegenzug werden die Daumenschrauben weiter angezogen. (Nicht nur) in Griechenland wird sich in irgendeiner Form eine "Regierung der nationalen Einheit" bilden. Die Banken werden versprechen, die Laufzeiten ihrer griechischen Anleihen freiwillig zu verlängern... Damit ist keins der Probleme gelöst. Systemimmanent gibt es nur zwei Optionen: Eurobonds oder weitere Sparprogramme, während die aufgelaufenen Schulden weiterhin "vom Steuerzahler" beglichen werden. Die Merkel-Regierung sperrt sich mit aller Macht gegen die Ausgabe von Eurobonds zur Finanzierung der Staatsschulden, die der Euro-Gruppen-Chef Juncker schon 2010 in die Debatte brachte, weil sie am Horizont dann bereits die griechischen Arbeitslosen ihr ALG aus Brüssel beziehen sieht.

Wahrscheinlich werden sie beim EU-Gipfel nächste Woche einen großen Schritt in Richtung Barrosos "stiller Revolution" machen. Aber ihr großes Problem ist, dass diese nicht mehr unbemerkt verläuft. Die Bewegungen in Frankreich, Portugal, Spanien, Griechenland... haben sie zum Gegenstand einer lauten und öffentlichen Debatte gemacht. Sie richten sich gegen den Europakt und die Abwälzung der Krise auf die ArbeiterInnen: Gegen Kürzungen im öffentlichen Dienst, Flexibilisierung und Prekarisierung von Arbeitsplätzen, Erhöhung des Renteneintrittsalters und der indirekten Steuern sowie Kürzungen im Bildungs- und Gesundheitsbereich.

Wenn die Bewegungen stärker werden, wächst die Wahrscheinlichkeit einer "ungeordneten Staatspleite". Das zeigt uns auch der Blick in die Geschichte, z.B. der Schuldenkrise der 80er Jahre: Das Interesse der ArbeiterInnen ist der schnellstmögliche Bankrott. Wie wir an Argentinien 2001 gesehen haben, ist das noch keine Revolution, aber die sozialen Auswirkungen sind deutlich geringer als bei einer langgezogenen Konkursverschleppung.

Argentinien zeigt aber auch, dass kapitalismusimmanent die Krise nur durch Wachstum überwunden werden kann. Der aktuelle Kapitalismus kann Wachstum nur über das Aufpumpen von Blasen erzeugen. Sowohl das Wachstum in der EU hing an den Immobilienblasen der europäischen Peripherie, als auch der momentane Exportboom der BRD hängt an solchen Mechanismen ("Schwellenländerblase").

Die EU differenzierte sich in der Krise noch stärker aus. Anfang 2011 zeigte sich deutlich "ein Europa der drei Geschwindigkeiten" (FAZ). Die Peripherie versinkt in Stagnation, die Mittelzone (Frankreich und Italien) profitiert kaum vom globalen Wachstum; ist auf den ostasiatischen und osteuropäischen Wachstumsmärkten kaum vertreten und leidet im eigenen Binnenmarkt unter der Konkurrenz der billigen Waren aus Asien. Wenn das deutsche Kapital seine europäischen Absatzmärkte auf Dauer durch asiatische ersetzen wollte, würde der EU die Grundlage entzogen - diese Strategie hätte zudem kurze Beine, da sich z.B. Chinas Wachstum bereits deutlich verlangsamt. Die USA können die Exporte der BRD nicht mehr im bisherigen Umfang aufnehmen (die Menschen müssen erstmal ihre Schulden abbauen und können nicht mehr so viel Geld für Konsum ausgeben; die US-Ökonomie kann nur aus der Krise kommen, indem sie mehr exportiert). So oder so: nirgends ist eine Perspektive sichtbar, wie die europäische Peripherie "aus den Schulden herauswachsen" könnte.

Die Krise der EU ist - innerhalb des Kapitalismus - unlösbar. Dabei wären die Schulden schnell zurückgezahlt, man müsste bloß die griechischen Milliardäre enteignen. Dies erforderte allerdings eine Revolution - und warum sollte man dann noch Schulden zurückzahlen? "Linke" Forderungen nach einer einheitlichen europäischen Sozial- und Lohnpolitik sind demgegenüber völlig utopisch. Die Herrschenden hätten das ja gerne gehabt - der Klassenkampf hat ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht. Ein keynesianisches Europa zu fordern, verlangt von der Arbeiterklasse in Europa, sich den entsprechenden Produktivitätsansprüchen diesmal wirklich unterzuordnen.

Die Krise hat die Inkonsistenz der europäischen Konstruktion offengelegt. Die EU sieht keinen Mechanismus vor, der gesellschaftliche Forderungen in Geld-, Sozial- oder Wirtschaftspolitik übersetzen könnte. Keine Institution, an die Forderungen zu richten wären. Aber gerade das wird ihnen nun zum Verhängnis! Deshalb sollten wir uns nicht an Bemühungen beteiligen, die EU zu "demokratisieren", sondern mithelfen, die ganze Scheiße umzustürzen!


P.S.
Im Rahmen dieses Artikels konnten wir auf die anderen Ebenen (der polizeilichen, geheimdienstliehen, militärischen usw. Zusammenarbeit) der EU nicht eingehen. Die Bewegungen thematisieren und attackieren auch diese, erwähnt sei nur das Beispiel Frontex, Abwehr der MigrantInnen aus Afrika und die zeitweiligen Überlegungen, Schengen deswegen auszusetzen.


Anmerkungen

(1) Nicht zufällig steht der erste Angriffskrieg, an dem die Bundeswehr beteiligt war, der Kosovokrieg, ebenfalls am Beginn dieser Zäsur. Von heute aus ließe sich sagen, Jugoslawien wurde EU-kompatibel geschossen, im Sinne der schiefen Kern-Peripherie-Ebene.

(2) Die wichtigsten Kriterien waren drei: die Schuldenquote (Verhältnis von Staatsschulden zu BIP) sollte unter 60 Prozent, die Neuverschuldung (Haushaltsdefizit) unter 3 Prozent und die Inflation unter 2 Prozent liegen.

(3) Padoa-Schioppa, einer der Architekten des Euro, Gründungsmitglied der EZB, 2006-2008 Wirtschafts- und Finanzminister unter Prodi, hatte in seinem Buch von 1994 The Road to Monetary Union die EU einen "kollektiven Fürsten" genannt. Werner Bonefeld änderte das passend in "unsichtbaren Fürst"; vergleiche Werner Bonefeld: http://rcci.net/globalizacion/2002/fg261.htm

(4) beggar thy neighbour bedeutet "den Nachbarn ausplündern" und ist ein Begriff für den Versuch eines Landes, mit Exportüberschüssen Einkommen und Beschäftigung im Inland zu erhöhen. Da die Zunahme der Exporte eines Landes eine Zunahme der Importe für das Ausland darstellt, ergeben sich dort komplementäre Wirkungen, z.B. steigende Arbeitslosigkeit.

(5) Es geht um die Länder Portugal, Irland, Griechenland, sowie Italien und Spanien, die evtl. von Staatspleiten bedroht sind. Das wurde zu "PIGS" = Schweinen zusammengezogen, obwohl es richtigerweise PIIGS heißen müsste. Inzwischen sind PIG "unter den Rettungsschirm geschlüpft", Spanien, Italien und Belgien werden als mögliche Kandidaten gehandelt.

(6) IWF, Concluding Statement on Euro-Area Politics, 2010

Raute

Streiks, Streiks, Streiks... und fast niemand schaut hin.

Im folgenden Text stellt Steven Colatrella seine These dar: Mit dem Einsetzen der globalen Krise 2007 bündeln sich die weltweiten Kämpfe zu einer globalen Streikwelle. Als quantitativen "Beweis" listet Steven die weltweiten Kämpfe innerhalb von 48 Stunden im Herbst 2010 auf. Im nächsten Schritt versucht er, qualitative Kriterien für deren politische Einordnung zu entwickeln und macht dazu vier "Hauptthemen" der Streikwelle aus, die uns dabei helfen, Orientierungspunkte in dieser komplexen Situation zu finden. Mit dem Fokus auf Nordafrika sieht er in den weltweiten Streiks das "Ende des Neoliberalismus" und die "Neuentstehung der Arbeiterklasse". Der "traditionelle Streik" gewinne wieder an Kraft, weil die ArbeiterInnen Produktionsverlagerungen und die Ausweitung der Produktionsketten in eine größere "strukturelle und organisatorische Macht" übersetzt haben. Damit können sie den Kämpfen Richtung und Zusammenhalt geben und sowohl die Schwäche der IWF-Riots der 1980er, als auch die Zersplitterung der Antiglobalisierungsbewegung seit den 1990ern überwinden.

Bei seiner Einordnung der Kämpfe orientiert sich Steven an der Unterscheidung von politischen und ökonomischen Kämpfen bzw. an Marxens Hinweisen, unter welchen Bedingungen ein "ökonomischer" Kampf "politisch" wird. Auch wenn wir nicht der Ansicht sind, dass in der gegenwärtigen Situation ein Kampf für die Verbesserung der eigenen Situation per se schon revolutionär ist, halten wir diesen Versuch für wenig geeignet. Und zwar gerade weil es heutzutage so schwierig ist, ein allgemeines Interesse zu formulieren und Spaltungen zu überwinden. Steven suggeriert, dass Kämpfe schon dadurch "politisch" werden, dass sie sich gegen den IWF bzw gegen die "Global Governance" richten. Vielleicht die größte Schwäche des Texts, dass er kaum aus dem Innern der Kämpfe heraus seine Fragen entwickelt. Dadurch stehen wilde Streiks, Streikankündigungen, gewerkschaftliches Dampfablassen ununterschieden nebeneinander.

Griffiger beschreibt er das Projekt des Gegners bzw. die Herausbildung einer globalen Bourgeoisie, die zunehmend einheitliche Sparangriffe gegen die Arbeiterklasse fährt ("Austerity"). Einleitend betont Colatrella als Ziel dieser Politik die "Herstellung einer einheitlichen Profitrate". Eine Bestimmung, die aber seltsam in der Luft hängt, da es im Verlauf des Texts an keiner Stelle um Verwertung oder die Krise derselben geht - die Krise fasst er ausschließlich als politische Krise der Institutionen der "Global Governance". Dieser Begriff wäre zu präzisieren: verstehen wir darunter einen neuartigen Mix aus kapitalistischen, transnationalen Agenturen und NGOS? Uns fehlt zum Beispiel eine kritische Betrachtung der "Ergebnisse" der No-glob-Bewegung, aus der sich mittlerweile zum Teil das Personal der Global Governance rekrutiert.

Trotz aller Schwächen: Stevens Hinweis auf die globale Streikwelle schließt ein Loch in der aktuellen linken Debatte und hilft dabei, Zusammenhänge und Brennpunkte besser zu erfassen.


Zur Debatte über die aktuelle Perspektive der Klassenkämpfe und sozialen Bewegungen haben wir bereits mehrere Texte mit durchaus unterschiedlichen Perspektiven veröffentlicht.

• Die globale Arbeiterklasse bildet sich jenseits des historischen Bündnisses von Arbeitern und Bauern aus dem leninistisch/maoistischen Werkzeugkasten:
Was nach der Bauerninternationale kommt, Wildcat 82

• Sie ist längst in der Lage, die kapitalistische Produktionsweise zu überwinden. Die Revolution ist in den Klassenkämpfen selbst zu suchen, nicht in einer Beteiligung an der Staatsmacht.
Loren Goldner: Der Historischen Moment, der uns hervorgebracht hat (Beilage zur Wildcat 88)

• Gilles Dauvé und Karl Nesic gehen auf eine historische Spurensuche revolutionärer Klassenbewegungen und machen eine Bestandsaufnahme der aktuellen Situation
ArbeiterInnen verlassen die Fabrik (Beilage zur Wildcat 88)

Raute

In unseren Händen liegt eine Macht

Eine weltweite Streikwelle, Sparprogramme und die politische Krise der Global Governance

Von Steven Colatrella

Sparprogramme(1) und Global Governance

Sparpolitik ist zum weltweiten politischen Regime geworden. Überall wird sie in Form von Sozialkürzungen, Lohnsenkungen und Massenentlassungen im öffentlichen Dienst durchgesetzt, dazu kommen neue Gesetze gegen die Arbeiterorganisationen. Sie ähnelt sich in den unterschiedlichen Ländern auffallend und ist typischerweise auf Initiative von Institutionen der Global Governance wie IWF, EU, G20 oder WTO aufgelegt worden. Bei dieser Politik handelt es sich um Vereinbarungen zwischen Regierungschefs, und sie verfolgt ganz offen die Interessen eines kleinen Teils der Gesellschaft: die der Kapitalisten im Allgemeinen und des globalen Finanzkapitals im Besonderen. In diesem Sinne können wir Sparpolitik als ein Regime begreifen, eine durch das gemeinsame Handeln der Staaten durchgesetzte internationale Ordnung. Genau diese starke Übereinstimmung im Programm und den Klasseninteressen der Regierungen von Europa bis zum Nahen Osten, von Asien bis Amerika und Afrika, zeigen die Bedeutung der Global Governance als Projekt zur Vereinheitlichung der globalen herrschenden Klasse.

Global Governance ist ein Netz aus Institutionen und Verbindungen zwischen politischen Akteuren, das die Beziehungen zwischen Nationalstaaten und ihren Bürgern und die Machtbeziehungen zwischen den Staaten selbst verändert.

Ihre Institutionen sind etwas zwischen ausführendem Organ und Bürokratie, das die staatliche Politik auf diesem Planeten vorgibt und koordiniert, sie handeln wie die »sichernde Macht des Allgemeinen« bei Hegel.(2) Sie scheinen die Orte zu sein, an denen sich heute die wirkliche politische Macht der kapitalistischen Welt manifestiert. Und sie verkörpern Arundhati Roys wichtige Einsicht, dass die Globalisierung nicht die nationale Souveränität bedroht, sondern die Demokratie. Das gilt vor allem, wenn wir Demokratie nicht auf ein Prozedere für Wahlen und Entscheidungen reduzieren, sondern demokratische Inhalte und Prozesse meinen.


Der Kapitalismus und die globale herrschende Klasse

Die Nationalstaaten sind komplexe Gebilde, die die verwickelten Klassenbeziehungen und die Geschichte der jeweiligen Klassenkämpfe ausdrücken. Ihre Einbindung in die Global Governance befreit sie von den lokalen Klassenkämpfen, die sie bislang geformt und ihnen ihre Handlungsspielräume erweitert oder eingeschränkt hatten. Stattdessen werden sie zu immer enger verbundenen Instrumenten einer kohärenter werdenden globalen Kapitalistenklasse mit gleichen Zielen und abgestimmtem Handeln, also einer zielgerichteten Strategie ihres nationalen und globalen Klasseninteresses. Auf einer Meta-Ebene taucht so als Ziel der Global Governance die Umsetzung des Projekts auf, das Marx implizit im Dritten Band des Kapitals untersucht hatte - nämlich die Herausbildung einer einheitlichen Profitrate zur Aufteilung des weltweit produzierten Werts gemäß der vorgeschossenen Kapitalanteile. Politisch gesehen ist die Herstellung einer einheitlichen Profitrate, zuvor ein Projekt im nationalen Rahmen mit einigen internationalen Aspekten, nun eines der Globalisierung. Die Geschichte dieses Projekts seit dem frühen 19. Jahrhundert steht im Fokus des zweiten und dritten Bands von Braudels berühmter Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts.

Durch politische Maßnahmen, die die gesellschaftliche Ungleichheit unmittelbar ausweiten, verstärkt diese Sparpolitik den Druck in Richtung Konzentration und Zentralisierung enorm. Aber indem sie die Rolle der Institutionen der Global Governance bei der Ausarbeitung und Durchführung politischer Strategien für eine stets kleiner werdende kapitalistische Elite deutlich sichtbar gemacht und die soziale Basis der herrschenden Politik in fast allen Ländern unterhöhlt hat, schuf die Sparpolitik auch die Vorbedingung für die politische Krise der nationalen Regierungen und der Global Governance selbst. Diese Krise hat nicht lange auf sich warten lassen.


Weg mit den Sparmaßnahmen: Die globale Streikwelle

Eine Vielzahl von Bewegungen, Organisationen und Protesten wehrt sich gegen die neue Welle von Sparprogrammen und neoliberaler Globalisierung. Ihre Aktivitäten bringen bisweilen die ganze soziale Vielfalt einer Klassengesellschaft zusammen. Aber seit die Finanzkrise vor drei Jahren ausbrach und dann zu einer globalen Rezession wurde, setzt sich in immer mehr Ländern die Arbeiterklasse an die Spitze der Kämpfe. Seit dem Frühjahr 2010 laufen zielgerichtete Streikwellen direkt gegen die Sparprogramme der nationalen Regierungen und der Institutionen der Global Governance. Im selben Jahr erhob sich weltweit eine Welle von Massenstreiks gegen das Abstrakt-Allgemeine der Global Governance. Von China nach Indien, Südafrika und Ägypten, von Frankreich und Großbritannien nach Jamaika und Kambodscha, von Vietnam nach Griechenland, von Bangladesch nach Spanien rollende Streikwellen attackierten den Klassencharakter der Sparprogramme. Zum Jahresende war diese erdumspannende Streikwelle der globalen Arbeiterklasse zum unmittelbarsten und eindrucksvollsten Hindernis für die Sparprogramme des in der Krise steckenden Weltkapitals geworden.

Ein Blitzlicht auf die Ereignisse zwischen dem 21. und 22. Oktober 2010 zeigt Massenstreiks in Frankreich gegen die Rentenreform von Sarkozy, ArbeiterInnen, die in Athen die Akropolis und in Piräus den Hafen blockieren, streikende Fluglotsen in Spanien, denen die Regierung mit Entlassung droht (Reagan lässt grüßen), Streiks von Feuerwehrleuten in Irland und London, sowie von TaxifahrerInnen in Lancaster, während Arbeiter der Atomanlagen in Sellafield mit einem Protestmarsch den Verkehr blockieren, im englischen Swinden die ArbeiterInnen im Freizeitzentrum gegen die Kürzungspläne des Stadtrats streiken und JournalistInnen in Hampshire für Streik gegen einen zweijährigen Lohnstopp abstimmen. In Nordirland wird ein Streik in einer Fleischfabrik durch einen Gerichtsbeschluss beendet. In Holland bereiten Post-ArbeiterInnen einen Streik vor, und die britischen Gewerkschaften kündigen flächendeckende Streiks gegen massive Sozialkürzungen und die Streichung von 500.000 Jobs im Öffentlichen Dienst an. Über tausend rumänische Docker protestieren gegen die Sparprogramme von EU und IWF und fordern höhere Löhne. In Kroatien droht ein Generalstreik, nachdem das Verfassungsgericht ein Referendum zur Reform der Arbeitsgesetze gekippt hat. In Italien streikten seit vier Wochen die ricercatori (Hochschullehrer der Eingangstufe) gegen massive Einschnitte an den italienischen Universitäten und blockieren den Semesterbeginn. Außerhalb von Europa sind öffentlich Beschäftigte in Tobago auf der Straße, um sich mit ihren streikenden KollegInnen in Trinidad zu solidarisieren; die Universität der westindischen Inseln bietet ihrer streikenden Belegschaft Verbesserungen an; in Ghana streiken LehrerInnen und ProfessorInnen; in Neuseeland beginnen die LehrerInnen der Oberschule in Hawkes Bay das Schuljahr mit einem Streik. Die Gewerkschaften in Jamaika haben bereits die Zurückweisung der IWF-Auflagen gefordert, nun streiken die ArbeiterInnen der Nationalen Wasserkommission für sieben Prozent mehr Lohn. Einen Monat vorher hat die Regierung einen Generalstreik nur noch damit abwenden können, dass sie sich gegen die Forderungen des IWF aussprach. Gleichzeitig breiten sich noch zusätzlich zu den Kämpfen im Bildungswesen in vielen Ländern Afrikas Streiks aus: in Kenia streiken 80.000 ArbeiterInnen bei Teefirmen gegen die Einführung von Pflückmaschinen; in Swaziland feuert das Logistik- und Transportunternehmen Unitrans 43 streikende ArbeiterInnen und erzielt ein richterliches Urteil, dass diese ihre Arbeitszeiten nicht mehr selbst (von 7 bis 16 Uhr) festsetzen dürfen. In Botswana streiken Arbeiter in der Diamantenproduktion, in Sambia werden streikende Bergarbeiter bei einem chinesischen Unternehmen von ihren Bossen beschossen; in Simbabwe streiken die ArbeiterInnen einer Fluggesellschaft, öffentlich Beschäftigte fordern eine durch den Diamantenhandel finanzierte Erhöhung ihrer Löhne. In derselben Woche organisieren in Benin die Gewerkschaften Proteste gegen das von der Regierung verhängte Demonstrationsverbot. Nur wenige Wochen vorher haben öffentlich Beschäftigte in Uganda Regierungsgebäude besetzt und Öl-Arbeiter Nigeria nach einer zehnprozentigen Lohnerhöhung im vorangegangenen Frühjahr einen Streik verschoben. In diesem Herbst aber streiken sie sowohl gegen von den Ölmultis protegierte Gesetzesentwürfe, als auch gegen die Aktivitäten von Exxon vor Ort. In Lagos streiken die ÄrztInnen, Uni-Angestellte und -DozentInnen weiten ihre Streiks aus, ArbeiterInnen der Elektrizitätswerke drohen mit unbefristeten Streiks, und ArbeiterInnen der Regierungsbehörden drohen mit Streiks für einen Mindestlohn.

In Bangladesch hat es bereits vorher große Streiks und Zusammenstöße zwischen Polizei und ArbeiterInnen vor allem aus der Textilindustrie gegeben, an diesem Tag treten auch noch die Docker in Streik und das Militär greift ein, in verschiedenen Teilen des Landes streiken zudem Jute- und TextilarbeiterInnen. All das gefährdet die Export-Einnahmen des Landes. Am 23.10.2010 treten trotz der Warnungen der Regierung auch noch die Piloten in Streik. In Guayana haben ArbeiterInnen einer Zuckerfabrik aufgrund von Repressionsdrohungen ihren Streik gerade beendet, in Indien sind 500 ArbeiterInnen bei Foxconn wegen politischer Aktivitäten verhaftet worden, und bei DHL laufen weltweit Arbeiterproteste gegen die Unternehmenspolitik. Mit dem Rückenwind einer beachtlichen internationalen Solidarität kämpfen ArbeiterInnen bei UPS in der Türkei gegen die Entlassung von fünf KollegInnen. In Chile streiken 80.000 öffentlich Beschäftigte, während gleichzeitig die Arbeiter der großen Kupfermine Collahuasi sowie die Arbeiter auf einer Krankenhausbaustelle eine Streikabstimmung vorbereiten. In Brasilien haben Bankangestellte gerade einen Streik mit den höchsten Lohnsteigerungen seit Jahren beendet, ein paar Wochen davor haben Autoarbeiter die bislang größten durch Streiks erwirkten Lohnerhöhungen bekommen. In derselben Woche wird in Südafrika ein Konflikt um Löhne und Wohngeld beendet, der im Monat zuvor einen Generalstreik im Öffentlichen Dienst ausgelöst hat. In Buenos Aires droht wegen des Todes eines Eisenbahnarbeiters ein stadtweiter Streik, die ArbeiterInnen bei der Stadreinigung haben gerade einen dreitägigen Ausstand beendet. In Vietnam, neben Bangladesch, Ägypten, Südafrika und Kambodscha eines der Epizentren der Streikwelle der letzten drei Jahre, streiken 2000 ArbeiterInnen in einer Schuhfabrik. In Südkorea bereitet der größte Gewerkschaftsverband Demonstrationen gegen das Treffen der G20 in einigen Wochen vor. In Ägypten demonstrieren ArbeiterInnen im ganzen Land, wenige Tage zuvor haben sie schon in Kairo gegen die Unterdrückung von Arbeiteraktivitäten protestiert. Palästinensische ArbeiterInnen bestreiken eine israelische Fabrik wegen ausstehender Löhne, Landsleute von ihnen bestreiken die UN-Behörde, die in den Flüchtlingscamps die Gesundheitsdienste betreibt. Die Belegschaften der Universitäten und Colleges treffen sich zum Sit-In beim Bildungsministerium der palästinensischen Autonomiebehörde. In Tschechien, in Ungarn, in der Slowakei und anderswo planen Gewerkschaften Aktionen gegen weitere Sparprogramme - oder drohen damit; in Kroatien und Serbien sind gerade erst Streiks gegen die EU-Forderung nach weiteren Einsparungen als Voraussetzung für den EU-Beitritt beendet worden. In der Ukraine haben Arbeiter einer Wurstfabrik nach einer saftigen Lohnerhöhung gerade einen fünfmonatigen Streik beendet. Ölarbeiter in Kasachstan beantworten die Verhaftung eines Gewerkschaftsaktivisten mit Streik. Am 22. Oktober blockieren Bauarbeiter Straßen in Dubai, wo Militanz in letzter Zeit üblich geworden ist, und auch in Bahrain gibt es große Streiks. Währenddessen setzen Gewerkschaften im Irak die Blockade der Ölprivatisierung fort.


Von Streiks zu Revolutionen: die globale politische Krise

Obwohl es hier nur um Streiks in einem Zeitraum von 48 Stunden geht, ist diese Aufzählung nicht vollzählig. Und das war kein untypischer Tag im Sommer und Herbst 2010. Die Revolten in Frankreich lassen ihn zwar außergewöhnlich erscheinen, aber im Verhältnis zu anderen Arbeiterkämpfen in diesem Jahr, wie der Streikwelle in China oder dem Generalstreik von 100 Millionen im September in Indien, waren diese nicht sonderlich beeindruckend. In Vietnam blieb die Arbeitermilitanz in fast jeder Industriesparte weiterhin außergewöhnlich, und die Zahl der großen inoffiziellen Streiks in Russland wird für 2010 auf 93 geschätzt.

Die Streikaktivitäten bis zum Spätherbst 2010 waren der Höhepunkt einer Streikwelle seit 2007, die nach und nach globaler, intensiver, militanter wurde und sich gleichzeitig geografisch ausdehnte. Die Gleichzeitigkeit von großen Streiks in vielen Ländern und ihre fast universelle Ausweitung ist außergewöhnlich - nur in den USA hat es keine nennenswerten Streiks gegeben, und auf den Philippinen scheint es erstaunlicherweise weniger Arbeitermilitanz zu geben als in den letzten Jahren. Südkorea hat früher als die meisten Länder strenge antigewerkschaftliche Gesetze und andere staatliche Methoden eingeführt, um der Macht der Arbeiterklasse entgegenzutreten, die nur wenige Jahre zuvor eine der militantesten der Welt gewesen war. Genauso hielt auch in Mexiko und Honduras allein massive Unterdrückung die Arbeiterunruhen unter Kontrolle. In Honduras gehörte die Entlassung von 40.000 ArbeiterInnen eines Energieunternehmens durch den ehemaligen Staatspräsident und Repressionen nach dem Militärputsch dazu. In Thailand verstummte aller Protest nach dem Massaker an der Rothemden-Bewegung von Bauern und Arbeitern, die Demokratie forderten - auch wenn die Klassenzugehörigkeit auf beiden Seiten des Konfliktes verschwommen blieb.

In den letzten Monaten des Jahres 2010 machten die ArbeiterInnen in vielen Teilen der Welt Gebrauch von ihrer traditionellen Waffe der Arbeitsniederlegung. Die meisten der wenigen Ausnahmen bestätigen diese Regel, da sie nur die Folge von schwerer staatlicher Repression der Arbeiterkämpfe sind. Es ist tatsächlich schwierig, einen Teil der Welt zu finden, in dem es in den vergangenen drei Jahren keine bedeutenden Arbeiterproteste oder große Streiks gegeben hat. Anfang 2011 brachen die Dämme. Die Welt erlebte mit Erstaunen zuerst in Tunesien, dann in Ägypten, wie aus Massenbewegungen Revolutionen wurden, die eine Veränderung der Wirtschaftspolitik forderten, die wachsende Ungleichheit infrage stellten und verhasste Diktaturen stürzten. Mitte März 2011 war praktisch die gesamte arabische Welt in Aufruhr. Viele dieser Länder mit neoliberalen Sparregimes waren vor kurzem noch Musterbeispiele für die Umsetzung der von den Organisationen der Global Governance initiierten Maßnahmen. Nun wurden sie zu den »schwächsten Gliedern in der Kette« und waren die ersten, die zu spüren bekamen, dass die Sparpolitik unmittelbar politisch ist. In der klassischen Revolutionskonstellation vereinigte sich der Protest von Mittelschichten und Selbständigen mit den Massenstreiks der ArbeiterInnen im Versuch, die Macht zu ergreifen oder zumindest zu lähmen.

Aus gesondert ablaufenden Streiks, die vor allem dadurch verbunden waren, dass sie auf die gleiche Politik im Rahmen der neoliberalen Globalisierung reagierten, war Ende 2010 zunehmend eine gemeinsame Einsicht in die politische Natur der Bedingungen geworden, gegen die man streikte: erstens die Arbeitgeber benutzten die Krise politisch, zweitens es ging direkt gegen die Regierungspolitik. Von Griechenland über Frankreich, Rumänien, Jamaika und Indien bis nach Südafrika erkannten streikende ArbeiterInnen und ihre Gewerkschaften den IWF, die EU und andere Organisationen als die Kräfte, die der nationalen Politik Vorgaben zugunsten des Kapitals und zulasten der ArbeiterInnen machen. Seit der inspirierenden ägyptischen Revolution sehen viele Bewegungen die Kämpfe in den arabischen Ländern, die auch einfach als Besonderheit Nordafrikas und des Golfs wahrgenommen werden könnten, als wichtig für ihre eigenen Kämpfe, als Inspiration für ihre Bewegungen und sogar als taktische Anleitung für den Kampf gegen die Sparmaßnahmen. Hunderttausende amerikanischer ArbeiterInnen und StudentInnen in Wisconsin, in Ohio, Indiana, Illinois, Texas, Maryland, Michigan, New Jersey und Montana (!) bezogen sich auf die Besetzung des Tahrir-Platzes in Kairo als Vorbild für ihre eigenen Proteste, das heißt auf eine Massenbewegung in der arabischen Welt - das war nach den Anschlägen vom 11. September für völlig undenkbar gehalten worden. Die Leute, die in den USA Regierungsgebäude besetzen, ziehen selber Parallelen zwischen den undemokratischen und gegen die Arbeiterklasse gerichteten Methoden von konservativen Gouverneuren und denen der arabischen Diktatoren. Sie protestieren gegen gewerkschaftsfeindliche und undemokratische Gesetze und politisieren damit ein Thema, das normalerweise durch den entpolitisierenden Diskurs über Sparmaßnahmen legitimiert wird.


Die Hauptthemen der Streikwelle

Bei der Untersuchung der Streiks der letzten Jahre und Monate fallen einige Punkte auf. Der erste ist ihre starke geographische Ausweitung - viele finden in den aufstrebenden Ökonomien statt, wo Industrie in großem Maßstab erst in letzter Zeit entstanden ist: Brasilien, Bangladesch, Kambodscha, Vietnam, Südkorea, Südafrika, Indien und vor allem China, um nur einige zu nennen. Dass die Streikwelle die Ukraine, Äthiopien, Swasiland, Kenia, Ägypten, Bahrain und Kasachstan umfasst, deutet an, wie global die Globalisierung und mit ihr die Revolten der ArbeiterInnen geworden ist. Brasilianische AutoarbeiterInnen, äthiopische Stahlarbeiter, kenianische TeepflückerInnen, swasiländische DiamantenarbeiterInnen, ägyptische ArbeiterInnen aus allen möglichen Sektoren, ukrainische WurstfabrikarbeiterInnen, Bekleidungs-, Jute- und UhrenarbeiterInnen aus Bangladesch, kambodschanische Bekleidungs- und TextilarbeiterInnen, vietnamesische Schuh- und BekleidungsarbeiterInnen und chinesische AutoarbeiterInnen, TextilarbeiterInnen und viele andere waren in großer Anzahl in den letzten Jahren im Streik. Parallel dazu gab es landesweite Streiks in Südafrika, Nigeria, Ägypten und Indien, darunter der sicherlich größte eintägige Generalstreik der Geschichte mit über 100 Millionen Beteiligten.

Zweitens, die Logistik - eine entscheidende Branche für eine auf dem Handel, also der Bewegung von Gütern, Dienstleistungen und zum Teil von Menschen, beruhende Weltwirtschaft - ist ein entscheidendes Terrain der Kämpfe. Die ArbeiterInnen drücken ihre oft gerade neu entdeckte Macht durch Streiks auf den Docks, Eisenbahnstrecken, LKW-Routen, an Bord, am Zoll und an Grenzübergängen, in Postämtern, bei Kurierdiensten und bei Luftfahrtunternehmen aus. Dockarbeiter von New Jersey bis Rumänien und von Piräus bis Bangladesch, von Nigeria bis Marseille waren an der letzten Streikwelle beteiligt. In nahezu jedem Land Europas wurden die Eisenbahnen bestreikt. Und bezeichnenderweise waren viele der globalen Logistikunternehmen wie DHL und UPS mit einer starken Arbeitermilitanz konfrontiert.

Ein dritter wichtiger Aspekt der Streikwelle waren die Streiks von Produktions- und anderen ArbeiterInnen, die an der Herstellung von oder Versorgung mit Rohstoffen und anderen wichtigen Gütern beteiligt sind - Agrarprodukte, Rohstoffgewinnung, industrieller Metallbergbau, Gas-, Elektrizitäts- und insbesondere Ölversorgung. Diese ArbeiterInnen sahen in den letzten Jahren, wie die Preise der von ihnen produzierten Waren in die Höhe schossen. Das gilt vor allem für den Preisanstieg in den Jahren 2007-08, der meist (wenn auch hinterfragbar) auf die gestiegene Nachfrage insbesondere von asiatischen Länder zurückgeführt wird. Die ArbeiterInnen haben mehr und mehr für einen größeren Anteil am von ihrer Arbeit produzierten Reichtum gekämpft. Insbesondere in diesem Sektor waren die Streiks ursprünglich eine Antwort auf die wahrscheinlich durch eine Kombination aus stärkerer Nachfrage und massiven Spekulationen an den Warenterminbörsen hervorgerufenen Preissteigerungen. Seit einigen Jahren sucht das Kapital sichere Häfen vor Arbeitermilitanz und politischem Aufruhr. Nach dem Zusammenbruch des Immobilien- und Derivatemarkts in den USA, der die Finanzkrise auslöste, verstärkte dieser Kapitalfluss die Preisanstiege. Die darauf folgenden Streiks, mit denen die ArbeiterInnen gegen eine Monopolisierung des in diesen Sektoren geschaffenen Reichtums kämpften, waren in Kombination mit dem Scheitern der Doha-Runde der WTO der letzte Tropfen, der die Finanzkrise in eine weltweite Rezession verwandelte. Kapital, das zuerst vor kämpfenden ArbeiterInnen in die Finanzsphäre geflohen war, flüchtete wieder aus den vormals sicheren Häfen der Warentermingeschäfte, als die ArbeiterInnen in diesen Industrien ihre Entschlossenheit demonstrierten, am gewaltig gewachsenen Reichtum ihrer Industrien und ihrer Arbeitgeber beteiligt zu werden. Chilenische Kupferbergleute, bolivianische Zinnbergleute, namibische Diamantenminenarbeiter, JutearbeiterInnen in Bangladesh, ZuckerarbeiterInnen in Guayana, mosambikanische KakaoarbeiterInnen, nigerianische und kasachische Ölarbeiter, kenianische TeepflückerInnen und viele andere haben in den vergangenen drei Jahren in großem Rahmen und in vielen Teilen der Weltökonomie für höhere Löhne gestreikt.

Viertens waren ArbeiterInnen im öffentlichen Dienst und solche, die direkt von der staatlichen Sparpolitik betroffen sind, Hauptakteure in der globalen Streikwelle, von Frankreich bis Benin, von Nigeria bis Indien, von Brasilien über Argentinien bis Ägypten, von den griechischen Staatsbediensteten bis zu den britischen StudentInnen, von italienischen OberschülerInnen und LehrerInnen bis zu den ricercatori, von ArbeiterInnen bei der Stadtreinigung von Buenos Aires bis zu ungarischen BahnarbeiterInnen, von kenianischen Angestellten bei den Stromkonzernen bis zu tschechischen ÄrztInnen. Bei den öffentlich Beschäftigten und unmittelbar mit staatlichen Dienstleistungen verbundenen ArbeiterInnen wächst die Militanz. Öffentlich Beschäftigte bescherten den USA die größte Arbeiterklassenbewegung seit Jahrzehnten, sie drückt sich unmittelbar politisch aus, stützt sich auf direkte Aktionen und Besetzungen und war inspiriert von den Revolten in den arabischen Ländern. Diese ArbeiterInnen und verbündete Gruppen befinden sich an vorderster Front im Kampf gegen die Sparpolitik, die heute genauso global ist wie der Welthandel. Sie jetzt zu verschärfen, wo sogar China zu einem Zentrum der Arbeitermilitanz wird und der FIRE-Sektor(3) sich noch in der Erholungsphase befindet, ist ein Angriff auf den öffentlichen Sektor, eine neue Einhegung, die zur Privatisierung aller gegenwärtig von der Regierung gewährleisteten Dienste führen soll. In Afrika, Europa oder den USA würde das bedeuten, sich gegen die wichtigsten sozialen Kräfte durchzusetzen, die ein Interesse an öffentlichen Dienstleistungen haben - insbesondere die öffentlich Beschäftigten und ihre Organisationen. Aber weil auch ein großer Teil der übrigen Arbeiterklasse im weiteren Sinne abhängig vom öffentlichen Sektor und seinen Programmen und Institutionen ist, ist es sehr gut möglich, dass die Streiks und Kämpfe der öffentlich Beschäftigten auf Solidarität stoßen und eine Spitze des klassenweiten Kampfes bilden können. Elemente eines solchen klassenweiten Kampfes waren bereits in Griechenland, Großbritannien, Italien, Frankreich und den Staaten des mittleren Westens der USA zu finden.

Die Sparpolitik ist heute völlig globalisiert, weil Regierungen auf der ganzen Welt im Prozess der Herausbildung einer einheitlichen herrschenden Klasse die gleiche politische Agenda durchsetzen. Diese globale herrschende Klasse wird auf den jährlichen Treffen des Weltwirtschaftsforums in Davos gebildet und intellektuell geformt. Zu einer »Eliten-Bildung« führt auch die Beteiligung an Organisationen wie der EU, G20, WTO und IWF. Da die Streiks die Sparprogramme angreifen, waren sie bis zu den Revolutionen in den arabischen Ländern das beeindruckendste Hindernis für deren Durchsetzung. Irlands Regierung wurde gestürzt, nachdem sie ein EU-IWF initiiertes Sparprogram umgesetzt hatte.

Neben den Streiks und Protesten gegen den G20-Gipfel in Seoul im November 2010, u.a. von 40.000 Gewerkschaftsmitgliedern, haben mittlerweile eine Menge Streiks spezifisch die Organisationen der Global Governance und nicht nur den eigenen Nationalstaat angegriffen. Öffentlich Beschäftigte in Irland, jamaikanische Gewerkschaften und andere stellten die Vereinbarungen ihrer Regierungen mit dem IWF in Frage, kroatische Gewerkschaften bekämpften die geforderten Sparprogramme im Zusammenhang mit dem angestrebten EU-Beitritt. Tausende Angestellte des rumänischen Finanzministeriums legten aus Protest gegen Forderungen des IWF ihre Arbeit nieder, pakistanische Staatsangestellte protestierten gegen die Forderung des IWF die Stromversorgung zu privatisieren und europäische Gewerkschaften mobilisierten für einen gemeinsamen Protesttag gegen die europaweite Sparpolitik in Brüssel am 29. September 2010. Besonders ironisch war, dass Angestellte der Weltarbeitsorganisation (ILO) mit einem Sitzstreik eine Verwaltungsratssitzung ihrer eigenen Institution blockierten, die doch weltweit Programme für bessere Arbeitsstandards umsetzen und überwachen soll! Sie protestierten damit gegen ihre prekären Verträge und ihre Arbeitsbedingungen. Dass überall Global Governance-Organisationen die Sparpolitik bestimmen und der offensichtliche Klassencharakter des Globalisierungsprozesses führen zusammen mit der strukturellen Verknüpfung durch die Logistik und der geographischen Verbreitung von Klassenerfahrungen dazu, dass internationale Solidarität zumindest gefühlt in letzter Zeit Gemeingut geworden ist. Das schlägt sich zunehmend in Solidaritäts- und, wie der europäische Protesttag zeigt, sogar in gemeinsamen Aktionen nieder. Wie wir sehen werden, sind die Streikwelle selbst und der Klassenkampf insgesamt konstitutiv für die Entwicklungsmöglichkeiten dieser Kämpfe.


Die Neuentstehung der Arbeiterklasse

Die Durchsetzung des Neoliberalismus im globalen Süden hatte Riots, Streiks und Revolten in weiten Teilen der Welt zur Folge, die oft als »anti-IWF-Riots« bezeichnet werden. Diese fanden weitgehend in den Städten statt.

Die globale Verlagerung der Produktion schuf keine neuen 'Arbeiterklassen'. Vielmehr gab die globale Verschiebung großen Teilen der Arbeiterklasse eine neue strukturelle Macht, die sie vorher vielleicht höchstens auf nationaler Ebene gehabt haben. Von Bangladesch, Vietnam und China über Brasilien und Swasiland bis Kenia und Bahrain waren HafenarbeiterInnen, BahnarbeiterInnen, ArbeiterInnen in Textil- und Schuhfabriken, ArbeiterInnen in Autofabriken und der Produktion und Weiterverarbeitung von Rohstoffen nun in einer Position, die Weltwirtschaft gleichzeitig auf nationaler und globaler Ebene anzugreifen und genau die Schnittstelle von lokaler und weltweit herrschender Klasse und ihre Versuche einer stärkeren Einheitsbildung zu treffen.

In einer neoliberalen Welt kann die Fähigkeit von entscheidender Bedeutung sein, die Verbindung zwischen einer nationalen und der globalen Wirtschaft oder den Zusammenhalt zwischen einer lokalen und der globalen herrschenden Klasse zu kappen. Dies bestätigte sich z.B. als auf dem Höhepunkt der Revolution in Ägypten landesweit Streiks ausbrachen. Die aufkommenden Streiks bei Unternehmen am Suez-Kanal und die Gefahr, dass dieser bei einer Ausweitung der Streiks geschlossen werden müsste, markierten das Ende Mubaraks - so sicher wie der Streik der Ölarbeiter 1979 dem Shah-Regime im Iran den letzten Stoß versetzte. Rund sechs bis sieben Prozent des Welthandelsaufkommens und rund ein Viertel des weltweiten Öltransports wird durch den Suez-Kanal abgewickelt. ArbeiterInnen in den sich entwickelnden industriellen Ländern waren auch vorher schon ArbeiterInnen oder zumindest ProletarierInnen, diese Länder waren auch vorher schon kapitalistisch. Aber die engere Einbindung in die kapitalistische Weltwirtschaft und der gleichzeitig stattfindende Angriff auf Lebensbedingungen und ArbeiterInnenrechte durch kapitalistische Kräfte hat sowohl die strukturelle als auch die organisatorische Macht der ArbeiterInnen vergrößert. Als ArbeiterInnen ihre traditionelle Waffe des Streiks in einem geografisch und quantitativ geschichtlich einmaligen Ausmaß gebrauchten, gab das zumindest eine Zeitlang den eher verzweifelten anti-IWF-Riots der 1980er und 90er Jahre und den breiteren, aber weniger zusammenhängenden Bewegungen gegen die kapitalistische Globalisierung in den späten 1990ern und frühen 2000ern eine klarere und einheitlichere Form. Diese neugefundene strukturelle Macht ist an sich Teil der politischen Krise, weil strategische Macht in den Händen von gesellschaftlichen Gruppen, die politisch nicht repräsentiert sind und deren Interessen der gegenwärtigen Politik entgegenstehen, zu einer politischen Krise bisweilen epischen Ausmaßes führen.

Die Streikwelle hat weltweit die Klassenbeziehungen in den Fokus gerückt. Breite Streikaktivitäten in einem Land stellen die Sparmaßnahmen in den Zusammenhang einer wachsenden Klassenkonfrontation. Zudem hat die Streikwelle den Weg für die politischen Revolutionen geebnet, die gerade die arabischen Länder in Nordafrika und am Persischen Golf erschüttern, indem sie Kampferfahrungen lieferte und die Unbezwingbarkeit der Herrscher und ihrer Politik in Frage stellte. Sie bot Inspiration und Sammelpunkte, mit denen sich andere, auch FacharbeiterInnen aus der Mittelschicht und StudentInnen, identifizieren und dann auf eigene Initiative und mit ihren eigenen passenden Taktiken handeln konnten. Kurz gesagt, die Streikwelle ist ein Moment der Klassenformation, in diesem Fall der Neuzusammensetzung durch den massenhaften Kampf der Arbeiterklasse auf Weltebene. Aber wo die Anti-Globalisierungsbewegung versuchte, durch komplexe Unterschiede verschiedener Ansätze, Forderungen und Ansichten hindurch zu wirken (einige sprechen sich für lokale Ökonomien aus, andere fordern universelle Rechte usw.), hält die Streikwelle den Kampf gegen die kapitalistische Globalisierung in gewisser Weise zusammen, fokussiert und politisiert ihn.

Wo nun Revolutionen in einer Vielzahl von Ländern auf der Tagesordnung stehen (und falls die These dieses Papiers stimmt, werden diese letztlich nicht auf die arabischen Länder beschränkt bleiben), kehrt die Komplexität, die die Anti-Globalisierungsbewegung international ausmachte, in gewisser Weise wieder, weil die relative Einheitlichkeit der Streikwelle in nationaldemokratische (bisher implizit, und vielleicht später explizit anti-kapitalistische) Revolutionen übergeht. Zweifelsohne ist jedes Gemeinwesen komplexer und vielgestaltiger, als einfach aus zwei Klassen oder dem zu bestehen, was die vereinfachten Darstellungen einer strengen Klassenanalyse erfassen können. Aber die Streikwelle trägt zum Ausbruch eines massenhaften Kampfs bei, zur Identifizierung eines gemeinsamen Gegners in der herrschenden Klasse, die von der Sparpolitik profitiert und diese als Intensivierung des neoliberalen Angriffs durchsetzt. Sie trägt zudem zur Entstehung einer breiteren Klassenfront bei, in der die DemonstrantInnen, ein repräsentativer Querschnitt der nationalen Bevölkerung, um Schlüsselfragen herum zusammenkommen; in der aber zugleich ArbeiterInnen als ArbeiterInnen und auch als Teil dieser größeren Bewegung durch ihre schiere Anzahl, ihren stärkeren Zusammenhang als Klasse und ihre Fähigkeit, Produktion und Transport zum Stillstand zu bringen, zum allgemeinen Kampf gegen die Regimes beitragen. Darüber hinaus dauern die Streiks nach dem Fall der Diktatoren oder neoliberalen Regimes nicht nur an, sondern sie gewinnen bisher wie in Tunesien und Ägypten an Dynamik, weil die Arbeiterklasse, fast schon wie im Lehrbuch, kollektiv als eine der Kräfte auftritt, die um nationale Bedeutung, Macht und Einfluss ringen.


Die Entstehung einer globalen politischen Krise

Um es kurz zu fassen: eine machtvollere Arbeiterklasse, die sich weiter von den Mächtigen entfernt hat und in quantitativer und qualitativer Hinsicht global auf einer höheren Ebene rebelliert, bedeutet eine politische Krise von neuem welthistorischen Ausmaß. Die Krise ist die Krise der Global Governance, insofern diese mit dem langen historischen Prozess der Hegemonie internationaler kapitalistischer Politik verbunden ist. Giovanni Arrighi zufolge haben in der kapitalistischen Geschichte aufeinanderfolgende hegemoniale Mächte den vorherrschenden Fraktionen des Kapitals Schutzdienste geboten und ihnen mit jeder Abfolge einen größeren politischen Raum für eine umfangreichere Sphäre der Akkumulation geboten. Da das Vermögen der USA, diese politische Organisation systemweit aufzubringen, sichtbar schwindet, ihre militärische Unanfechtbarkeit aber in der nahen Zukunft fortbestehen wird, beginnt die Suche des Kapitals nach einem politischen Partner, der die für den Kapitalismus insgesamt notwendigen organisatorischen Funktionen ausüben kann. Ich möchte die Behauptung aufstellen, dass die dominierenden Fraktionen des globalen Kapitals, vor allem das Finanzkapital, in den Organisationen der Global Governance und ihren Akteuren eine neue Klassenallianz zur politischen Vermittlung gefunden haben; eine Klassenallianz, die weder die politische Kontrolle noch die militärische Macht aufgibt, die sie historisch in den Territorialstaaten fand. Diese Allianz aus Finanzkapital und den Bürokratien der Global Governance stärkt auf nationaler Ebene insbesondere die Zentralbanken und Finanzministerien, und verwandelt sie in Instrumente der Global Governance. Allgemein wird die Exekutive gegenüber der Legislative aufgewertet und der Ausnahmezustand bevorzugt - weil er mehr Machtmittel bereitstellt, um dem Kapital dienliche politische Maßnahmen durchzusetzen. Das zeigen sowohl die Einschüchterungstaktiken, mit denen die Banken-Bailouts nach dem Finanzcrash 2008 in den USA durchgesetzt wurden, als auch der oben angeführte Konflikt um die Gesetzesreform in Michigan.

Aber Global Governance hat den möglicherweise ausschlaggebenden Nachteil, dass sie auf nationaler Ebene die EntscheidungsträgerInnen von ihrer sozialen Basis abtrennt und das kapitalistische Gesicht der globalen Organisationen und ihrer Verbündeten in den Nationalstaaten entblößt. Noch nie hatte das Kapital einen derart universellen und potentiell machtvollen politischen Verbündeten wie die Global Governance, und noch nie war seine gesellschaftliche Basis so dünn und zerbrechlich. Von Tunesien und Ägypten aus ist diese soziale Basis im politischen Aufstand zerbrochen. Von Griechenland bis Wisconsin wird sie in Frage gestellt.


Dies ist eine gekürzte Fassung, den kompletten Text findet ihr auf unserer Webseite www.wildcat-www.de, die englische Fassung enthält allen Quellenangaben.


Anmerkungen:

(1) i.O. »Austerity« (wörtl. Einschränkung, Enthaltsamkeit, Entbehrung, Strenge, Herbe), steht weniger für einzelne Sparmaßnahmen als für eine umfassende staatliche Sparpolitik, mit der öffentliche und private Ausgaben gesenkt werden sollen; für harte Kürzungen im Sozialbereich, Gehaltssenkungen und Entlassungen im öffentlichen Dienst usw. Es ist außerdem eine politischer Kampfbegriff, mit dem in Zeiten der Krise ein vernünftiger Ausweg vorgegaukelt und die Arbeiterklasse zu Kasse gebeten wird.

(2) Hegel verwendet den Begriff im Abschnitt »Polizei« in der Rechtsphilosophie, § 231 ff., wo es um Sozialstaat, Gesundheitsfürsorge, Kriminalitätsbekämpfung und Straßenbeleuchtung geht.

(3) Finance, Insurance and Real Estate, also Finanzsektor, Versicherungen und Immobilienbranche

Raute

Krise, Migration, Aufstände, Militarisierung - wie geht's weiter im Nahen Osten?

Die soziale Bewegung in Ägypten dauert an

Auf der Gegenseite geht die Angst um: »Es gibt sehr wohl einen Unterschied zwischen Kapitalismus und Korruption. Nur ist das leider erstickt worden von der Einstellung 'the whole damn thing is corrupt'« äußerte sich die Präsidentin der Amerikanischen Universität Kairo vor kurzem in der New York Times. Steven Colatrella arbeitet in seinen Thesen zur globalen Streikwelle heraus, dass zwei Linien der aktuellen Streikwelle in Nordafrika kulminiert sind. Arbeiterkämpfe in Schlüsselbereichen der globalen Arbeitsteilung (Transport, Rohstofferzeugung und -verarbeitung einschließlich Landwirtschaft) und Kämpfe im Öffentlichen Sektor, wobei die dort Beschäftigten mit den NutzerInnen ihrer Dienstleistungen zusammenkommen. Auf Ägypten bezogen ist das durchaus plausibel.

In den zwei Jahren vor der Revolte kämpften die Arbeiter vor allem im Transportsektor, der große Streik von 70.000 Truckern im Dezember 2010 ging dem Aufstand direkt voraus. Seither brodelt es weiter, es gibt Streiks bei den Eisenbahnen, den Flughäfen und regional von Taxi- und Minibusfahrern. Die große Bedeutung des Transports zeigt sich auch in seiner Unterbrechung: regelmäßig blockieren streikende Arbeiter und protestierende Slum- und Dorfbewohner Straßen und Schienen, um ihre Forderungen durchzusetzen. Auch kleinere Streiks in der Energieerzeugung und Baustoffindustrie waren erfolgreich.

Im Öffentlichen Dienst ist auf den wichtigen Streik der Steuereinsammlerinnen Ende 2008 zu verweisen. Neben Streiks an den Unis war außerdem das medizinische, pflegerische und technische Personal an den Krankenhäusern immer wieder im Kampf. Seit der Revolte haben Kämpfe im Öffentlichen Dienst noch zugenommen, von Polizei und Verwaltungsangestellten über staatlich bezahlte Imame bis zu den Heiratsregistrierern.

Eine wichtige politische Funktion im Vorfeld der Aufstandsbewegung hatten die Kämpfe im relativ kleinen (wenn auch im Vergleich zu anderen arabischen Ländern großen) industriellen Kern der Wirtschaft (vor allem in der Textilindustrie). Durch neue Organisationsstrukturen und die Mobilisierung großer Arbeitermassen konnten sie die Spaltungspolitik des Regimes über den Haufen werfen; die soziale Trennung zwischen Arbeitern, städtischen Armen und Teilen der studierten, aber arbeitslosen »Mittelschichtsjugend« löste sich vorübergehend auf. Der Aufstand der TextilarbeiterInnen in Mahalla al Kubra 2008 ist der wichtigste unmittelbare Vorläufer der Aufstandsbewegung.

Durch seinen quantitativen Ansatz übersieht Colatrella allerdings die Zäsur durch die Krise 2008. Es gab keinen statistischen Rückgang von Streiks und Protesten, so dass man von einer ungebrochenen Welle ausgehen könnte. In Wirklichkeit haben sich die Kämpfe aber deutlich verändert. Bis Ende 2007 waren sie davon geprägt, dass Betriebe ihren Anteil an den Gewinnen im Wirtschaftsboom und bei der Privatisierung einforderten und mafiöse Machenschaften anklagten. Ab Ende 2007 fraß die massive Inflation und Verteuerung vor allem von Lebensmitteln die erkämpften Lohnsteigerungen auf. Ab Mitte 2008 erfasste die Wirtschaftskrise die Textilindustrie, der mittlerweile der Kollaps droht.

Die Kämpfe gingen zwar weiter, wurden aber »politischer« in dem Sinne, dass sie Institutionen wie die Gewerkschaft angriffen und den Staat aufforderten, für einen Weiterbestand der Firmen zu sorgen oder eine soziale Absicherung zu übernehmen. Gleichzeitig wuchs eine Protestbewegung für ein stärkeres soziales Engagement des Staates etwa durch Lebensmittelsubventionen, Gesundheitsversorgung und eine verbesserte Infrastruktur. Diese »Krisenkämpfe« haben einen ausgeprägt egalitären Geist, z.B. ist die Forderung nach Festeinstellung von prekär Beschäftigten heute meist selbstverständlich. Sie sind aber auch als Arbeitskämpfe defensiv und ihre Forderungen an den Staat könnten als Sehnsucht nach vergangenen staats»sozialistischen« Zeiten oder einem neuen Keynesianismus gedeutet werden. So zumindest die Interpretation unabhängiger Gewerkschaften und linker Parteien, die mit ihren Organisierungsversuchen an solchen Perspektiven anzuknüpfen versuchen. Meiner Ansicht nach sind solche Forderungen aber erstmal Ausdruck des verbreiteten Gefühls: »We want a better life and we want it now!« Da Lohnforderungen unter den gegebenen Rahmenbedingungen illusorisch sind und existenzbedrohte oder bereits bankrotte Unternehmer nicht in die Pflicht genommen werden können, richten sich die Forderungen erstmal an den Staat.

Im Verhältnis zu den im Land lebenden rund 100 Millionen Menschen ist die ägyptische Industrie nur sehr marginal in globale Produktionsstrukturen eingebunden. Wo sollen die ArbeiterInnen also einen Punkt finden, um Macht auszuüben? Ein sehr großer Teil der ägyptischen Bevölkerung lebt in einer informellen Dienstleistungsökonomie. Tourismus und persönliche Dienstleistungen sind seit dem Aufstand massiv eingebrochen und dementsprechend sind die davon abhängigen Menschen in einer verzweifelten Lage. Das drückt sich u.a. in zunehmender (teilweise organisierter) Gewalt im Alltag aus. Ärzte werden von Patienten und deren Angehörigen bedroht; es gibt immer wieder tödliche Auseinandersetzungen um Lebensmittel und Benzin; in Alexandria stürmten Ende April Hunderte eine Textilfabrik, um die Maschinen auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen (woraufhin Arbeiter und Mitglieder der popular committees die Fabrik »befreiten«). Dieses Subproletariat war ein Teil der Machtbasis der alten Elite; hier können die lokalen Fürsten des Regimes bezahlte Schläger rekrutieren, um Demonstrationen anzugreifen.

Besteht also analog zum kriegerischen Zerfall vieler Länder Osteuropas nach `89 die Gefahr eines - möglicherweise religiös geprägten - Zerfalls von Ägypten? Noch ist die Bewegung gegen die alten Machtstrukturen auch in den Betrieben und im Alltag stark genug, auf die bislang vereinzelten Ereignisse zu reagieren. Eine Verschlechterung der ökonomischen Lage, die Finanzierung von islamistischen Gruppierungen durch Saudi Arabien und eine Stagnation der Revolte könnten die Lage allerdings verschlechtern.

In den islamistisch legitimierten Bürgerkriegen der 90er Jahre, etwa in Algerien, stritten mafiöse Netzwerke um die Verteilung des Kuchens. Das war die Begleitmusik der neoliberalen Privatisierungspolitik, die in Ägypten mit dem Aufstand an ihr Ende gekommen ist. Auf welcher Basis sollte eine islamistische Bewegung heute also fußen? Die Taliban versprechen, den äußerst gewalttätigen Zerfall der Gesellschaft durch ein extrem rigides Regime zu überwinden, also wieder eine abgeschottete und »eingefrorene« Gesellschaft aufzubauen. Das ist in einem Land wie Ägypten kaum eine Perspektive, zu sehr hängt das Land allein schon bei der Versorgung mit Grundnahrungsmitteln vom Weltmarkt ab. Die größere Gefahr ist allerdings, dass das Regime in Zusammenarbeit mit den autoritären Golfmonarchien die Situation genau so weit eskaliert oder eskalieren lässt, dass es von einer Mehrheit wieder als notwendiger Ordnungsfaktor anerkannt wird.

Nicht nur deshalb muss die Bewegung auf die Instrumentalisierung des Subproletariats als Schläger anders reagieren, als es die Teile der mittelständischen »Protestelite« tun, die eine ambivalente Kooperation mit dem Militär als Ordnungsfaktor suchen; das ging soweit, dass die Revolutionary Youth Coalition die Vertreibung von Demonstranten vom Tahrirplatz politisch vorbereitete. Die zugrundeliegenden sozialen Probleme müssen angegangen werden. Es gibt durchaus Ansätze und Versuche, die soziale Lage des »informellen Proletariats« aufzugreifen und Widerstandsstrukturen von unten aufzubauen. Zahlreiche Stadtteilversammlungen nehmen die Verbesserung der Lebensbedingungen in Angriff. »Interreligiöse Solidarität« setzt sich immer wieder gegen angestachelte Konflikte durch: »Den Protest ... hatten Kopten gestartet, ihm hatten sich jedoch auch Muslime und viele junge Protestierende angeschlossen... Religion spielte keine große Rolle. Er richtete sich in Slogans und Plakaten vorrangig gegen das Militär und die Polizei, forderte den Rücktritt von General Tantawi und eine zivile Übergangsregierung« (Tahrir-Beobachtungen in Ägypten. Ausgabe Nr.1 / 24. Mai 2011). Es gibt auch häufig selbstorganisierten Widerstand gegen Polizei und Militär, für die Freilassung von Gefangenen, es gibt Häftlingsrevolten u.a.m. - leider wird über solche Bewegungen hierzulande wenig berichtet.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:
- SteuereinsammlerInnen im Streik

Raute

"Mir scheint das Leben außerordentlich lebendig."

Auszüge aus einem Bericht von Savo, einem Schweizer Genossen, der den Mai über in Kairo war.

Montag, 9. Mai

Die Leute, welche ich getroffen habe - Aktivisten, Prolls, Angestellte, Arbeitslose, BettlerInnen, usw. - wollen, dass der Aufstand weitergeht. Viele verknüpfen unglaublich positive Erlebnisse mit den Tagen auf dem Tahrir-Platz. Alle, die dort waren, würden am liebsten morgen wieder auf den Platz, Zelte aufschlagen, sich selbst organisieren, sich gegenseitig helfen, tätig werden. Ich spüre einen enormen Tatendrang: Eine mir bis anhin unbekannte Freude am "aufeinander Schauen". Das ist - kurz zusammengefasst - die emotionale Ebene. Dazu gehören natürlich auch all die unendlich traurigen Geschichten der Leute, welche FreundInnen in den Kämpfen auf den Straßen Kairos verloren haben, über den Haufen geschossen von der Gegenseite, blutige Kämpfe, Angst, Verzweiflung, eine unglaubliche Wut gegen alles. Die Wut, der vielen so unfassbar armen Teufel unter den Prolls kann man kaum beschreiben. Einsame Kreaturen, die mitten in der Nacht durch die Straßen irren und ihren ganzen Schmerz, den dieses System ihnen angetan hat, halb betrunken, halb geisteskrank gegen die Regierungspaläste schreien.

Aber natürlich haben die meisten Menschen auch eine strategische Sicht auf die ganze Geschichte. Natürlich wissen die Leute, dass sie für einen Moment in ihrem Leben den Verlauf der Geschichte bestimmen konnten. Ich finde ziemlich wichtig, dass die Leute Macht erlebt und ausgeübt haben und sie nun fassbarer, bewusster ist. Sie wollen Verantwortung nicht einfach delegieren, sondern sehen sich selbst in der Verantwortung. SIE müssen handeln, es liegt an IHNEN.

Andererseits sind da noch ganz viele Illusionen in den Köpfen. Viele warten auf DIE neue Partei, die ersten RICHTIGEN Wahlen, usw. Wenn ich dagegen argumentiere, merke ich jedoch oft, dass sie salbst auch nicht wirklich an das glauben, was sie erzählen. Dann gibt es die politisch Radikalen, welche davon ausgehen, dass das Militär die Macht womöglich nicht abgeben möchte/kann, die Situation sich deswegen zuspitzen wird und ganz allgemein die aktuelle Tendenz des Anstiegs der Klassenauseinandersetzungen weitergeht. Ein aufmerksamer Beobachter der Klassenkampfaktivitäten bestätigt diese Annahmen.

Eine weitere Gruppe, die Subprolls, ist am schwierigsten einzuschätzen. Diese merken noch stärker als alle anderen, dass sich absolut gar nichts verändert hat - außer, dass man sich jederzeit die Straße nehmen kann, ohne dass einen die Bullen gleich einfahren. Ich weiß nicht, welche Erwartungen an die Zukunft diese Menschen haben. Ich denke, die wollen einfach nur alles weg haben, was sie kaputt macht, und haben keine Hoffnungen in die bestehenden und sich neu gründenden Institutionen. Ich sehe aber immer wieder Subprolls mit zerfetzten Kleidern und in miserabler gesundheitlicher Verfassung auf den Demos, wie sie voller Freude Teil von etwas Großem sind.

Es wird extrem viel, lange und impulsiv diskutiert. Überall. In den Läden, auf dem Tahrir-Platz, auf den Demos, im Café, usw. Mir scheint das Leben außerordentlich lebendig. Manchmal arten diese Diskussionen in wilde Streitereien aus, manchmal in fröhliche Spontandemos. Ich stelle fest, dass jeder weiß, dass er was zu sagen hat und die meisten diese Gelegenheit auch wahrnehmen. Alle quatschen ihnen Fremde auf der Straße an, bringen selbstbeschriebene Zettel und Plakate auf die Demos mit, zeichnen satirische Bilder gegen die Militärs, Mubarak, usw. Das sagt noch nichts über den Inhalt aus, aber zumindest wirken die Formen erfrischend, spontan, unerfahren und kraftvoll.

Oft sagen mir die Leute: "Weißt du, wir wissen gar nicht, wie das geht, ein Land regieren, Revolution machen, kämpfen und miteinander über die Zukunft reden." Ich antworte dann, dass sie doch, genau aus dieser Unerfahrenheit heraus, spontan eben das geleistet haben, was sie glauben, nicht leisten zu können. Und wenn man sie fragt, wie denn all die Millionen Leute auf den Straßen in den Tagen des Aufstands überleben konnten, friedlich nebeneinander, mit einer funktionierenden städtischen Infrastruktur (wo doch niemand mehr gearbeitet hat...), dann dämmert es einigen. Auf diesen Erfahrungen der sogenannten Tahrir-Kommune muss man meines Erachtens aufbauen. Da war so etwas wie kommunistische Praxis anscheinend wirklich zum Anfassen nah.

10. Mai 2011

Ich habe mit einer Ärztin aus dem Rat der Streikenden gesprochen: Hauptsächlich geht es den Ärzten, aber auch den anderen ArbeiterInnen im Gesundheitswesen darum, Druck zu machen um eine Erhöhung des Budgets für das gesamte Gesundheitswesen zu erkämpfen.

Sie haben vier Forderungen in ihrer Versammlung artikuliert:

1. Weg mit der Korruption im Gesundheitsministerium. Die korrupten Bosse und Minister müssen weg. Sie wollen andere, selbst Gewählte an deren Stelle.

2. Sie wollen für die Ärzte Sicherheit während der Arbeit. Sie wurden immer wieder von Schlägern attackiert, die Personal und Patienten verletzt und teilweise getötet haben. Das sei während Kundgebungen immer noch der Fall.

3. Massive Erhöhung der Gelder/Mittel ihr Gesundheitsprogramme und für die Ausbildung des Personals.

4. Die sehr niedrigen Löhne sollen so angehoben werden, dass sie mit denen überall auf der Welt vergleichbar sind.

Es gibt eine Basisgewerkschaft, welche hinter dem Streik steht. Zusammen haben sie einen Rat gewählt, der sieh aus acht Leuten aus dem Syndikat und zwölf Leuten aus der unorganisierten Belegschaft zusammensetzt.

Die Leute, welche den Streik angezettelt hatten, trafen sieh zum ersten Mal auf dem Tahrir-Platz. Dort wurde erstmals über einen Streik diskutiert. Die meisten Angestellten der Spitäler in Kairo waren Teil der selbstorganisierten, improvisierten "Spitäler" auf und rund um den Tahrir-Platz. Sie waren jedoch nicht nur als medizinische Fachleute in die Kämpfe involviert. Auch sie kämpften für den Sturz Mubaraks, ein besseres Lehen und für ihre Zukunft. Während des Aufstands kamen sie zum Schluss, dass sie ein anderes Gesundheitssystem wollen und dass sie dafür kämpfen müssen.

Die Ärztin erzählte mir, dass ihr Streik die "normale Kontinuität der Revolution" ist, denn der Kampf gegen die Korruption und für ein gutes Gesundheitswesen leite sich direkt von den Forderungen während des Aufstands ab.

Spannend sind meines Erachtens drei Punkte:

1. Es werden Lohnforderungen gestellt, welche die Grenzen des Möglichen sprengen (europäische Löhne sind in Ägypten niemals durchzusetzen, ohne die Krise zu verschärfen).

2. Die Spitalangestellten waren und sind eine praktische Notwendigkeit während der Kämpfe, und sie verstehen sich ganz bewusst als Teil des Aufstands.

3. Sie betrachten ihren Streik nicht als gesellschaftlich isoliertes Ereignis, sondern als logische Fortsetzung des Aufstands.


Randbemerkung

Mit dem Newsletter "Tahrir - Beobachtungen in Ägypten" versuchen Leute aus Kairo, Berlin und Zürich, die sich auf den Straßen Ägyptens getroffen haben, ihre Beobachtungen weiterzugeben und ein Soli-Netzwerk aufzubauen, das Artikel aus Ägypten übersetzt, Kämpfe analysiert, über sie berichtet und sie unterstützt. Eine Webseite ist in Arbeit. Aktuell wird noch unter der im Newsletter erwähnten Blog-Adresse veröffentlicht. Die bisherigen Projektunterstützer haben teilweise unterschiedliche politische Positionen und schätzen die Situation dementsprechend auch unterschiedlich ein. Einigkeit besteht darin, dass die Aufstände in Nordafrika wichtig sind - auch für uns hier in Europa, dass wir von den Erfahrungen lernen können und uns zu den Kämpfen solidarisch verhalten sollten. Vielleicht kann dieses Projekt dazu beitragen, der Diskussion hier neuen Schwung zu verleihen oder zumindest den Fokus darauf zu richten, die Kämpfe, welche sich aktuell in verschiedenen Teilen der Welt entwickeln, in einem Kontext zu begreifen.

Über UnterstützerInnen, die Artikel übersetzen, Informationen zusammentragen, auf Artikel zu Ägypten hinweisen, über Veranstaltungen informieren, usw. ist die Redaktion des Newsletters und der - bald aufgeschalteten Webseite - dankbar. Kontaktadresse ist: egypt@riseup.net.

Raute

Arabischer Frühling oder Aufstand der Einheimischen?

»Vielleicht ist es an der Zeit, dass wir den Weg Ägyptens gehen.«
(Ein Transportarbeiter in Nairobi, Mai 2011

Der Bruch mit der politischen, sozialen und kulturellen Ordnung strahlt weit in afrikanische und auch europäische Länder aus und beflügelt die Widerständigkeit. Andererseits deutet sich eine militärische Konterrevolution an, die an der großen Schwachstelle der Aufstände ansetzt: der tief sitzenden Spaltung der Arbeiterklasse in Einheimische und MigrantInnen. Dafür steht vor allem der Krieg in Libyen, die militärische Restaurierung der Regimes am Golf, die kriegerische Entwicklung im Jemen und die Militarisierung des sozialen Aufruhrs der verarmten Landbevölkerung im Süden Syriens durch Saudi Arabien und die USA. Welche Rolle die MigrantInnen spielen, wird ganz wesentlich darüber entscheiden, in welche Richtung sich die Bewegung entwickelt.

Migration
In den ölreichen Ländern am Golf und in Nordafrika hat sich die Bevölkerungsstruktur in den letzten Jahren massiv verändert: Etwa die Hälfte der Einwohner dieser Länder sind MigrantInnen. Das irreguläre Migrationsregime Libyens wurde im Zuge der kriegerischen Auseinandersetzungen bekannt. Bereits 2005 gab es 600.000 legale und zwischen 750.000 und vier Millionen illegale Gastarbeiter, die Schätzungen gehen weit auseinander. Neben (legalen) asiatischen Kontraktarbeitern stammt die Mehrzahl der MigrantInnen aus subsaharischen Ländern und hält sich sich halb- oder illegal im Land auf.

In den sechs Ländern (Kuwait, Bahrain, Saudi-Arabien, Katar, Vereinigte Arabische Emirate und Oman) des Golfkooperationsrates (GCC) leben 40 Millionen Menschen, davon sind 20 Millionen MigrantInnen, von denen wiederum Dreiviertel aus asiatischen Ländern stammen (v.a. Indien, Pakistan und Bangladesch). Sie werden extrem kontrolliert, bei der Ankunft wird ihnen meist der Pass abgenommen, so dass eine selbst gewählte Rückkehr unmöglich wird. Wenn sie sich auch nur geringfügig wehren, werden sie abgeschoben, eingeknastet oder mit der Todesstrafe bedroht.

Durchschnittlich 70 Prozent der Arbeitenden in den GCC-Ländern sind MigrantInnen. Das Bild einer migrantischen Arbeiterklasse wird noch deutlicher, wenn man die Beschäftigung im Privatsektor betrachtet: In Kuwait etwa werden weniger als zwei Prozent dieser Arbeitsstellen von Einheimischen besetzt.

Als Gründe werden mangelhafte praktische Ausbildung, »zu hohe« Ansprüche, die Nichtbereitschaft zur Unterordnung und mangelnde Produktivität der Einheimischen genannt. Die Arbeitslosigkeit gerade unter jugendlichen Einheimischen ist dementsprechend groß, es gibt lediglich die Aussicht auf eine Stelle im Öffentlichen Sektor; dieser traditionell sehr unproduktive Bereich schrumpft allerdings durch die Privatisierungspolitik stark. Aber alle Programme zur »Omanization«, »Saudization«, »Emiratization« usw. haben es nicht geschafft, die Einheimischen zu weltmarktkompatiblen Bedingungen ans Arbeiten zu kriegen. Während diese in einem (relativ gesehen!) »goldenen Käfig« aus sozialstaatlich finanzierter Arbeits- und Perspektivlosigkeit und politischer Repression eingesperrt sind, wird es gleichzeitig immer teurer, die ausländische Arbeiterklasse unter Kontrolle zu halten.

Die Kosten der Militarisierung
Die Ölstaaten gewinnen durch die MigrantInnen: Diese machen die untersten Arbeiten, die kein Einheimischer zu machen bereit ist. Sie machen aber auch die Arbeiten, für die es keine qualifizierten Einheimischen gibt. Zudem müssen sie einen Teil ihres Lohns im Land lassen.

Allerdings fließt ein großer Teil der Löhne auch ab (die letzten verfügbaren Zahlen betreffen 2004; die Rückflüsse aus allen GCC-Staaten waren in diesem Jahr 27 Mrd. US-Dollar, 16 Mrd. davon stammten von MigrantInnen aus Saudi Arabien - das waren 10-11 Prozent des BIP!). Wie schlecht auch immer - es muss eine gewisse Infrastruktur für die MigrantInnen bereitgestellt werden, Wohnungen, Gesundheitsversorgung... Eine Kostenstelle ist zuletzt massiv gestiegen, die Ausgaben für Überwachung und Unterdrückung. Vor kurzem haben die Vereinigten Arabischen Emirate eine dauerhafte Brigade von Reflex Responses, einer neuen Söldnerfirma des Blackwater-Chefs Eric Prince, aufstellen lassen, um die Militanz der ausländischen ArbeiterInnen unter Kontrolle zu halten. Es gibt volkswirtschaftliche Berechnungen, wonach sich die Beschäftigung der MigrantInnen in den Golfstaaten unter Berücksichtigung aller Profite und Kosten kaum mehr lohnt.

Grenzen des Sozialstaats und Chancen zur Neuzusammensetzung
Der Aufstand in Bahrain hat viele Vorgeschichten. Bereits 1999 gab es in Kuwait gemeinsame Massenriots von Ägyptern und Kuwaitern wegen schlechter Lebensbedingungen, 2005 gewaltsame Auseinandersetzungen von asiatischen Arbeitern in Kuwait, Bahrain und Katar mit der Polizei und von 2006 bis heute Streiks, Demonstrationen und Straßenblockaden von bis zu tausenden asiatischen Bauarbeitern in Dubai. Auch in Libyen streikten in den letzten Jahren ausländische Arbeiter. Soweit erkennbar, sind diese allerdings meist unter sich geblieben und wurden dann abgeschoben.

Der Frust der einheimischen Jugend verbindet sich bisher nicht mit der Wut der ausländischen ArbeiterInnen. Das zeigen die Pogrome gegen schwarzafrikanische Migranten in Libyen - im Jahr 2000 kamen dort bis zu 500 Menschen um, hunderttausende wurden ausgewiesen. Im gegenwärtigen Aufstand kam es verschiedentlich zu Überfällen auf Wohnheime und Baustellen, um gegen die Beschäftigung ausländischer Arbeiter zu protestieren. Die Militarisierung des Konfliktes hat die Migranten endgültig für alle Seiten zum Freiwild gemacht, nachdem Gerüchte gestreut wurden, Gaddafi würde Söldner aus dem Sudan und anderen Ländern einfliegen (selbst die UN-Flüchtlingsorganisation verwies sehr früh auf die politische Absicht hinter diesen Gerüchten und kritisierte deren unhinterfragte Verbreitung in europäischen Medien). Außerdem können sie in der chaotischen Situation einfacher ausgeraubt werden. Und manche Unternehmer zahlen einfach keine Löhne mehr und überlassen die Menschen ihrem Schicksal. Beispielhaft war die Situation in der libyschen Hafenstadt Misurata, wo während der Kämpfe zwischen »Rebellen«, NATO und Gaddafi-Truppen tausende Migranten im Hafen campierten. Die Gaddafi-Truppen beschossen sie, weil die NATO den Hafen als Umschlagplatz benutzte, die »Rebellen« griffen sie an, da ja »Söldner« unter ihnen waren, die NATO bombardierte sie, da libysche Truppen in der Nähe waren - und sicherlich auch, um ihnen klar zu machen, dass sie die Reise nach Europa erst gar nicht anzutreten brauchen.

In Bahrain ist die Konstellation eine andere. Unter der einheimischen schiitischen Bevölkerungsmehrheit gibt es relativ viele Arbeiter, das sunnitische Herrscherhaus stützt seine Macht zunehmend auf ausländische sunnitische Söldner: über die Hälfte der Sicherheitskräfte sind Pakistanis. Die Wut gegen die Repressionsorgane entlud sich z.T. pauschal gegen die pakistanische Community, von der natürlich bei weitem nicht alle im Polizeiapparat arbeiten. Eine ganze Reihe von Pakistanis wurde sogar umgebracht.

Die finanziell angeschlagenen Regimes werden den seit dem Ölboom der 50er Jahre verfolgten Weg, eine unproduktive Schicht Einheimischer mit Sozialleistungen ruhig zu stellen, nicht weiter verfolgen können. Und auf Dauer werden sich die Kämpfe der einheimischen Jugend mit denen der MigrantInnen verbinden müssen. Die Chancen dafür stehen gar nicht so schlecht, wie es im Moment aussehen mag:

- Weil die Arbeiterklasse in den Ölländern multinational ist, haben Klassenkämpfe sehr oft globale Merkmale und Bezüge. Zum Beispiel wurden 2004 Büros von Qatar Airways in der nepalesischen Hauptstadt Kathmandu verwüstet, nachdem im Irak vier nepalesische Kontraktarbeiter umgebracht worden waren. Auch in den letzten Monaten protestierten Angehörige von Arbeitern aus Bangladesch und den Philippinen zu Hause dagegen, dass die libysche Regierung ihre Verwandten im Stich lässt.

- Die Aufstandswelle selbst hat globale Auswirkungen: Die Flucht hunderttausender Migranten aus Libyen hat Niger, Mali, die Elfenbeinküste und Burkina Faso destabilisiert - in Burkina Faso ist es zu gewaltsamen Aufständen aufgrund nicht bezahlter Löhne, extrem gestiegener Lebensmittelpreise usw. gekommen. Zehntausende Arbeitsmigranten aus Libyen sind nach Ägypten zurückgekehrt, ihre Geldüberweisungen fehlen nun, während die Arbeitslosigkeit im Land steigt. In Saudi Arabien leben 2,5 Millionen ägyptische Arbeitsmigranten; man kann sich die sozialen Auswirkungen vorstellen, wenn das Regime die angedrohte Ausweisung aller Migranten, die seit mehr als sechs Jahren im Land sind, tatsächlich umsetzt.

Landgrabbing
Die stark gestiegenen Lebensmittelpreise sind ein weiteres Pulverfass. Seit mehreren Jahren versuchen alle arabischen Regimes, ihre Versorgung mit Grundnahrungsmitteln so weit wie möglich vom Weltmarkt abzukoppeln, indem sie über Staatsfonds riesige Ländereien in Afrika und Zentralasien aufkaufen. Die Auslagerung sozialer Probleme auf andere Länder stößt angesichts einer globalen »Revoltenstimmung« allerdings auf Schwierigkeiten. Das zeigte sich jüngst in einem Konflikt zwischen Ägypten und dem Sudan: In Reaktion auf die Aufstandsbewegung kaufte die Militärregierung große Flächen im Nordsudan, die sie ägyptischen Firmen zur Bearbeitung übergab. So soll die eigene Bevölkerung mit Grundnahrungsmitteln versorgt und das Risiko für Ernteausfälle dem Sudan aufgebürdet werden. Gleichzeitig kann die »gebildete Jugend« ihr Glück als Unternehmer in der Agrarwirtschaft versuchen.

Dies führte jedoch umgehend zu Protesten sudanesischer Bauern, die entschädigungslos enteignet werden sollen, und zu Protesten der sudanesischen »gebildeten Jugend« in Karthoum, die Jobs für sich reklamiert...

Raute

Wem gehört das Land?

Bauernkämpfe in Indonesien

Im Dezember 2008 überfielen 500 Polizisten und private Schläger den Weiler Suluk Bongkal in der Provinz Riau und vertrieben die Bewohner. Zwei Militärhubschrauber warfen Napalm ab, um die 700 Hütten abzufackeln. Zwei Kinder wurden getötet, 200 Leute festgenommen, die anderen konnten fliehen. Der Überfall geschah im Auftrag des Sinar Mas-Konzerns.

In Indonesien ist nur ein kleiner Teil des Bodens mit einem Besitztitel versehen - auf der Hauptinsel Java etwa ein Drittel, auf den anderen Inseln noch weit weniger. Nicht alle Streitfälle werden bekannt, es sind hunderte, möglicherweise tausende mit Toten (2011 schon mindestens sieben Opfer), Verletzten, Verhaftungen. Aber die Kämpfe sind immer lokal, es gibt so gut wie keine Verbindung zwischen ihnen.


Herrschaft, Ausbeutung, Raub: Kurzer Abriss über die
Bauerngeschichte

Indonesien könnte das Paradies sein: tropisches Klima, fruchtbarer Boden, Wasser im Überfluss. Möglicherweise gab es deshalb im vorkolonialen Feudalismus keinerlei Vorstellung darüber, dass der Boden jemandem gehören könnte. Feudalismus ist durch persönliche, direkte Gewalt- und Herrschaftsbeziehungen definiert. Dazu braucht es Ideologie (Religion) und Waffen, die nur auf der einen Seite verfügbar sind.

In Europa gab es, als Erbe des römischen Kaiserreichs, bei den Herrschenden und bei den Beherrschten immer einen Bezug zum "eigenen" Land - trotz der Wanderungen, der vielen Vertreibungen durch Kriege, Fehden usw. Der Bauer arbeitete auf "seinem" Land und das blieb - im Prinzip - auch so, wenn der Herr wechselte. Ihm zahlte er von dem, was er "seinem" Land abgerungen hatte, eine Feudalsteuer, zum Beispiel den "Zehnten" an die Klöster.

In Indonesien besaß ein Fürst kein Land, er besaß Bauern, Gefolge. Diese hatten Kopfsteuer zu entrichten. Wenn ein Raja einem Unterling ein neues Gebiet zuwies, brachte der "seine" Bauern mit und vertrieb die Ansässigen. Den Bauern wurde Land zugewiesen, auf dem sie die zu zahlende Kopfsteuer erwirtschaften sollten. Eine Vorstellung von Land als "Besitz" gab es weder bei den Herrschenden, noch bei den Beherrschten. Da die Bevölkerungsdichte gering war, gab es für die Leute immer die Möglichkeit, sich irgendwo ein neues Stück Land urbar zu machen.

Die Kopfsteuer wurde dorfweise entrichtet, der Dorfvorsteher hatte dafür zu sorgen, dass sie erbracht werden konnte. Die Bewässerung der Reisfelder ist üblicherweise eine gemeinsame Anstrengung des Dorfes; so wurde auch der Boden gemeinsam, d.h. durch den Dorfvorsteher, verwaltet. Mal wurde er nach jeder Ernte neu verteilt, mal nur, wenn der bisherige Besitzer starb.

Die Vorstellung von "Landbesitz" wurde von den Kolonialmächten gebracht. Die holländische VOC verwaltete allerdings nur einen kleinen Teil der Fläche direkt; sie zwang die Fürsten, Abgaben zu zahlen, so dass sich erst wenig änderte - außer dass die Ausbeutung der Bauern verschärft wurde. Erst die Engländer (während der "Kontinentalsperre" 1806-14) führten westliches Recht und die Idee von Eigentum ein. Sie sprachen den gesamten Grund und Boden dem Staat, d.h. dem Adel zu, der es den Dorfvorstehern verpachten konnte und die wiederum an die Bauern. Die Holländer luchsten später den Adligen ohne Ausnahme den Boden gegen die Zahlung einer kleinen Apanage wieder ab - die hatten überhaupt nicht verstanden, was sie da wieder hergaben. Die Folge war, dass die Dorfvorsteher und die einheimischen Regionalverwalter ("Bupati") reich wurden, die Masse der Bauern verarmte, viele erlagen schrecklichen Hunger- und Krankheitsepidemien. Die Bauern waren aber nicht nur Erdulder, sondern wehrten sich - indem sie flohen oder indem sie sich an Aufständen beteiligten. Im 18. und 19. Jahrhundert gab es "fast jedes Jahr" lokale Bauernaufstände. Privater Großgrundbesitz (wie etwa auf den Philippinen) ist nie entstanden - am Ende der Kolonialzeit erbte die Republik Indonesia riesigen Staatsbesitz.

Die junge Republik übernahm zunächst die Gesetze der Kolonialmacht, ergänzt durch das Prinzip "Das Land denen, die es bebauen". "Abwesende Besitzer" wurden enteignet, umverteilt aber wurde kaum. 1960 begrenzte das Gesetz zur "Landreform" die Größe von privatem Grundbesitz und sprach jedem Bauern Grundbesitz zu. Das Gesetz gilt im Prinzip heute noch, umgesetzt wurde es nie. Allerdings nahmen die armen Bauern, die millionenfach im Bauernverband der Kommunistischen Partei PKI organisiert waren, die Landverteilung oft selbst in die Hand. Das Massaker "an den Kommunisten" nach dem Militärputsch 1965/66 war im Kern ein Massaker an den armen Bauern durch die reicheren Grundbesitzer, die um ihren Besitz fürchteten. Die Diktatur unter Soeharto versuchte wenig erfolgreich, mittels der Staatsplantagen eine "Grüne Revolution" durchzuführen. Die Staatsplantagen verwalteten aber nicht nur alten Staatsbesitz, sondern rissen auch Land der Bauern an sich, vor allem der Bauern, die als "Kommunisten" um ihr Leben fürchteten und sich nicht wehrten. Etwa 40 Prozent des Bodens der Staatsplantagen seien gestohlen, meinte der Präsident von 2000, Abdurrahman Wahid. Die Armut auf dem Land nahm nicht ab.

Um das Jahr 2000 zählen etwa 42 Millionen Familien (124 Millionen Menschen) als Bauern, von ihnen besitzen knapp zehn Millionen Familien gar kein Land und weitere zehn Millionen weniger als einen halben Hektar. Von den 190 Millionen Hektar Landfläche in Indonesien besitzen die Bauern knapp acht Millionen, die Staatsplantagen 23 Millionen Hektar. Seit dieser Zeit wächst eine dritte Partei, die vorher nicht so wichtig war: privatkapitalistische Plantagen.

Es geht vor allem um die Ölpalme. Vor hundert Jahren eingeführt, gedeiht sie am besten in Moorgebieten, d.h. in frisch gerodetem Urwald. Umfassten die Palmölplantagen 1995 noch eine Million Hektar, sind es heute mehr als sechs Millionen. Wie viel Waldmoorland dafür abgeholzt wurde, weiß so richtig niemand; sicher ist, dass noch Konzessionen für weitere 41 Millionen Hektar Wald offen sind und trotz kürzlich beschlossenem Abholz-"Moratorium" genutzt werden können.

Auseinandersetzungen um Land werden heute an zwei Fronten geführt, die sich manchmal überschneiden. Seit dem Sturz Soehartos kämpfen viele Bauern um die Rückgabe des Landes, das ihnen während der Diktatur zugunsten der Staatsplantagen geraubt worden war; viele Fälle sind noch nicht entschieden. Und seit wenigen Jahren nehmen die Streitfälle zwischen Bauern und privaten Plantagenfirmen zu, die von irgendwoher ein Nutzungsrecht bekommen haben und das Land der Bauern in Beschlag nehmen.

Statistik und Wirklichkeit: Beispiel Tapsel

Tapanuli Selatan war früher ein sehr ländlicher, dünn besiedelter und armer Regierungsbezirk. Etwa 300 km südlich vom Toba-See gelegen, gehört er noch zur Provinz Nordsumatra. Seit dem Gesetz zur "Autonomie der Gebiete" 2004 ist die Zentralregierung nur noch für den Primärwald zuständig, für das übrige Land die Bezirksverwaltung, die großzügig Genehmigungen zur Einrichtung von Ölpalmenplantagen verteilte. Immer mehr private Firmen kamen und kauften Land von den Ansässigen. Die waren meist erstmal ganz erfreut, da die Firmen auch für Land zahlen wollten, das für die Bauern bislang wertlos war. Es war nicht viel Geld, aber mehr, als die Bauern je gesehen hatten. Es soll sogar Demonstrationen gegeben haben von Bauern, deren Land nicht gekauft worden war.

Meist kam das Kapital unter irgendeinem einheimischen Namen. Die Nutzungsgenehmigung des Bupati für ein Stück Land wird gewöhnlich stillschweigend auf den benachbarten Urwald ausgedehnt. Sollte dies vom Forstministerium entdeckt werden, ändert die Firma den Namen. Da der Wald dann aber bereits gerodet ist, fällt die Zuständigkeit automatisch an den Bupati. Oder Wald wird direkt zum Sekundärwald "umgewandelt". Newmont etwa hat sich der Hilfe von NGOs versichert, die die Orang Utans und gegebenenfalls Tiger etc. "retten", d.h. einfangen und in Reservate bringen. Ohne zu schützende Tiere ist der Wald ein Sekundärwald...

Die ehemaligen Bauern versuchen, sich mit dem Geld eine neue Existenz aufzubauen, was häufig schief geht - wie viele Taxis oder Kramläden braucht ein Dorf? Sie werden über kurz oder lang Landarbeiter auf den Plantagen; wenige schaffen es, in die Stadt umzuziehen.

Viele Bauern verkauften nicht, weil ihnen die Entschädigung zu gering war, andere wollten nicht in die Abhängigkeit der Plantage geraten. Hier entwickelten sich schnell Konflikte, denn mit der Einrichtung von Plantagen wird andere Landwirtschaft unmöglich: Man kann keinen Reis inmitten von Palmwäldern anbauen - alle Plagen der Gegend, vor allem die Mäuse, würden sich auf das verbliebene Feld stürzen. So sind auch die Bauern gezwungen, auf den ihnen verbliebenen oder auch neu zugeteilten Flächen Ölpalmen anzupflanzen.

Die Proteste von Bauern oder ehemaligen Bauern wurden mit der vereinigten Macht des Kapitals, des Staates und der Kirche (in diesem Fall die evangelische Batak-Kirche) eingedämmt, es ist ein Klima der physischen und psychologischen Einschüchterung entstanden. Das früher ruhige, rückständige und arme Tapsel ist heute in drei Bezirke unterteilt, besitzt Hotels und drei Flugplätze und einen ständig besetzten Posten der Mobilen Einsatztruppe der Polizei.

Der Berichterstatter, ein erprobter Aktivist der Gewerkschafts- und Umweltbewegung in Nordsumatra, stammt selbst aus der Gegend, seine Familie lebt dort noch auf eigenem Land. Er sieht derzeit keine Chance für den Aufbau einer offenen Protestbewegung. Deshalb will er anderswo ansetzen: Die Arbeit der Bauern ist höchst unproduktiv. Er denkt, wenn sie produktiver, also etwas weniger arm wären, wären sie nicht so anfällig für den Betrug durch das Kapital. Letztes Jahr hat er die erste Motorhacke in sein Dorf gebracht.

Beispiel Persil 4/Tungkusan: Geister der Vergangenheit

Die Bauern des Dorfes Persil 4, etwa 40 km von Medan, Nordsumatra, entfernt, waren Opfer der Kommunistenhetze nach dem Soeharto-Putsch 1965/66. Ihnen war schon 1956 der Boden als Besitz zugesprochen worden, doch nach dem Putsch wurden sie zugunsten der Staatsplantage enteignet. Nach 1998 begannen zwei ältere Männer, die alten Urkunden herauszusuchen und die anderen Bauern dafür zu gewinnen, sich den Boden zurück zu holen. Es geht um etwa 400 Familien mit einem Anspruch von 0,8 bis 2 Hektar pro Familie. Es waren jahrelange Anstrengungen, in denen die immer noch vorhandene Angst überwunden und auch die Jungen, die längst ein Auskommen in der Stadt haben, überzeugt werden mussten. Sie beschritten den juristischen Weg, aber gleichzeitig auch den direkten: Bei der ersten Besetzung kam es gleich zu Auseinandersetzungen mit Schlägern, die die Staatsplantage in der Stadt angeheuert hatte, bei der mehrere Leute schwer verletzt wurden - unter der Beobachtung eines starken Polizeiaufgebots. Danach war der Mut der Leute etwas gedämpft, aber auch das Interesse linker Studenten aus Medan geweckt, die sie seither moralisch und mit Öffentlichkeitsarbeit und Rechtsbeistand unterstützen. Tatsächlich war der juristische Weg nach jahrelangen Prozessen erfolgreich: das Oberste Gericht sprach ihnen das Land zu, die Staatsplantage muss für die ganzen Jahre der Diktatur Pacht nachzahlen. Das war aber nicht das glückliche Ende, denn das gesprochene Recht muss im immer noch antikommunistisch geprägten Korruptionssumpf im Umfeld der Staatsplantagen durchgesetzt werden. Die Staatsplantage bezahlt bisher weder Pacht, noch lässt sie die Leute das Land betreten - mit der Begründung, dass ihr vielleicht nicht das Land, aber die Palmen gehören. Weitere Besetzungen, weitere Schlägereien folgten; die Leute haben jetzt selbst "Schläger" angeheuert - Leute aus Nachbardörfern, denen sie einen Anteil am möglichen Gewinn versprechen.

Beispiel Polongbangkeng, Takalar: Enclosures 2008

Takalar in Südsulawesi ist etwa eine Stunde von Makassar entfernt. 1960 hatten die Bauern die Gegend besiedelt und mit Ackerbau angefangen. 1978 kam die Firma eines einflussreichen Politikers und nahm das Gebiet für den Zuckerrohranbau in Beschlag. Sie bekam die Genehmigung für den Bau einer Zuckerfabrik; die Bauern sollten mit wenig Geld entschädigt werden. Diese wehrten sich schon damals, zur Zeit der Diktatur aber ohne Erfolg. Aber nur sehr wenige nahmen die Entschädigung an. Die Firma gab das Land an eine Staatsplantage, die 1980 eine Nutzungsgenehmigung für 25 Jahre bekam. Um das Jahr 2000 fingen die Bauern erneut mit Aktionen an; als 2005 die Genehmigung formal ausgelaufen war, besetzten sie Teile der Fläche und pflanzten Mais an. Die Bewegung griff auf benachbarte Dörfer über, wo ebenfalls Land besetzt wurde. 2008 erneuerte der Bupati des Bezirks Takalar die Genehmigung der Staatsplantage auf 4500 Hektar bis 2024 - Zucker war gefragt, der Weltmarktpreis hoch, während der Mais und das Vieh der Bauern wenig zur Entwicklung der Gegend (und damit wenig zum Einkommen des Landrats) beizutragen schien. Im Oktober 2008 erschoss die Mobile Einsatztruppe der Polizei vier Bauern, die gerade ihr Vieh vom Feld treiben wollten. Seitdem ist die Atmosphäre hier und in den Nachbardörfern angespannt. Viele Bauern wollen aber die Bewegung aufrecht erhalten und versuchen mit Nadelstichen - etwa Sabotage an den Bewässerungsanlagen - den Zuckerrohranbau zu stören. Die Polizei erscheint immer wieder und verhaftet willkürlich Leute. Das ist auch der Grund, warum sie sich im Geheimen organisieren und keine "Führer" entstehen lassen, auch wenn es natürlich örtliche Autoritäten gibt. Gleichzeitig sind sie aber sehr offen gegenüber Menschen, die sie unterstützen. Mit der antiautoritären Gruppe Kontinum aus Makassar gibt es ein sehr freundschaftliches Verhältnis.

Noch haben die Bauern kleine Gärten vorm Haus. Da man davon nicht leben kann, versuchen sie ihr Glück in Makassar (auf dem Bau oder als Becak (Rikscha)-Fahrer) oder gehen saisonweise nach Malaysia, um sich dort auf Plantagen zu verdingen. Auf der Zuckerrohrplantage im Dorf arbeiten sie nicht - die bringt zur Ernte Landarbeiter von der Insel Java, die in armseligen Barrikaden untergebracht werden.

Bauern, Landarbeiter und Kapital

Romantische Vorstellungen, dass einfache, traditionelle Landwirtschaft produktiv und dabei nachhaltig ist, sind Illusion. Es gibt so gut wie keine gewachsene "traditionelle Landwirtschaft": dass eine Familie seit mehr als drei Generationen den selben Boden bebaut, dürfte die absolute Ausnahme sein. Kolonialismus, Krieg, japanische Besetzung, Befreiungsbewegung und die Transmigrasi-Politik der Diktatur haben die Gesellschaft auch örtlich ziemlich durcheinander gemischt. So versucht halt jeder Bauer, etwas aus dem Boden zu holen und benutzt dazu wenig mechanische, sehr oft aber übergroße Mengen an chemischen Hilfsmitteln.

Wie viel Grund und Boden schon in die Hände anonymen Kapitals geraten ist, weiß unter den Bedingungen Indonesiens niemand. In Kalimantan (Borneo) zum Beispiel besitzen (als Eigentum oder Nutzungsrecht) zehn bekannte Großunternehmen (Sinar Mas, Lonsum, Indofood, Bakrie u.a.) 5,3 Millionen Hektar. Dazu dürfte einiges im Besitz von Tarnfirmen kommen. Und viele andere sind auf der Jagd nach Land - für Plantagen, Bergwerke (von Kohle bis Gold), die viel Land verschlingen oder als Spekulationsobjekt. Relativ neu ist die Absicht der Regierung, Kapital zur Errichtung von "Food Estates" anzuwerben. 1,6 Millionen Hektar sollen allein bei Merauke auf West Papua bereit gestellt werden - die Produktion soll nächstes Jahr beginnen. Der Hauptinvestor kommt angeblich aus Saudi-Arabien.

In den 80er und 90er Jahren gingen die Bauern vor allem die jungen Männer und Frauen - entweder in die städtischen Fabriken oder (auf Java) die Fabriken kamen aufs Land. Diese Perspektive bietet sich heute nur noch selten, da kaum mehr neue Textil- oder Schuhfabriken entstehen. Die Alternative ist - vor allem für Leute, die in die Stadt pendeln können - Arbeit auf dem Bau oder allgemein im informellen Sektor. Der erlebt aber gerade eine Rationalisierungswelle nicht gekannten Ausmaßes. An jeder Ecke entsteht ein klimatisierter, 24 Stunden geöffneter kleiner Supermarkt, der genau das verkauft, was früher die StraßenhändlerInnen verkauft haben: Zigaretten, Klopapier, Getränke, Snacks. Zigtausende Franchise-Betriebe von Circle K, IndoMaret, 7eleven, Alfa etc. haben in den letzten vier Jahren aufgemacht, inzwischen dringen sie auch in die Dörfer vor. Carrefour will allein in diesem Jahr 1000 eröffnen. Fahrradbecaks (die klassische Arbeit für frisch in die Stadt gekommenen Bauern) werden mehr und mehr durch die teureren Mopedbecaks verdrängt. Neben der vorübergehenden Migration - Männer nach Malaysia, Frauen in die Golfstaaten - werden die meisten Bauern schlicht zur Landarbeiterin oder zum Landarbeiter werden.

Industrialisierung der Landwirtschaft: Fabrik oder Manufaktur?

"Die heutigen Lebensbedingungen der Plantagenarbeiter sind nicht weit von denen der Kolonialzeit entfernt", so ein Aktivist aus Medan. Das gilt vor allem für die Staatsplantagen und die alten kapitalistischen Plantagenfirmen (wie z.B. die London Sumatra). Die Staatsplantagen entsprechen bis heute dem kapitalistischen Produktionstyp der Manufaktur: sie beruhen auf Handarbeit, auch wenn es natürlich den einen oder anderen Traktor gibt. So produzieren Plantagen in Malaysia 33 Tonnen Rohpalmöl per Hektar und Jahr; die Plantagen in Indonesien 24 und die Kleinbauern 14 Tonnen.

Die neuen Plantagen scheinen etwas moderner zu sein, aber nur graduell. Auch sie orientieren sich an den Verhältnissen in den Staatsplantagen. Es gibt wenige Festangestellte, deren Lohn nicht sehr hoch ist, die aber immerhin die üblichen Sozialleistungen haben. Es gibt "feste Tagelöhner", die einen Vertrag haben (von dem die meisten nicht wissen, was drin steht) und die "freien Tagelöhner", die nach Bedarf und Saison beschäftigt werden. Das können dann schon mal hunderttausend pro Plantage sein. Die Staatsplantagen haben umstandslos die Verhältnisse der späten Kolonialzeit übernommen, was man schon an der Sprache erkennen kann: Die Tagelöhner werden als "Annemer" bezeichnet, die einzelnen Gebiete heißen "Afdeling" usw. Die Soeharto-Diktatur hat verdiente Militärs mit der Leitung der Staatsplantagen betraut, was diese zu Zentren der Korruption gemacht hat. Die Zusammenarbeit zwischen Staatsplantage, Polizei, Militär, ehemaliger Staatsgewerkschaft ist mehr als eng. Linke Gewerkschaften hatten während der Reformasi-Zeit 1998-2002 bescheidene Organisationserfolge unter den Kulis; unter dem Druck von Gewalt, Einschüchterung, Bestechung sind sie so gut wie verschwunden. Es gibt heute viele NGOs oder "Gewerkschaften", die sich irgendwie um die Bauern kümmern. Sie machen Schulungen zu besseren Anbaumethoden, organisieren im Konfliktfall Öffentlichkeitsarbeit und juristischen Beistand. Um die Plantagenarbeiter kümmert sich praktisch niemand. Mit der bemerkenswerten Ausnahme des KPS in Medan.

Der Lohn der Tagelöhner reicht auch bei überlanger Arbeitszeit nicht, um zu essen und die Kinder in die Schule zu schicken. Auch nicht, wenn beide Eltern auf der Plantage arbeiten und oft die Kinder auch noch helfen. Sie schlagen sich zusätzlich mit etwas Landwirtschaft, mit Nachbarschaftshilfe, mit Tageskrediten von Wucherern durch. Die Kinder haben keine Chance, mehr als die Grundschule zu absolvieren.

Die Kleinbauern wissen das alles und sie wissen auch, dass ihre Arbeits- und Lebensformen nicht wirklich eine Zukunft haben, ganz abgesehen davon, dass viele Junge eh schon weg sind. Sie kämpfen um ihr Recht, um angemessene Entschädigungen, gegen weitere Verarmung. Letztendlich kämpfen sie dagegen, Landarbeiter zu werden. Dass die Geschehnisse auf dem Land wenig Aufmerksamkeit einer städtischen Öffentlichkeit erlangen, trägt zusätzlich dazu bei, dass diese Kämpfe mit harten Bandagen gefochten werden. Polizei und private Schläger im Dienste der Plantagen gehen mit großer Brutalität vor; die Bauern mit Zähigkeit, großem Mut und einer Militanz, die oft vor keiner Eskalation zurückschreckt. Ihre Kämpfe sind die derzeit wichtigste gesellschaftliche Auseinandersetzung in Indonesien.

Entscheidend wird sein, ob ihre Kämpfe die Landarbeiter inspirieren, ob sich eine neue Bewegung der Landarbeiter und Bauern entwickeln kann - also eine revolutionäre Bewegung auf dem Land, die es in Indonesien schon einmal gegeben hat. Die Interessen von Landarbeitern und Bauern sind tatsächlich nicht identisch, aber ihre Lebensräume und Erfahrungen sind vergleichbar und überschneiden sich. Bis zu einer Situation wie in Madagaskar 2009, wo eine Regierung gestürzt wurde, weil sie die Hälfte des Ackerlandes an Daewoo verpachtet hatte, ist allerdings noch ein weiter Weg.

Karl Friedrich


Chronik

1610: Die Verenigde Oostindische Compagnie VOC errichtet ihren ersten Handelsposten in Ambon

1619: Die VOC erobert Batavia (das heutige Jakarta). Sie monopolisiert den Handel und unterwirft die Raja! Könige, indem sie sie gegeneinander ausspielt

1800: Die VOC ist bankrott; der holländische Staat übernimmt direkt die Verwaltung

1811: Die Engländer erobern Batavia und Jawa während der Kontinentalsperre gegen Napoleon, die keine Verstärkung der Truppen vor Ort zulässt

1814: England gibt die Verwaltung der Kolonie an Holland zurück, was dann beim Wiener Kongress bestätigt wird

1830: Ein System von Zwangsanbau (Zucker, Kaffee) wird eingerichtet

1924: Partai Komunis Indonesia gegründet

1942: Japan besetzt weite Teile des heutigen Indonesiens

1943: Die japanische Militärverwaltung führt ein System von Zwangsarbeit ein, dabei werden 100.000e in andere Teile Asiens verschleppt

1945: Noch unter japanischer Besetzung wird die Republik Indonesia ausgerufen

1945: Holländer erobern Batavia, der nationale Befreiungskrieg (mit von den Japanern zurückgelassenen Waffen) dauert bis 1949

1950: Indonesien wird Mitglied der UNO

1965: Ein Militärputsch bringt Soeharto an die Macht; in den folgenden Monaten werden hunderttausende Kommunisten" umgebracht, vor allem auf dem Land

1998: Soeharto wird auf dem Höhepunkt der "Asienkrise" gestürzt

1998 bis ca 2001: Zeit der Reformasi": Indonesien ist ein ziemlich freies Land und beginnt, die Geschichte aufzuarbeiten. Diese Bewegung versandet aber, z.T. weil die alte Elite ihren Einfluss zurückgewinnt.


http://kpsmedan.org/ Auf der Internetseite der Basisgewerkschaft KPS gibt es auch englischsprachige Texte.

Eine erweiterte Version des Artikels mit ausführlichen Quellenangaben erscheint Ende Juli auf Asien Aktuell: www.unwaelzung.de


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:
- Studenten bei Bauern in Persil 4

Raute

Buchbesprechung

Morgenmuffel

Jan Ole Arps: Frühschicht.
Linke Fabrikintervention in den 70er Jahren
März 2011 / Assoziation A / 240 Seiten / 16 Euro

Jan Ole Arps schrieb schon in der arranca! und im ak über »militante Untersuchung« und von StudentInnen, die in den 70er Jahren die revolutionäre Kraft in den Fabriken suchten. In seinem Anfang des Jahres erschienenen Buch beschreibt er AktivistInnen, die aufgrund ihrer marxistischen Gesellschaftsanalyse von der Uni in die Fabrik gegangen sind. »Ohne die Arbeiterklasse«, zitiert er eingangs einen von ihnen, »hatten wir keine Chance, die Welt zu verändern«. Arps interessiert sich auch für die Frage, wie die revolutionären Fabrikinterventionen sich im Kontakt mit den Fabriken veränderten und wie sich andererseits der Alltag in den Fabriken durch die 68er-Revolte veränderte. Sowohl den maoistischen und spontaneistischen Strömungen - letztere heißen bei ihm auch operaistische oder »Wir-wollen-alles-Gruppen« - sei es um den Bruch mit den alten Arbeiterorganisiationen (SPD; Gewerkschaften, KPen) und stattdessen um »Organisationsansätze im Proletariat« gegangen. Während aber die Maoisten auf das Modell der leninistischen Kaderpartei zurückgriffen (»Klassenbewusstsein erzeugen«), setzten die Spontis auf Untersuchung der »Widersprüche im Arbeiterbewusstsein und den Dynamiken spontaner Kämpfe«. Trotz dieser Unterschiede seien beide Strömungen auf sehr ähnliche Probleme gestoßen, was den Reiz ausmache, beide gemeinsam zu behandeln (S.10).

Neben verschiedenen Broschüren und Büchern der Gruppen nutzt er sieben Interviews mit AktivistInnen als Quelle, fast alle davon haben vor ihrer Fabrikzeit studiert (S. 210). Daran wird nochmals die besondere Fragestellung des Buchs deutlich: Intervention von Studierenden/Studierten in Fabrikkämpfe. Alles außerhalb dieser Konstellation (Lehrlingsbewegung, Selbstorganisation von Arbeitern...) spielt keine Rolle, es ist bestenfalls historischer Rahmen. Das erste Kapitel behandelt die Vorgeschichte der Fabrikinterventionen: die Studentenbewegung rund um 1968 und ihr Übergang in DKP, Jusos (»langer Marsch«), Alternativbewegung, Rote Zellen und K-Gruppen. Ebenso geht er in diesem Kapitel auf die wirtschaftliche Entwicklung in der BRD und die Septemberstreiks 1969 ein. Im zweiten Kapitel wird kurz auf den italienischen Operaismus als wichtigen Bezugspunkt der Wir-wollen-alles-Gruppen eingegangen und ausführlicher das Untersuchungspapier[1] des Revolutionären Kampfs (RK) aus Frankfurt diskutiert. Der RK wird im Buch am ausführlichsten für die spontaneistischen Gruppen dargestellt. Aus dem Spektrum der maoistischen Parteien und Bünde wird hauptsächlich die KPD/ML herangezogen. Das dritte Kapitel beschreibt die verschiedenen Ansätze, wonach im vierten Kapitel dann die Krise dieser Versuche und im fünften die Neuorientierungen der AkivstInnen Thema sind.

Man merkt dem Text nicht mehr an, dass seine Grundlage eine Diplomarbeit war: Er ist erstaunlich unakademisch geschrieben. Wichtige Quellen werden trotzdem benannt, wenig Wissen vorausgesetzt, und der Wechsel der Ebenen von biografischen Berichten, historischen Entwicklungen und der Darstellung von Theorie und Praxis der Interventionen ergänzen sich gut. Die ersten Eindrücke beim Betreten der Fabrik und wie AktivistInnen dies erlebten, kommen ebenso schön zum Ausdruck, vor allem durch die Zitate. Auch dass es im Betrieb nicht nur »die Arbeit« gab, sondern auch einen renitenten Mikrokosmos: z.B. die »echte Subkultur« (S. 93) bei Ford in Köln. Allerdings kommt diese Seite der Betriebswirklichkeit durchweg zu kurz.

Es lohnt sich, das Buch zu lesen, gerade für Jüngere, die die ausgewerteten alten Texte wohl meist nicht kennen, da sie zu großen Teilen selbst antiquarisch nur schwer zu beschaffen sind. Für alle, die sich noch nicht mit dem behandelten Zeitraum beschäftigt haben, mögen die historischen Darstellungen einen Einstieg bieten. Doch was lässt sich aus dem Buch für heute lernen?


Zentralität von Arbeit / Fabrik

Arps fragt, woher das Interesse der Studierenden an Fabrikarbeitern kommt. Die Studenten hatten doch gerade gegen bürgerliche Zwänge protestiert - und nun wollen sie in die Fabriken? Er führt dazu vier Punkte an: (1) Obwohl seit den 60er Jahren die Gesamtzahl der in der Produktion Beschäftigten stagnierte, »musste die Fabrik noch als das Herz der Gesellschaft erscheinen«, da diese »der gesamten Gesellschaft den Rhythmus« vorgab. (2) Die Septemberstreiks hatten die Macht der Industriearbeiter gezeigt. (3) Junge ArbeiterInnen fühlten sich von den Studierendenprotesten angesprochen, es entstanden Lehrlingsbewegungen, Jugendzentren. (4) Auch das Beispiel Frankreich und das dortige Zusammenkommen von Studierenden und ArbeiterInnen machte Mut (S. 44f.).

Im letzten Kapitel kommt Arps darauf zurück, dass »die Arbeit ein zentrales Feld gesellschaftlicher Auseinandersetzungen ist« (S. 216). Ein solches Statement ist für die deutsche radikale Linke schon als Fortschritt zu werten, zeigt aber auch, dass er keinen Begriff von Klassenkampf hat: Er betont einfach nochmal, dass es »die fordistischen Fabriken« nicht mehr gebe. Damit verwischt er die konkrete Widersprüchlichkeit von Klassenzusammensetzung sowohl damals wie heute: »Heute besteht die Frage revolutionärer Politik nicht mehr darin, wie man 'das Proletariat' zu einem einheitlichen antagonistischen Subjekt zusammenschweißen könnte, sondern ob und wo die heterogenen, dezentralen Kämpfe Verbindungen eingehen« (S. 211). Zusammenschweißen war nie eine sinnvolle revolutionäre Strategie, da sie immer von einem Subjekt-Objekt Verhältnis von Partei und Klasse ausgeht. Wie die Kämpfe in einem revolutionären Prozess zusammenkommen und alle Lebensbereiche umgestaltet werden und ihre Getrenntheit überwunden werden kann, das war aber auch in »fordistischen« Zeiten die Frage!

Richtig ist, dass heutige Arbeitsverhältnisse andere sind als in den 70er Jahren. Zu ihrer Kennzeichnung reicht es aber nicht, das heutige Gesicht des Proletariats als »Selbstständige Programmierer, Leiharbeiter an der Supermarktkasse und befristet beschäftigte Call Center Agents« (S. 8) zu charakterisieren. Dass heute die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit verschwimmen, stimmt definitiv nicht für alle Arbeitssphären. Und dass die Arbeit »die Menschen heute nur noch selten auf ihr nacktes Arbeitsvermögen« reduziere, sondern Mitdenken und Kreativität verlange, reflektiert nicht, dass auch schon früher mitgedacht werden musste, dies für den Produktionsprozess schon wichtig war, bevor es von Kapitalseite aufgegriffen und systematisiert wurde. Dass es Chaos, das man ausnutzen könnte, nur in der »fordistischen Großfabrik« gegeben hätte, deckt sich nicht mit unseren Erfahrungen. Das kapitalistische Projekt oder: »Leitbild« von mehr Eigenverantwortung und mehr Individualität (»Ökonomisierung der Persönlichkeit« S. 203) verklärt Arps vorschnell zur (Arbeits-)Realität. Mit der Überschrift »Revolution« (S. 167) meint er die Computerisierung und dadurch Sprünge in der Produktivität - die so groß aber gar nicht waren wie z.B. die durchs Fließband (S. 169). Indem Arps mit dem Hinweis auf die partielle Deindustrialisierung in der BRD die Fabrikarbeit als nicht mehr zentral abtut, kommt er gar nicht erst zu der Frage ihrer weiteren Untersuchung. Das Gerede von der Dienstleistungsgesellschaft verdeckt noch dazu die Perspektive auf die sich verändernden globalen Arbeitsteilungen, die sehr wohl etwas mit Fabrik zu tun haben - woher kommt denn fast alles, was wir als Waren kaufen? Für sein Argument »Postfordismus« und »Dienstleistungsgesellschaft« hat er Statistiken parat, die verfälschen, dass hinter dieser ganzen »Dienstleistung« massig industrielle Arbeit steckt. Und leider werden Versuche, neue Arbeitsverhältnisse zu untersuchen, wie Kolinko und die Call Center Offensive nicht einmal erwähnt - obwohl Arps selber an Untersuchungen in Callcentern beteiligt war.


Vermittlung von »Arbeitsalltag« und »Radikalität«

Das Ergebnis seiner Untersuchung ist ernüchternd: »Wer in der Geschichte des linken Fabrik-Experiments gute Beispiele für heutige politische Initiativen zu finden hofft, wird daher enttäuscht werden« (S. 211). Dies enttäuschende Resümee stand wohl schon von Anfang an fest, bereits in der Einleitung schreibt Arps: »Heute gibt es das Proletariat, an das sich die rebellierenden Studenten richteten, in dieser Form nicht mehr.« (S. 8). Arps macht sich am Ende seines Buchs erneut an die Frage nach einer möglichen Vermittlung von Arbeitsalltag und Radikalität und präsentiert Antworten von einem seiner Interviewpartner, Werner Imhof. Dieser weist darauf hin, dass die Arbeit Teil des Kapitals ist und daher »die Opposition der Lohnarbeit gegen das Kapital« nichts Neues bringen kann, solange sie sich innerhalb dieses Verhältnisses bewege (S. 216f). Eine Perspektive über Arbeit/Kapital hinaus ergibt sich für Imhof aus der Produzentenverantwortung[2]. Ziel ist für ihn dann folgerichtig »Selbstproduktion, Selbstorganisation« (S. 219). Arps gibt Imhof explizit in Bezug auf den ersten Punkt recht, führt aber nicht aus, was aus dieser Überlegung folgen könnte. Imhof landet bei einer Perspektive auf Arbeiterselbstverwaltung, die Arps nicht bemerkt oder nicht kritisieren will. Und er bemerkt nicht, dass gerade das Argument, dass die Arbeiterklasse innerhalb des Kapitals ist, Ausgangspunkt der Operaisten war: als Feind in seinem Innern kann sie es auch zerstören. An der Überlegung Imhofs sei problematisch, dass das Bewusstsein der Dreh- und Angelpunkt sei, es gebe aber noch die wichtige Seite der Beziehungen in der Arbeit: solidarische Beziehungen, die die »Logik der Konkurrenz unterlaufen« (S. 219). Arps überlegt also in Fortführung seiner Frage nach dem Verhältnis von Alltag und Radikalität, wie eigene soziale Beziehungen »zum Gegenstand politischer Auseinandersetzung werden können«. Überraschenderweise bringt er als positives Beispiel, wie Organizer in kleinen Schritten vorgehen und ArbeiterInnen zusammenbringen (S. 221). Die Berufssituation und der Alltag der OrganizerInnen spielt dabei aber keine Rolle. Als Negativbeispiel bringt er die Praxis seiner Gruppe FelS, bei den Montagsdemos die Hartz IV-Protestler (»Weg mit Hartz IV«) mit der radikaleren Parole (»Alles für alle«) übertönen zu wollen, anstatt zu hören, um was es den Leuten geht.


Untersuchung

Arps verwirft in seinem Resümee sowohl die demokratisch-zentralistische Partei wie auch den operaistischen Ansatz (S. 216). Beim ersten Punkt gehen wir problemlos mit, beim zweiten scheint er die Klärung über Möglichkeiten, aus dem frühen Operaismus zu lernen und Aspekte zu übernehmen, zu schnell abzubrechen, indem hier vom Ansatz der Wir-wollen-alles-Gruppen bloß »die 'autonomen Bedürfnisse'« übrig bleiben, die »sich meist auf Orte jenseits der Arbeit richteten«. Das Interessante, nämlich die Untersuchung der »Arbeiterautonomie« gegen Kapital und Gewerkschaften, der verborgenen Kämpfe und Organisierungen, sowie die kollektive Analyse der Spaltungsmechanismen - alles Punkte, die Arps auch im Buch bringt - fallen in seinem Resümee raus. Seine zusammenfassende Darstellung des (frühen) Operaismus im Kapitel 2 ist auch schon dünn. Weder dessen Ausgangssituation (die Arbeiterklasse ist politisch isoliert; die alten Begriffe und Organisationsformen passen nicht mehr), noch der durchgehende politische Streit - durch die Untersuchungspraxis die Arbeiterbewegung erneuern oder auf die Autonomie der Klasse und Revolution setzen - wird deutlich (Arps tendiert in die erste Richtung, mit der modernen Variante Organizing; dazu später mehr.) Es wird auch nicht deutlich, dass den Gruppen in der brd diese lange Phase der Untersuchungspraxis und die Bereitschaft, sich mit den ArbeiterInnen auf eine Stufe zu stellen, fehlten. Dies hängt wohl auch mit einem in Teilen elitärer Dünkel zusammen, der später Vielen den Aufstieg auf der Gegenseite erlaubte. Alle Wir-wollen-alles-Gruppen orientierten sich an der Theorie von Lotta Continua und/oder an Potere Operaio, ohne deren Theorie/Praxis von Untersuchung ernsthaft anzugehen. In der begeisterten Orientierung an diesen Gruppen reflektierten sie nicht, dass diese sich zunehmend von der Untersuchungspraxis lösten und statt dessen neue revolutionäre Subjekte erfanden, sich auf die Organisierung leninistischer Parteien und/oder den bewaffneten Kampf orientierten. Die Perspektive der Untersuchung wäre gewesen, auf offene Fragen nicht gleich zu antworten, sondern die konkreten Arbeits- und Lebenssituationen und -prozesse kollektiv zu untersuchen.

Was führt bei Arps zum Déjà-vu, wenn er die Probleme mit der Untersuchungspraxis der Wildcat in den 80er Jahren »fast wie eine Neuauflage der Erfahrungen der Wir-wollen-alles-Gruppen« liest (S. 200)? Es ist einerseits das Auseinanderdriften der Diskussionen der politischen Gruppe und dem Arbeitsalltag, andererseits auch das »Versacken im Betrieb« in Form von Passivität und übervorsichtigem Agieren (S. 200, vgl. auch TheKla 8, S. 131). Das Resultat, dass nämlich einzelne sich von den politischen Ansprüchen überfordert sahen, die Perspektive verloren und sich zurückzogen, hatte Arps auch schon in Bezug auf die Fabrikinterventionen der maoistischen und spontaneistischen Gruppen/Parteien in den 70er Jahren beschrieben. Dies sind ernst zu nehmende Probleme - anstatt diese aber zu analysieren, z.B. in Hinblick auf überhöhte Erwartungen, benutzt er die Probleme als Argument gegen »Fabrikintervention«. Er übernimmt die These von der Arbeit im Betrieb als »schleichenden Anpassungsprozess« (S. 103). Die Operaisten haben aber gerade den Arbeitsprozess als täglichen Kleinkrieg und Renitenz entschlüsselt. Arps und seine ehemaligen Avantgarde-InterviewpartnerInnen verschlüsseln ihn wieder, weil sie auch (heute) nicht danach suchen. Auf S. 213 erklärt Arps den Rückzug vieler AktivistInnen damit, dass sich die betrieblichen Kämpfe nicht zu breiten sozialen Kämpfen entwickelt hätten, diese seien vielmehr an anderen Orten entstanden. Arps streift hier das En de der Massenarbeiterrevolte in den Fabriken, allerdings ohne weiter nach den Gründen zu fragen. Und indem er betriebliche und soziale Kämpfe gegeneinander stellt, begreift er nicht die revolutionäre Potenz der damaligen Kämpfe; die »betrieblichen« Kämpfe waren soziale! Damit setzt er schon voraus, was damals als politischer Fehler entstand, nämlich die These vom »gesellschaftlichen Arbeiter«.


Gespräche

In diesem Zusammenhang kommt er zu einem Schluss, der endlich in eine weiter führende Richtung geht: »Das ist durchaus etwas, was Linke tun können und sollten: Möglichkeiten für Gespräche organisieren und eine neue Sprache suchen - vielleicht zuallererst über die eigenen Arbeitssituationen - Orte zu finden und zu schaffen, an denen sich eine Wut äußern kann« (S. 222).

Hier zeigt sich aber auch, was für ihn vom Untersuchungsansatz des Operaismus übrig bleibt: Gespräche. Überraschend dabei ist, dass er keinen Bezug auf die Diskussionen und Praxen seiner Gruppe FelS, in deren Zeitschrift arranca! er schon 2008 einen Ausschnitt aus seinem Buch veröffentlichte[3] und die sich in den letzten Jahren immer wieder auf »Militante Untersuchung« bezieht und mit diesem Ansatz versucht zu arbeiten (Euromayday[4] und Berlinale[5], aktuell an einer Berliner Arge[6]. Diese Projekte zumindest gehen über einfache Gespräche hinaus.

Arps schlägt vor, mit den »Gesprächen« am eigenen Arbeitsplatz anzusetzen (S. 222). Die Orientierung, Gespräche über die jeweiligen Arbeitssituationen zu führen ist ein Punkt, der der »radikalen Linken« zunehmend verloren gegangen war. Es bleibt jedoch flach, wenn es bei Gesprächen bleibt: Wie kann aus diesen gemeinsame Untersuchung/Aktion werden? Und warum sollte es heute nicht mehr sinnvoll sein, die persönliche, scheinbar private Entscheidung für einen Beruf oder das »zufällige« sich Wiederfinden in einem bestimmten Job politisch, d.h. kollektiv zu diskutieren? Angesichts der Spaltungen und Vereinzelung in vielen Bereichen könnte dies doch auch wieder eine Perspektive werden, oder?

Damit wird auch die Frage des eigenen Verhältnisses zur Klasse interessant: Arps scheint sich die Arbeiterklasse nur als Bündnispartner vorzustellen, er hat keine Vorstellung von dem eigenen Verhältnis zur Klasse, die er nur soziologisch fasst: »unterschiedliche Klassenzugehörigkeit« der StudentInnen und ArbeiterInnen (S. 102). Indem die Perspektive entweder privatistisch oder interventionistisch und damit immer »außerhalb« bleibt, gerät die eigene gesellschaftliche Position selber nicht in den Fokus. Folgerichtig scheint besonders am Ende seines Buchs immer wieder eine linksgewerkschaftliche Perspektive durch: Er zitiert Passagen aus einem Interview, das zeigt, wie beschränkt die Handlungsmöglichkeiten von Betriebsräten trotz bester Absichten real sind. Befremdlich, dass nach 230 Seiten Arps gerade aus diesem Interview seinen Schlussoptimismus zieht. Die Fabrikintervention nennt er an einer Stelle »das Experiment mit der Fabrik« (S. 8). Für all jene, für die der Gang in die Fabrik kein »Experiment« war, bleibt das Buch sowohl gegenüber der Lebensrealität der ArbeiterInnen in der Fabrik als auch der ehemaligen StudentInnen seltsam blutleer.


Anmerkungen:

[1] Revolutionärer Kampf: 1. Untersuchung - Aktion - Organisation. 2. Zur politischen Einschätzung von Lohnkämpfen. Berlin 1971 (Merve).

[2] Imhof zit. bei Arps: »sich dessen bewusst zu werden, dass man für andere produziert, dass daraus eine Verantwortung entsteht und man aus dieser Verantwortung heraus die Produktion vernünftig regelt, sie vernünftigen Zielen unterstellt«, S. 218.

[3] Arps, Jan Ole, »Wer eine Sache nicht untersucht hat, hat kein Recht mitzureden (Mao)«, in: arranca! 39 (2008). Zugleich online:
http://arranca.org/ausgabe/39/wer-eine-sache-nicht-untersucht-hat-hat-kein-recht-mitzureden-mao (Zugriff am 26.3.2011)

[4] Global AG, »Arbeiten und Arbeiten und Machen und Tun: Eine Selbstuntersuchung beim Berliner Mayday«, in: arranca!, 39 (2008)
http://arranca.org/ausgabe/39/arbeiten-und-arbeiten-und-machen-und-tun (Zugriff am 26.3.2011)

[5] FelS, »Moderner Klassenkampf mit Fragebogen. Untersuchungen auf der Berlinale und dem Berliner Mayday«, in: arranca! 39 (2008)
http://arranca.org/ausgabe/39/moderner klassenkampf mit fragebogen (Zugriff am 26.3.2011)

[6] Fels AG Soziale Kämpfe (2010): Militante Untersuchung am Jobcenter Neukölln / FelS. Online: Http://fels.nadir.org/de/mu (Zugriff am 26.3.2011)

Raute

Spätschicht

"Du kannst in einem Betrieb nicht alleine rumwieseln und bist der größte Tronti."

Das Buch "Frühschicht" hat uns angeregt, endlich mal die Leute in unserem Zusammenhang/Umfeld, die in den 70er Jahren im Betrieb waren, genauer zu befragen. Daraus ist nun eine Reihe von Interviews entstanden, die wir fortsetzen werden. Viele dieser Erfahrungen sind nie aufgeschrieben worden - was mit dem abrupten Ende vieler Gruppen Mitte der 70er Jahre zusammenhängt. Vieles von dem, was veröffentlicht wurde, gehört in die Sparte "Renegaten-Literatur" und hat wenig zu tun mit einer politischen Aufarbeitung, um sie für künftige Generationen nutzbar zu machen.

Mit ein paar ersten Auszügen aus den Interviews wollen wir den Blick richten auf wesentliche Aspekte, die im Buch "Frühschicht" nicht oder verzerrt zur Sprache kommen.


Revolutionäre Situation, weltweite Bewegungen, nicht nur politisierte Studenten...

Spontan bemängelten eingangs fast alle der alten Kämpen, dass die damals weltweite breite gesellschaftliche Aufbruchstimmung im Buch nicht erfasst werde. Alle AktivistInnen haben die Situation Anfang der 70er Jahre als "revolutionäre" begriffen. Weltweit haben sich RevolutionärInnen aufgemacht und sind in die Fabriken gegangen - nicht nur in Westdeutschland! -, weil sie ganz selbstverständlich in und mit der Arbeiterklasse tätig werden wollten.

"Arps stellt die Betriebsintervention in einen luftleeren Raum, er erwähnt nicht, dass es damals eine revolutionäre Situation gab. Zum Beispiel Kämpfe gegen den Vietnamkrieg, hier in Europa die Arbeiter in Frankreich und Italien, der permanente Bürgerkrieg in Nordirland und die Kämpfe gegen die faschistischen Regimes in Griechenland und Spanien."

"Mich stört, dass er nicht wenigstens erwähnt, dass es eine weltweite Erscheinung war. H. schrieb von den Studenten, die 1973 in Ägypten in die Fabriken gingen. Das war überall so: in der Türkei, im Iran... Arps schreibt immer 'die 68er' und 'Befreiungskämpfe'. Er weiß vielleicht überhaupt nicht, dass auch dort, wo er von Befreiungskampf spricht, die revolutionären Linken ebenfalls in die Fabriken gingen."

"Wir haben uns keinen expliziten Namen gegeben, aber wir haben die Sachen von der Arbeitersache verkauft, auch die Zeitung 'Wir wollen alles'. Wir sind 60 Exemplare in der Region Ingolstadt losgeworden. Wir haben nicht mal so offensiv verkauft, jeder hat ein paar Exemplare mitgenommen, da war es schon weg. Wir hatten die Vorstellung, es dauert nicht mehr lang und dann kippt es in den Betrieben."

Arps übersieht deshalb auch, dass im Zuge dieser revolutionären Aufbruchstimmung auch in den Betrieben selbst viele junge ArbeiterInnen und Lehrlinge Anschluss an diesen Aufbruch gesucht haben und in Bewegung gekommen waren. Die Gruppen waren viel stärker gemischt, die Übergänge waren fließender, als es Arps hinstellt mit seiner Polarität politisierte Studenten - agitierende Arbeiter.

"Arps geht immer aus von Leuten, die aus der Uni kamen, die von außen in den Betrieb kamen. Es fehlen gänzlich Leute, die in den Betrieb hineingewachsen sind, weil sie eine Lehre gemacht haben oder einfach Arbeit gesucht haben. Es ist immer ein Außenstandpunkt, er sieht nicht, dass es da auch Leute gibt, die sich im Betrieb politisiert hatten."

"Wir haben zum Beispiel Flugblätter vor einer Frauen-Textilfirma verteilt. Da gab es auch eine Lehrlingsgruppe, weil sie die Lehrlinge nicht übernehmen wollten. Das war übrigens erfolgreich. Die Gruppe ist größer geworden, da haben sich Leute angeschlossen, die bei Audi arbeiteten, dann auch Frauen, Mädchen, die sehr engagiert waren, aus dieser Textilfabrik, und auch ein paar Schülerinnen und Schüler. Wir waren 14-15 Leute, die sich regelmäßig getroffen haben, 10 davon haben in irgendwelchen Betrieben gearbeitet."

Damit zusammen hängt der Kritikpunkt, der allen unseren Gesprächspartnern am wichtigsten ist: Im Buch erfahren wir nichts über die ArbeiterInnen, es beschäftigt sich fast ausschließlich mit der Binnenstruktur von politischen Gruppen.


Wo bleiben die ArbeiterInnen?

"Im Buch erfahre ich fast nur etwas über die Innenstruktur von politischen Gruppen, beziehungsweise hauptsächlich von der ML-Gruppe, und nichts von der realen Situation der Arbeiter Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre."

"Meine erste Schicht war Nachtschicht. Ich dachte, ich müsste nun arbeiten, dass es flott vorwärts geht. Der erste Satz war: "Gemach, gemach, junger Mann. Der Schlosser schläft schon, den Elektriker kennen wir. Wir machen ganz ruhig. Den Kranführer kennen wir auch, das macht der mit. Wir machen erst mal Brotzeit. Dann haben wir erst ¾ Elfe zu arbeiten angefangen. Mir ist dann auch aufgefallen, dass die Tricks hatten, die Produktion langsamer laufen zu lassen, dass sie die Ebene hatten, sich Freizeit zu nehmen: da mal ein Stecker weg, da mal ein Draht zum Verteiler weg. Der Elektriker braucht ungefähr eine halbe Stunde, das Ding zu finden. Deswegen waren wahrscheinlich die Elektriker und Schlosser immer sauer, weil die dadurch Arbeit hatten. Da habe ich andere Menschen kennengelernt mit anderen Einstellungen zur Fabrik. Die waren da, um Geld zu verdienen, mit ihren Träumen waren sie beim Leben außerhalb der Fabrik. Das war der kleine Bauernhof mit dem sie existieren könnten, »wenn ich 5-6 Jahre spare, habe ich genug Kohle«. Die waren immer heilfroh, wenn die Schicht vorbei war. Das Wohlergehen der Firma war ihnen scheißegal, es war auch scheißegal, ob die Produktionsinstrumente ok waren."


Ueberdenken der eigenen Rolle

Zentral in der Bewegung Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre war der Versuch, den eigenen Lebensentwurf und die politische Praxis zusammen zu bringen. Diesen Anspruch versetzt Arps in eine abgeschlossene Geschichte. Er empfindet eine Art Bewunderung für den "Schritt" von der Uni in den Betrieb, kriegt aber überhaupt nicht den Punkt zu fassen, dass "Revolutionäre" in einer Klassengesellschaft sich selbstverständlich mit der ausgebeuteten Klasse beschäftigen müssen. Und dass es immer selbstverständlich sein sollte, die eigene soziale Situation, in die man durch Geburt und/oder Ausbildung geraten ist, zu hinterfragen. Der Gang in die Betriebe war kein Opfertrip. Für viele war das Verlassen der bürgerlichen Welt der Konkurrenz und des Individualismus und das Eintauchen in eine Welt, in der ArbeiterInnen nur als Kollektiv überleben und sich wehren können, eine einschneidende Erfahrung, die sie lebenslang geprägt hat.

"Uns war klar, dass wir Studenten sind und deswegen müssen wir in die Fabriken gehen, um uns zu proletarisieren. Es war klar, dass wir als Studenten nur Manager werden und bestimmte Positionen in diesem System einnehmen werden. Uns und mir war klar, dass wir das nicht machen wollten. Von daher war die Fabrik eine gute Gelegenheit. Ich habe das auch nie bereut. Ich habe viele Leute gefunden. Auch meine Freundin habe ich da kennengelernt. Die war damals auch in die Fabrik gegangen."

"Nachdem ich nach der fristlosen Kündigung eineinhalb Jahre mit einem Brief des Landesarbeitsgerichts den Betrieb betreten durfte, wonach ein Kandidat für den Betriebsrat nicht vom Betrieb ferngehalten werden darf, habe ich mit einem rechtskräftigen Urteil des BAG meine Rückkehr in den Betrieb erzwungen und bin damit in die Kunststoffproduktion eingereiht worden. D.h. ich bin Teil einer Schicht von acht Arbeitern geworden, die erst dann, also gut zwei Jahre nachdem ich den Betrieb zuerst betreten hatte, diese Aufgabe gesehen haben, mich überhaupt zu einem brauchbaren Schichtkollegen zu machen. ... da habe ich halt freundschaftliche, menschliche Zuwendung erfahren beim Umgang mit diesen Monstren von Maschinen. Da wurde mir ein Kollege zugeordnet, der gemeinsam mit mir auf den Fluss der Maschine achtete, der mir erklärte, wie damit umzugehen sei. Das alles war für mich menschlich so erfreulich, weil ich Ähnliches in der eigentlichen Schulzeit sowieso nicht, aber auch in der Zeit der Hochschularbeit nicht erlebt hatte, also sich menschlich völlig rückhaltlos gegenseitig unterstützen beim Erlernen einer Arbeit."

Solche und andere Erfahrungen mit den ArbeiterInnen führten bei organisierten Linken häufig zu einer Revision der sich selbst zugedachten politischen Rolle.

"Anfangs dachte ich, dass man ohne die Avantgarde draußen nichts machen kann. Schnell habe ich aber Arbeiter kennengelernt, die politisch genauso viel verstanden hatten wie ich selbst. Sie waren anders als ich gedacht hatte. Und somit war auch meine Vorstellung passé, dass die Arbeiter ohne Organisation von außen nichts machen würden. Ich habe auch Arbeiter kennengelernt, die viel entwickelter und klüger waren als die Studenten. In einer großen Fabrik hatten sie z.B. eine Zelle, wo sie viel Marx lasen. Sie haben einen großen Streik gemacht und sind deshalb mit 50 Leuten rausgeflogen. Das waren Leute ohne eine Organisation von außen. Ich habe kapiert, dass noch bevor die Studenten von Streik reden, die Arbeiter ihre Strukturen haben und kämpfen. Die Arbeiter waren viel näher an Marx als die Studenten. Das hat mich überrascht. Wir dachten danach ganz anders über die Arbeiter als vorher. Auch was uns anging, wir müssen den Arbeitern das Bewusstsein bringen usw., das hatte einen Riss bekommen."


Umsetzen der Partei-Linie?

Deswegen ist der Eindruck im Buch auch so fatal, als wären Betriebsinterventionen immer von einer klaren Partei-Linie aus geführt worden - und vorrangig mit dem Ziel, ArbeiterInnen für den eigenen Verein zu gewinnen. "Das parteimäßige Herangehen an die Projekte von Betriebsintervention scheint mir weniger charakteristisch für die Gruppen und Individuen, mit denen ich zu tun hatte. Der Hauptantrieb war nicht so sehr das Durchsetzen eines Parteiprogramms, sondern das Durchsetzen von Klassenkampf als Dynamik, die zu unterstützen war. Das erschien als Aufgabe, der man nur durch Präsenz in Betrieben würde gewachsen sein können."

Und dort stieß man dann zuweilen auf Konflikte, mit denen man gar nicht gerechnet hatte - und womöglich hatten gerade diese dann biografische Folgen. "Der Konflikt, der zu meinem Ausscheiden aus der Gewerkschaft führte, war folgender: Die Mehrheit der Bandarbeiter bei Audi waren aus den umliegenden Ortschaften. Bauern, deren Landwirtschaft sich nicht mehr getragen hat und die als Nebenerwerbsbauern als Schichtarbeiter gearbeitet haben. Und diese Arbeiter hatten natürlich ein Problem im Herbst, wenn die Kartoffelernte anstand. Die Kartoffelernte haben sie mit Krankfeiern über die Bühne gebracht. Und da sollten wir für die einspringen, damit das Band am Laufen bleibt. Und alle vom ersten Lehrjahr, die schon am Band gewesen waren, weigerten sich, da hinzugeben. Der Gewerkschaftsvertreter versuchte uns zu überzeugen, es gehe um das Wohl der Firma. Da kam mir das erste Mal, dass die auf der falschen Seite sind, wenn die uns zwingen da hinzugehen. Wir waren stur und wurden auch unterstützt von der Kultur drumherum mit dieser Lehrlings-Schülerzeitung, die wir gemeinsam gemacht haben. Und so haben wir das durchgehalten."


Kein abgeschlossenes Kapitel

Arps beschließt das Kapitel "Klassenkampf" mit dem angeblichen "Postfordismus". Das mag für eine Diplomarbeit ausreichend sein, ein politisches Buch sollte aber Fragen aufwerfen, anstatt die Klappe zuzuschlagen.

"Wir sind 1974 rausgegangen und haben die Leute drinnen alleine gelassen. Das war nicht nur ein menschlicher Fehler, sondern auch ein politischer Fehler. Wir hätten längere Strukturen aufbauen können, die es andern als kollektives Gedächtnis übergibt. Dass wir das nicht geschafft haben, das werfe ich uns vor. Und das wäre möglich gewesen, wenn wir von unserem Aktionismus weggekommen wären. Wir haben das zu schnell aufgegeben, wir waren ja da drinnen. Die Leute drinnen haben keinen theoretischen Zusammenhang mehr gehabt, den braucht es, dass du diskutieren kannst. Du musst dich austauschen, das ist das Wichtigste. Du kannst in einem Betrieb nicht alleine rumwieseln und bist der größte Tronti. Dass sie auf Klassenkampf verzichtet haben, das ist das Scheitern der spontaneistischen Gruppen."


Leseempfehlung

Zu den 70er Jahren ist auch das "Gespräch mit Yasar" lesenswert: "Eine revolutionäre Stimmung gab's damals - das ist der Unterschied zu heut. Betriebsintervention - Krone", in: Wildcat 50 (1990). Online: http://www.wildcat-www.de/wildcat/50/w50_yasar.htm

Raute

Deisswil: Zum Verhältnis von UnterstützerInnen und ArbeiterInnen

In der letzten Wildcat haben wir das Buch "Der geplante Tod einer Fabrik - Der Kampf gegen die Schließung der Karton Deisswil" besprochen. Daraufhin hatten Leute aus der UnterstützerInnengruppe die Idee, auf offen gebliebene Fragen zu antworten, um eine gemeinsame Diskussion zu befördern.

Auf der ersten Betriebsversammlung traten wir mit einem Flugblatt ("Wer kämpft kann verlieren, wer nicht kämpft hat schon verloren", abgedruckt im Anhang des Buchs) an die Belegschaft heran und suchten das Gespräch. So ergaben sich nach und nach Kontakte. Die Gespräche mit den ArbeiterInnen fanden meist auf informeller Ebene statt: am Rande von Demonstrationen und Versammlungen, per Telefon oder später während der Blockade der Tore.

Obwohl unsere Kräfte bescheiden waren, gelang es uns doch, ständig präsent zu sein (fast im gleichen Mae wie die bezahlten Funktionäre der Gewerkschaft Unia). Das verschaffte uns den Respekt des kämpferischen Teils der Belegschaft. Es begann sich ein Vertrauensverhältnis zu entwickeln, und wir konnten auch Vorschläge in die Diskussion einbringen. So wurde der Film über den Streik im Industriewerk Bellinzona (Giù le mani) gezeigt. Zusammen mit den ArbeiterInnen wurde ein Mittagstisch organisiert, um die Leute aus ihrer Vereinzelung rauszuholen. Wir halfen auch beim Erstellen und Verteilen einer Betriebszeitung.

Durch diese solidarische Unterstützung genossen wir viel Vertrauen beim kämpferischen Teil der Belegschaft. Wir standen für den "radikaleren Weg", wie es ein Arbeiter in einem Interview ausdrückte (S. 161), weil wir von Anfang an eine Betriebsbesetzung wie in Bellinzona vorgeschlagen hatten. Unser Ziel war es, diejenigen Aktivitäten der Belegschaft zu unterstützen, die Richtung Selbstermächtigung gingen. Obwohl die DeisswilerInnen zuweilen sehr autoritätshörig waren und den Rahmen der Legalität selten überschreiten wollten, gab es immer wieder Ansätze zur Selbstermächtigung. Diese Ansätze aber waren zerbrechlich und wurden meistens von Unia und Betriebskommission im Keim erstickt, wenn sie nicht in ihr Konzept passten. Eine alternative Betriebsversammlung wurde mit dem Argument verboten, nur die Gewerkschaft könne eine solche einberufen. Die Idee von einigen ArbeiterInnen, eine Maschine wieder in Betrieb zu nehmen, wurde verhindert, weil die Unia die Leute einfach nicht angerufen hatte. Das war der Normalfall in Deisswil.

Doch es gab auch einige Momente, in denen der Gewerkschaft die Kontrolle entglitt. Der wohl wichtigste waren die berühmten 20 Minuten Selbstermächtigung. Ausgelöst hatte die Situation Unia-Chef Corrado Pardini, der die ArbeiterInnen aufforderte, die Arbeit in der Spedition niederzulegen. Aus diesem Aufruf entwickelte sich eine Dynamik, in der 20-30 ArbeiterInnen das Heft in die eigene Hand nahmen und die Tore blockierten. Als ein Unia-Funktionär zusammen mit dem Betriebskommissionspräsidenten versuchte, die Tore wieder öffnen zu lassen, opponierten die Anwesenden ArbeiterInnen dagegen. Für uns zahlte sich aber das erworbene Vertrauen aus und es war darum möglich, dass einer von uns in die Runde fragen konnte, ob die Tore weiter blockiert bleiben sollten. Die große Mehrzahl der ArbeiterInnen war dafür.

Diskussionen innerhalb der UnterstützerInnengruppe

Die UnterstützerInnen waren sehr informell und lose organisiert, so dass es zutreffender ist, von einem Netzwerk statt von einer Gruppe zu sprechen. Einige kannten sich schon vorher, hatten bereits gemeinsame Aktionen gemacht (z.B. FAU Bern), andere lernten sich erst während des Kampfes in Deisswil kennen oder kommunizierten lediglich "aus der Ferne" per E-Mail. Dies war auch geografisch bedingt, da nur ein Teil der UnterstützerInnen in der Region wohnte. Andere, namentlich jene aus dem "wiener solinetzwerk_arbeitskämpfe", hatten kaum eine andere Möglichkeit, als über E-Mail ihre Meinung einzubringen.

Es ist in diesem Zusammenhang auch bemerkenswert, dass trotz sehr bescheidener Kräfte eine grenzüberschreitende Unterstützung möglich war: Am Hauptsitz des MM-Konzerns fand wenige Tage, bevor die Belegschaft nach 'Wien reiste, eine kleine, aber lautstarke Solidaritätsaktion statt (siehe Bild), am Tag vor der Ankunft der Belegschaft wurden vor einem MM-Produktionsbetrieb in Wien-Floridsdorf Flugblätter verteilt, und eine symbolische Besetzung der Werktore samt "Verbrüderung" der beiden Belegschaften wäre anlässlich der Demo in Wien im Bereich des Möglichen gewesen, wenn die DeisswilerInnen die Kraft dazu gefunden hätten. Bekanntlich kam es dann ganz anders: Die Belegschaft ließ sich übertölpeln und vom Konzernchef an der Nase herumführen. An der Zusammenkunft zwischen Belegschaft und Konzernspitze im "Wienerwald" waren wiederum zwei Wiener UnterstützerInnen anwesend, die sich zwar auf eine beobachtende Rolle beschränkten, aber wenigstens den andern UnterstützerInnen einen authentischen Bericht schicken konnten.

Der Erfahrungsaustausch innerhalb des Netzwerks fand entweder spontan vor Ort zwischen den jeweiligen UnterstützerInnen statt oder erfolgte per E-Mail und SMS. Ganz entscheidend war die Präsenz vor Ort: Zwei Unterstützer, die so oft wie möglich nach Deisswil fuhren, waren am besten über den Verlauf der Auseinandersetzung informiert und konnten auch in verhältnismässig kurzer Zeit ein Vertrauensverhältnis zu einem Teil der Belegschaft aufbauen. Eine unverzichtbare Voraussetzung, um überhaupt auf den Ablauf des Geschehens Einfluss nehmen zu können. Unter diesen Umständen stellte sich die Frage eines "offensiveren Vorgehens" durch die UnterstützerInnen kaum. Eher war es so, dass einzelne von ihnen radikalere Kampfformen wie eine Betriebsbesetzung offen propagierten (beispielsweise über die Facebook-Gruppe), während andere davor warnten, die ArbeiterInnen zu überfordern: "Aber ich denke, es gibt die Gefahr, dass unsere Intervention Leute überfordert oder vor den Kopf stößt, und daraus entstehen Abwehrreaktionen." (Aus einer internen E-Mail eines Unterstützers).

Grundsätzlich bestand jedoch Einigkeit darüber, dass externe UnterstützerInnen den Kampfwillen einer Belegschaft nicht ersetzen können. Ebenso darüber, dass dieser Kampfwille sich um einen harten Kern innerhalb des Betriebs bilden muss, der bei der Belegschaft eine größere Glaubwürdigkeit hat als die Gewerkschaftsfunktionäre, und dass ohne einen solchen Kern im Betrieb ein erfolgreicher Kampf nicht möglich ist. Externe UnterstützerInnen können zwar über Erfahrungen anderer Belegschaften berichten oder sogar direkte Kontakte zu ihnen vermitteln, eigene Erfahrungen einer Belegschaft zu ersetzen vermögen sie jedoch nicht.

Auch wenn der Kampf in Deisswil schließlich in einer Niederlage endete und die Selbstermächtigung nicht über Ansätze hinaus wuchs, ein Ausbrechen aus dem von der Gewerkschaft gesetzten Rahmen schien mehrmals in greifbarer Nähe. Was für eine Dynamik sich dann entwickelt hätte, ist nicht abzuschätzen. In einem solchen Fall erst recht wäre es entscheidend gewesen, dass die Belegschaft sich nicht auf die UnterstützerInnen als "Ersatzgewerkschaft" verlassen, sondern auf ihre eigene Kraft gebaut hätte. Das Netzwerk jedenfalls bleibt über Deisswil hinaus bestehen und versucht, die gemachten Erfahrungen an andern Orten und Auseinandersetzungen einfließen zu lassen.

Die UnterstützerInnengruppe


siehe die Buchbesprechung in Wildcat 89: Der kampf wo me het gmeint me het gwunne, hei si doch verlore...

Netzwerk Arbeitskämpfe: Der geplante Tod einer Fabrik
Bern 2010: a propos Verlag 223 Seiten, 10 Euro. ISBN 978-3-905984-02-6

Raute

Weder Theologie noch Teleologie

Erwiderung von Karl Heinz Roth und Marcel van der Linden

"Marxismus ist eine revolutionäre Weltanschauung, die stets nach neuen Erkenntnissen ringen muß, die nichts so verabscheut wie das Erstarren in einmal gültigen Formen, die am besten im geistigen Waffengeklirr der Selbstkritik und im geschichtlichen Blitz und Donner ihre lebendige Kraft bewährt."
Rosa Luxemburg


Als Rosa Luxemburg kurz vor dem Ersten Weltkrieg mit ihrem Buch Die Akkumulation des Kapitals den Marxismus auf außereuropäische und nichtkapitalistische Verhältnisse hin zu öffnen versuchte, griffen ihre Genossen sie aufs heftigste an. Von einigen Kritikern fühlte sie sich, wie sie später schrieb, "wie eine dumme Göre" behandelt. Bei der Lektüre des Wildcat-Angriffs auf die Global Labor History (Heft 89) ging es uns ähnlich. Natürlich wollen wir uns mit Luxemburg nicht messen, aber auch wir versuchen den Marxismus in Richtung des Trikonts zu öffnen(1), und machen jetzt die peinliche Entdeckung, dass diejenigen, die wir immer als MitstreiterInnen betrachtet haben, unsere Schriften höchst oberflächlich lesen und deshalb mit ihrer Kritik völlig daneben liegen. Wir fassen hier nur kurz die wichtigsten Missverständnisse zusammen.

1. Global Labor History (GLH) ist keine theoretische Alternative zur Weltsystemanalyse von Immanuel Wallerstein u.a. GLH ist überhaupt keine Theorie, sondern nur ein Forschungsprogramm das vor zwölf Jahren vom Internationalen Institut für Sozialgeschichte (Amsterdam) vorgeschlagen wurde und an dem weltweit Weberianer, Positivisten und natürlich auch Marxisten arbeiten. GLH ist, wie wir schon oft argumentiert haben, ein Forschungs- oder Interessengebiet, genauso wie Kunstgeschichte oder Kulturanthropologie. Innerhalb dieses Gebiets kann, muss und soll es aber natürlich zu theoretischen Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Strömungen kommen.(2) Es ist deshalb nicht nur unfair, sondern auch irreführend, wenn die verschiedenen VertreterInnen der GLH alle auf einen Haufen geworfen werden. Peter Linebaugh ist nicht Peter Birke ist nicht Max Henninger ist nicht Karl Heinz Roth oder Marcel van der Linden!

2. Wir haben nie und nirgends behauptet, dass zum Proletariat "all die, deren Arbeitsprodukt auf dem Markt gehandelt wird" gehören. In der Tat fassen wir die Arbeiterklasse weiter als Marx und der Mainstream des europäischen Marxismus es tun. Aber nicht in der Weise wie es der Wildcat-Artikel behauptet. Wir leiten nicht "die Mehrwertabschöpfung aus der Warenzirkulation ab." Für uns bleibt der Warencharakter der Arbeitskraft, nicht des Arbeitsprodukts, der Ausgangspunkt. Wir stehen jedoch auf dem Standpunkt, dass zur "Ware Arbeitskraft" nicht nur die Marxschen LohnarbeiterInnen gehören, die als freie Individuen über ihre Arbeitskraft als Ware verfügen und keine andere Ware zu verkaufen haben, sondern auch die Kulis und SklavInnen auf den tropischen Plantagen, deren Arbeitskraft als Ware verkauft oder vermietet wird. Sowohl Kulis und SklavInnen als auch LohnarbeiterInnen produzieren unseres Erachtens einen Mehrwert im strikten Sinne und werden deshalb kapitalistisch ausgebeutet. In unserem Sammelband Über Marx hinaus haben wir zu begründen versucht, warum die Marxsche Trennung der doppelt-freien LohnarbeiterInnen einerseits und der SklavInnen andererseits unlogisch und inkonsequent ist.(3) Wir hätten uns gefreut, wenn der Wildcat-Beitrag sich kritisch mit unserer Argumentation auseinandergesetzt hätte, aber leider übergeht er schweigend diesen wichtigen Punkt. Genau an dieser Stelle ist es jedoch möglich, eine theoretische Brücke zu den Erfahrungen des Trikont-Proletariats zu schlagen. Und es ist deshalb auch nicht verwunderlich, dass afrikanische, indische oder brasilianische MitstreiterInnen mit einer derartigen Neukonzeptionierung meistens überhaupt kein Problem haben.

3. Der Wildcat-Beitrag wird offen eurozentrisch, wo er behauptet, dass "der Klassenkampf als zentrales Merkmal des Kapitalismus" entfallen muss, wenn man "die Herausbildung einer spezifisch kapitalistischen Industrie ignoriert, die untrennbar mit der Lohnarbeit verbunden ist." Wenn wir (ganz im Marxschen Sinne) den Kapitalismus auffassen als verallgemeinerte Warenproduktion, dann wird verständlich, warum es im Kapitalismus und in der kapitalistischen Industrie immer auch andere Ausbeutungsformen als die Lohnarbeit gegeben; man denke nur an die Zwangsarbeit im "Dritten Reich", oder an die auf Sklavenarbeit beruhenden Fabriken im Süden der Vereinigten Staaten vor 1865. Und weshalb die kapitalistische Produktion historisch nicht in der Industrie angefangen, sondern auf den riesigen Plantagen der Karibik hat, wo bereits im 17. Jahrhundert das kapitalistische labor management erfunden wurde - Plantagen die ja nicht ohne Grund "factories in the field" genannt wurden.


Anmerkungen
Siehe Wildcat 89: Theologie versus Teleologie? Moral, Diskurse und Staatsbezug in der Global Labor History.

(1) Zur Begründung: Karl Heinz Roth, Empirie und Theorie: Die Marxsche Arbeitswertlehre im Licht der Arbeitsgeschichte (Teil I), in: Sozial. Geschichte, Jg. 22, H. 2 (Juni 2007), S. 45-67

(2) Genau dies wurde z.B. bereits behauptet in Marcel van der Linden, Was ist neu an der globalen Geschichte der Arbeit?, in: Sozial. Geschichte, Jg. 22, H. 2 (Juni 2007), S. 31-44, S. 36.

(3) Marcel van der Linden u. Karl Heinz Roth (Hg.), Über Marx hinaus. Arbeitsgeschichte und Arbeitsbegriff in der Konfrontation mit den globalen Arbeitsverhältnissen des 21. Jahrhunderts. Berlin u. Hamburg 2009: Assoziation A, S. 581-586.

Raute

Was bisher geschah

Korrektur

Im Artikel "Die Ölrente läuft aus" hat ein Fehler das Zitat von Amuzegar unverständlich gemacht (S.21). Richtig muss es heißen:

Der damalige Ölminister des Iran, Amuzegar, schrieb 1975: "Das Erdöl aus dem Nahen Osten und Nordafrika hat seinen Besitzern bisher enorme windfall-Profite verschafft - Ökonomen nennen das die Ricardianische Rente, sie entsteht aus den unterschiedlichen Produktionskosten im Vergleich zu Ölfeldern im Golf von Mexiko und anderen high cost-Produzenten."


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Wisconsin

Im Februar und März hatte eine breite Bewegung im US-Staat Wisconsin gegen ein Gesetz gekämpft, das zahlreiche Haushaltskürzungen, Entlassungen und Privatisierungen vorgesehen hatte. Dennoch wurde eine verkleinerte Fassung verabschiedet, die die Tariffähigkeit der Gewerkschaften für den Öffentlichen Dienst stark beschränkt. Weil es schnell durchs Parlament gepeitscht wurde, wurde geklagt: die Regeln zur öffentlichen Ankündigung von Gesetzesverfahren seien nicht eingehalten worden. Das oberste Gericht des Staates Wisconsin hat nun entschieden, dass das Gesetz rechtsgültig ist, war aber in seinem Urteil gespalten. Das Parlamentsgebäude wurde am 14. Juni erneut von Protestierern besetzt.

Die Bewegung ist weiterhin aktiv: Anfang Juni gab es mehrere Demonstration gegen die Sparpläne in Madison. Eine Sitzung des Finanzausschusses wurde blockiert, in dem es unter anderem um die Bildungsmöglichkeiten für papierlose MigrantInnen ging. Außerdem ist eine kleine Zeltstadt errichtet worden, die bis zur Verabschiedung des Haushalts am 17. Juni bestehen blieb. Sie wurde durch die Bewegung in Spanien inspiriert und soll an die Zeltstädte während der großen Depression erinnern. "Wir müssen uns auf viele Zeltstädte gefasst machen, wenn dieser Haushalt verabschiedet wird, und dann werden Leute nicht freiwillig in Zelten wohnen", sagte ein Beteiligter. Die Gewerkschaften sind an den Aktivitäten maßgeblich beteiligt, die Parteien streiten sich, und die Frage ist, wieviel Dynamik "von unten" noch im Spiel ist. Aber auch langjährige Politaktivisten können nicht voraussagen, wie es weitergeht: "Es gibt jeden Tag neue Überraschungen. Ich hab keine Ahnung, wie es in sechs Monaten aussehen wird oder in ein, zwei Jahren."


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Riots in China

In Zengcheng, einer Industriestadt im Süden Chinas gab es im Juni mehrtägige Riots von WanderarbeiterInnen, nachdem eine 20jährige schwangere Straßenhändlerin von Sicherheitskräften mißhandelt worden war. Kurz vorher war es ebenfalls in der Provinz Guangdong zu Zusammenstößen zwischen WanderarbeiterInnen und Polizei gekommen, weil ein Arbeiter in einer Keramikfabrik gestorben war, angeblich wurde er umgebracht, weil er seinen nicht gezahlten Lohn verlangt hatte. In der Provinz Hubei griffen Kampftruppen in Demonstrationen ein. Diese waren ausgebrochen, nachdem ein Beamter in Haft gestorben war, der bekanntermaßen gegen die Korruption gekämpft hatte. Die Zusammenstöße der letzten Wochen waren außergewöhnlich hart und zahlreich. Schon früher hat in Zeiten der Inflation die "soziale Unruhe" zugenommen.


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IL SISTEMA E I MOVIMENTI
EUROPA 1945-1989

Kurz bevor die Wildcat in Druck ging, brachte die Post noch ein Schwergewicht: den zweiten Band der italienischen Reihe über häretischen Kommunismus und kritisches Denken im 20. Jahrhundert. Der Titel "Das System und die Bewegungen. Europa 1945-1989" zeigt an, dass es um Bewegungen und revolutionäre Strömungen im geteilten Nachkriegseuropa geht, die sich gegen die ideologische Übermacht der Sowjetunion entwickelten und 1953-1956, 1968 oder 1980 eine gesellschaftliche Dimension erreichten.

Herausgegeben von Pier Paolo Poggio und der Stiftung Luigi Micheletti in Mailand enthält der Band 44 Aufsätze zu politischen Kämpfen und gesellschaftlichen Konflikten in Ost- und Westeuropa, zu Ideologien und revolutionären Strömungen (Operaismus, Socialisme ou Barbarie, Situationisten), wichtigen Personen (von Montaldi über Althusser bis Krahl), kritischen Theorien (von Debord bis Marcuse) und "Alternativen" (von Hannah Arendt bis Deleuze und Guattari).

L'altronovecento. Comunismo eretico e pensiero critico,
Vol. II: Il sistema e i movimenti (Europa 1945-1989),

a cura di Pier Paolo Poggio, Milano 2011 (Jaca Book). 808 Seiten, 48 Euro.

Raute

Impressum:

Eigendruck im Selbstverlag, V.i.S.d.P.: P. Müller - wildcat

Abo: 6 Ausgaben (incl. Versand)
Deutschland und Österreich 18 € / Ausland 30 €
Förderabo 30 €
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Archiv und Aktuelles
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Quelle:
Wildcat 90 - Sommer 2011
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. August 2011