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Z/274: Die Bundesrepublik am Beginn der zwanziger Jahre - "Kontrollverlust", Krisenfelder und Strategiedebatten


Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung Nr. 121 - März 2019

Die Bundesrepublik am Beginn der 20er Jahre - "Kontrollverlust", Krisenfelder und Strategiedebatten

von Z-Redaktion


Beim diesjährigen Treffen des großen Kapitals in Davos ("Weltwirtschaftsforum 2020") wurde u.a. eine Umfrage vorgestellt, der zufolge in Deutschland 55 Prozent der Befragten der Meinung sind, dass der Kapitalismus in seiner jetzigen Form den Menschen mehr schadet als hilft (FAZ v. 21.01.2020). Während das Vertrauen in das Gesellschaftssystem bei den "Eliten" mit intensivem Medienkonsum wesentlich höher liege, sei es bei der "breiten Masse" deutlich geringer. Aus einigen anderen entwickelten kapitalistischen Ländern wurde ähnliches berichtet; größere Systemzustimmung ergab sich dagegen in aufsteigenden Schwellenländern und den USA. Wie immer man solche Umfrageergebnisse im Einzelnen beurteilt, sie geben Tendenzen und breite gesellschaftliche Stimmungen wieder, die in jüngster Zeit mit Stichworten wie "Kontrollverlust", "Hegemonialverlust" oder "Krise der Repräsentation" diskutiert werden sind[1] In ihnen kommen objektive wie subjektive Momente zum Ausdruck, die wir auch in der Bundesrepublik beobachten.


1. Kontrollverlust des herrschenden Blocks und Krise des politischen Systems

Das betrifft die regelmäßig wiederkehrende Erfahrung, dass die herrschenden Klassen im globalisierten Kapitalismus weder die Gesamtwirtschaft (sh. Weltfinanz- und Weltwirtschaftskrise 2008/09) noch die Entwicklung in den einzelnen konkurrierenden Unternehmen (sh. Dieselskandal) wirklich "unter Kontrolle" haben. Frank Deppe hatte in diesem Zusammenhang schon mit Blick auf das letztjährige Elite-Treffen in Davos "die Diskrepanz zwischen der Beschreibung von Risiken und Krisen auf der einen und dem Bewusstsein von der mangelnden Problemlösungskompetenz der politischen und wirtschaftlichen 'Eliten' des Westens" auf der anderen Seite hervorgehoben.[2] Die politischen Krisen in Ländern wie Frankreich (Gelbwesten-Proteste und langandauernde Streiks), Italien (Erosion des politischen Systems; vgl. zuletzt Azzarà in diesem Heft) oder Großbritannien (gesellschaftliche Spaltung durch den Brexit) vermitteln zugleich, dass große Teile der Gesellschaft, große soziale Gruppen selbst das Gefühl haben, zunehmend die Kontrolle über den eigenen Lebenszusammenhang zu verlieren und dagegen opponieren.

Fast überall ist dabei nüchtern zu konstatieren, dass die politische Linke es nicht versteht, in dieser Atmosphäre von zunehmendem "Kontroll-" oder "Hegemonialverlust" massenwirksam Alternativen zu entwickeln und einen für die vom stehenden gesellschaftlich- politischen System Enttäuschten attraktiven gesellschaftlichen Pol des antikapitalistischen Protest zu konstituieren. Und dies in einer Konstellation, in der die herrschenden Klassen - in der öffentlichen Wahrnehmung die ökonomisch-politischen "Eliten" - angesichts der globalen Klimakrise in eine ausgeprägte und für sie kaum lösbare moralische Legitimationskrise geraten, in der sie sich von jugendlichen Protestbewegungen öffentlich vorführen lassen müssen (wie z.B. jüngst Siemens-Chef Kaeser).

Es ist nicht nur die Linke, die auf dieses Dilemma mit einer Strategiedebatte reagiert; dies gilt gleichermaßen schon seit längerem für die herrschenden Klassen" und ihre Ideologen.[3] Die sozialistische Linke wäre jedoch gut beraten, sich der; Hintergründe und längerfristigen Trends der gegenwärtigen Krisenkonstellation zu versichern, wenn sie Schlussfolgerungen für ihre Neuaufstellung zu ziehen sucht. Hierzu einige Anregungen."


2. Entdemokratisierung und Rechtsverschiebung im politischen System

Die gesellschaftspolitischen Folgekosten der neoliberalen Durchdringung waren das Thema der Langzeituntersuchung "Deutsche Zustände", die der Bielefelder Soziologe Wilhelm Heitmeyer und sein Team zwischen 2002 und 2011 Jahr für Jahr vorlegten. Empirisch ging man hier den mit dem Siegeszug neoliberaler Politik und Ideologie verbundenen Verarbeitungsformen nach, die mit der Ausrichtung auf eine "marktförmige Gesellschaft" vor allem sozial schwache Gruppen zu spüren bekamen. Schon ein Jahr vor dieser Langzeituntersuchung entwickelte Heitmeyer die Hypothese, "daß sich ein autoritärer Kapitalismus herausbildet, der vielfältige Kontrollverluste erzeugt, die auch zu Demokratieentleerungen beitragen, so daß neue autoritäre Versuchungen durch staatliche Kontroll- und Repressionspolitik wie auch rabiater Rechtspopulismus befördert werden."[4]

Heute scheint offensichtlich, was 2001 noch von vielen als Alarmismus linker Sozialwissenschaft abgetan wurde. Die neoliberale Umgestaltung des Staates hat zu einer die politische Achse nach rechts verlagernden Krise des politischen Systems geführt - in Deutschland aufgrund seiner großen ökonomischen Potenz später als in zahlreichen Nachbarländern. "Kontrollverlust" ist dabei ein Stichwort, mit dem sich vielfältige und ganz unterschiedliche Entwicklungen kennzeichnen lassen, deren Ausgangspunkte bis zum Beginn der neoliberalen Umgestaltung am Ende der 1970er Jahre zurückreichen, teils auch jüngeren Datums sind, die aber insgesamt zu einer zunächst schleichenden und dann immer offeneren Delegitimierung politischer und gesellschaftlicher Eliten geführt haben, die unter gegebenen Bedingungen von rechts ausgebeutet wird Dies betrifft u.a. folgende Felder:

- Demokratiekrise: Die mit dem neoliberalen Siegeszug verbundene Unterwerfung zentraler politischer Weichenstellungen unter das Diktat "der Märkte", d.h. der Profiterzeugung, hat einen ausgeprägten Vertrauensverlust in die politischen Institutionen und deren Träger und aktuell den Aufschwung einer scheinbar systemoppositionellen radikalen Rechten bewirkt.

- Finanzialisierung: Der seit Beginn der neoliberalen Wende am Ende der 1970er Jahre sich herausbildende Finanzmarktkapitalismus erfasst immer mehr Bereiche der Gesellschaft und alltäglichen Daseinsvorsorge und unterwirft sie dem Diktat der Profitabilität - mit entsprechenden Entfremdungs- und Enteignungserfahrungen in der Lebenswelt großer Bevölkerungsteile.

- Soziale Ungleichheit: Die Zunahme sozialer Ungleichheit zeigt sich u.a. in der immer stärkeren Schere zwischen Arm und Reich. Sie bewirkt zunehmend Erfahrungen und Empfindungen der Ausgrenzung und des Abgehängtseins, des Ausschlusses von gesellschaftlicher Teilhabe.

- Außenorientierung: Die Exportorientierung des deutschen Kapitals, verbunden mit der rechtlichen Absicherung des neoliberalen Kapitalismusmodells über die EU, hat letztere in den Augen großer Teile der Bevölkerung desavouiert und den Eindruck verstärkt, dass zentrale Richtungsfragen in Politik und Wirtschaft jeder demokratischen Mitwirkungsmöglichkeit entzogen seien.

- Offene Frage der internationalen Führungsmacht: Mit der Renationalisierung US-Amerikanischer Außenpolitik stellt sich die Frage der westlichen Führungsmacht verstärkt. Der Aufstieg neuer Mächte (China) führt zu verstärkter innerimperialistischer Konkurrenz, in der auch Deutschland ein zentraler Akteur ist und erhöht die Gefahr kriegerischer Konflikte.

- Fluchtmigration: Die große Fluchtmigration von 2015f. hat gezeigt, dass die Verwerfungen eines unregulierten Kapitalismus auf die Länder in den Zentren zurückwirken, die sich nicht länger davor abschotten können.

- Klimakrise: Die 2019 massiv im Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit angekommene Klimakrise zeigt die zerstörerischen Potenziale kapitalistischer Wirtschaftsweise und die Unfähigkeit der Politik, hierauf angemessen zu reagieren.

- Veränderte Öffentlichkeit: Der rechte Aufstieg verbunden mit Fake News zeigt, dass die herrschende Klasse mit der Digitalisierung ein Stück weit die Kontrolle über Medien und Öffentlichkeit verloren hat.

In einer aktuellen Allensbach-Umfrage wird ein geradezu dramatischer Vertrauensverlust in die politischen Institutionen des Staates konstatiert. Von 2015 auf 2019 hat sich das Vertrauen in die politische Stabilität des Landes von 81 auf 57 Prozent, beim politischen System von 62 auf 51 Prozent und bei der Qualität der Regierung von 49 auf 26 Prozent verringert (FAZ v. 20.11.2019). Konkret lässt sich dieser Vertrauensverlust in Politik am dramatischen Schwund der Zustimmung zu den Volksparteien ablesen, zunächst vor allem der SPD, aktuell aber auch bei der Union.

Heitmeyer hebt hervor, dass die Kritik an den politischen Eliten vor allem von denen geübt wird, die sich selbst politisch als rechts einordnen, während eine linke Kritik stärker auf nachlassende demokratische Kontrolle und den dominierenden Einfluss der Wirtschaft auf die Demokratie, d.h. politische Meinungsbildung, parlamentarische Institutionen und staatliche Apparate, hinweist. 2002, zu Beginn der Langzeitstudie "Deutsche Zustände", stimmten knapp 78 Prozent der Befragten der Aussage eher oder voll zu, dass "die schnellen Entscheidungen der Wirtschaft (...) auf Kosten unserer demokratischen Mitbestimmung" gehen und 85 Prozent stimmten eher oder voll der Forderung zu, "Wähler müssten mehr Einspruchsrechte haben, damit Großkonzerne nicht alles machen können",[5] An diesen Zahlen scheint sich auch 2019 wenig geändert zu haben. So hielten bei einer Umfrage 82 Prozent der Befragten den Einfluss von Interessenvertretern aus Unternehmen und Verbänden auf politische Entscheidungsträger für "zu hoch" (35 Prozent) oder "viel zu hoch" (47 Prozent).[6]

Heute ist es vor allem eine modernisierte radikale Rechte, die von diesen Kontrollverlusten und dem daraus erwachsenden Misstrauen gegen das "System" profitiert. Das ist jedoch nicht naturgegeben, sondern Ausdruck der Schwäche der gesellschaftlichen Linken. Insofern kann es einer sozialistischen Linken angesichts der Gefahr von rechts nicht darum gehen, das "System" zu stabilisieren oder die Kontrollverluste zu leugnen, sondern sie muss versuchen, eigene Vorschläge und Konzepte für alternative Entwicklungen verstärkt in die gesellschaftliche Debatte zu bringen.


3. Aktuelle Krisen- und Konfliktfelder
3.1 Vorgeschichte: Die neoliberale Wende der 1980er Jahre

Die Krise des Parteiensystems und der damit verbundene partielle "Kontrollverlust" sind eine Langzeitfolge der neoliberalen Wende nach der 'großen Krise' von 1973/75 und des damit einhergehenden Politikverständnisses. Marktradikale Reformen sollen staatliche Einflüsse, insbesondere den Sozialstaat, zurückdrängen, Arbeitskosten senken und die Kräfte des Marktes entfesseln. Neoliberale Politik versteht sich als eine Art Management und behauptet, der Staat wäre wie ein Unternehmen zu führen. Im Ergebnis, so ihr Versprechen, profitieren alle Schichten von der dadurch ausgelösten Wachstumsdynamik.

Eckpunkte der nach 1980 eingeleiteten "Reformen" waren:

  • Privatisierung staatlicher Unternehmen (Lufthansa, Telekom, kommunale Energieversorger)
  • Öffnung öffentlicher Dienste für Private (Bahn, Post, Telekommunikation, ÖPNV, Krankenhäuser)
  • Senkung der Gewinnsteuern von 42 auf 30 Prozent und der Spitzensteuersätze von 56 auf 42 Prozent
  • Aufkündigung der Sozialpartnerschaft seitens des Kapital, sichtbar am Rückgang der Tarifbindung
  • Deregulierung der "Arbeitsmärkte" (befristete Arbeitsverträge, Leiharbeit, private Arbeitsvermittlung)
  • Flexibilisierung der Arbeitszeiten, Lockerung bei Sonn- und Feiertagsarbeit, Aufhebung des Nachtarbeitsverbots für Frauen
  • Erleichterung des Zugangs für ausländische Arbeitskräfte, Saisonarbeitskräfte und Werksvertragsarbeiter
  • Deregulierung im Finanz- und Versicherungswesen (Anlagemöglichkeiten für Investmentfonds, Zulassung von Terminbörsen und elektronischen Handelssystemen, Abschaffung der Börsenumsatzsteuer, Lockerung der Anlagevorschriften für Versicherungen und Spezialfonds, Zulassung von Geldmarktfonds und Finanzderivaten)
  • Steuerliche Bevorzugung von Finanzerträgen (Abgeltungssteuer)
  • Förderung eines unregulierten "zweiten Finanzsystems" neben den Banken
  • "Liberalisierung" im Einzelhandel (Ladenöffnungszeiten)
  • Umbau der Rentenversicherung (Abkoppelung von Bruttoeinkommen, Verlängerung der Lebensarbeitszeit) und der Krankenversicherungen (Leistungsabbau, Zuzahlungen) zugunsten "privater Vorsorge", neue Märkte für private Versicherer

Die neoliberale Wende brach ihre Versprechen. Das Wachstum verlangsamte sich, die Investitionen gingen zurück, es entstand dauerhafte Massenarbeitslosigkeit, die Kaufkraft der Löhne und Gehälter stagnierte bzw. ging zurück, die Armut nahm zu. Auch das vermeintliche Verschwinden von Krisen während der "great moderation" (1987 bis 2007) erwies sich als Illusion, die in der Finanzmarktkrise 2007/2008 und der folgenden Rezession zerplatzte. Trotzdem blieb die neoliberale Ideologie wirkungsmächtig angesichts der relativ erfolgreichen Bewältigung der Krise nach 2009 und wieder ansteigender Beschäftigungszahlen in der folgenden Dekade.


3.2 Relative Stabilisierung im Konjunkturzyklus 2010/2019, strukturelle Probleme und das Versagen der Wirtschaftspolitik

Dass die Delegitimierung des politischen Systems ausgerechnet in den letzten Jahren offenbar wurde, überrascht auf den ersten Blick. Der 2010 zögernd einsetzende Konjunkturzyklus, der 2019 durch eine leichte Rezession beendet wurde, führte zu einer relativen wirtschaftlichen Stabilisierung. Das deutsche Bruttoinlandsprodukt (BIP) nahm über den Zyklus hinweg um jährlich knapp zwei Prozent zu. Die Arbeitseinkommen, die zwischen 1991 und 2010 real stagniert hatten, stiegen wieder um jährlich ein bis eineinhalb Prozent. Die Zahl der Erwerbstätigen wuchs seit 2010 von 41 auf 45 Millionen. Die Zahl der Unterbeschäftigten ging von 6,1 auf 3,2 Millionen zurück, eine Tendenz, die sich allerdings seit Herbst 2019 nicht mehr fortsetzt.

Weltmarktabhängigkeit

Die Besserung im abgelaufenen Zyklus verdankte sich vor allem der verstärkten Integration in die Weltwirtschaft: Die Außenhandelsquote (Exporte + Importe zu BIP) lag 2019 bei 87 Prozent des BIP, gut zehn Prozent über dem Durchschnitt des Zeitraums 2000/2010. Verglichen mit Industrieländern ähnlicher Größe wie Frankreich und Großbritannien ist Deutschlands Quote um ein Drittel höher. Der Leistungsbilanzüberschuss, der größte der Welt, liegt bei gut 260 Milliarden Euro, 7,6 Prozent des BIP. Dem chronischen Außenhandelsüberschuss entspricht ein wachsendes Auslandsvermögen, das sich 2018 auf 8,6 Billionen Euro, das Zweieinhalbfache des deutschen BIP, belief.

Finanzialisierung

Das gegenwärtig auffallendste Krisenmerkmal ist das Verschwinden des Zinses. 2010 lag die Rendite 10jähriger Bundesanleihen bei 2,7 Prozent. Sie ging seither fast kontinuierlich zurück auf minus 0,3 Prozent Ende 2019. Die inflationsbereinigten Realzinsen liegen seit 2015/16 im Negativbereich. Das in allen entwickelten Ländern extrem niedrige Zinsniveau wird begleitet von weiter zunehmender Verschuldung: Dem Institute of International Finance zufolge erreicht die Gesamtverschuldung Ende 2019 die astronomische Summe von 255 Billionen US-Dollar, 320 Prozent des weltweiten BIP. Dies sind 70 Billionen mehr als 2009, vor allem Unternehmensschulden. Finanziert werden damit aber nicht Realinvestitionen, sondern Finanzanlagen. Die daraus folgende "Kannibalisierung der realen Investitionen (NZZ v. 9.12.19) steigert die Krisenanfälligkeit der Wirtschaft. Die Politik hatte auf die Finanzmarktkrise 2008 mit einer Re-Regulierung der Banken (u.a. höhere Eigenkapitalanforderungen) reagiert, was deren Renditen drückte. Profitiert haben "Schattenbanken", d.h. Fonds, die Finanzgeschäfte abwickeln, aber nicht der Bankenregulierung unterliegen. Inzwischen werden dort Finanzanlagen von rund 100 Billionen Dollar verwaltet, 120 Prozent des weltweiten BIP; Sollte es - im Kontext einer Rezession - zum Wiederanstieg der Zinsen kommen, so wäre eine Kettenreaktion von Unternehmenszusammenbrüchen die Folge. Dem müssen die Zentralbanken mit allen Mitteln entgegenwirken und - wie aktuell in den USA - die Wirtschaft mit neuer Liquidität fluten. Seit 2008 befindet sich die Wirtschaftspolitik in einem Teufelskreis: Jeder Versuch, zu "normalen" Zinsen zurückzukehren, bedroht die Konjunktur, was durch expansive Geldpolitik bekämpft wird. Die Folge sind weiter sinkende Zinsen. Finanzmarktbeobachter sprechen vom "Kontrollverlust" der Notenbanken, die "Märkte" zwingen diese die Finanzblasen mit immer mehr Liquidität anzuheizen.

Wirtschaftspolitik ohne Spielräume

Die Finanzialisierung ist Ausdruck der Überakkumulation von Kapital, das sich in der Produktion nicht ausreichend verwerten kann und auf die Finanzmärkte ausweicht. Wie aber kann Geldkapital bei Zinsen nahe Null Renditen erwirtschaften? Das funktioniert nur, weil die Vermögenspreise steigen: "Billig kaufen - teurer verkaufen" ist das Prinzip bei Immobilien, Aktien, Rohstofffonds usw. Die Finanzmärkte müssen expandieren und die Notenbanken die dafür erforderliche Liquidität bereitstellen.

IWF, OECD und EU empfehlen, die Widersprüche zwischen Finanz- und Realwirtschaft durch Steigerung der Sachinvestitionen und mehr Wirtschaftswachstum zu mildern, vor allem durch expansive Haushaltspolitik. Länder wie Deutschland mit vergleichsweise niedriger Staatsverschuldung sollten finanzpolitisch umsteuern. Das widerspricht scheinbar neoliberalen Prinzipien: War es doch erklärtes Ziel der neoliberalen Wende nach 1975, die als zu hoch erachtete "Staatsquote" (öffentliche Ausgaben zu BIP) zu reduzieren. Die Staatsquote war zwischen 1950 und 1980 von 31 auf 47 Prozent angestiegen. Auf diesem Niveau bleibt sie seither, sieht man von Sonderfaktoren wie "Wiedervereinigung" und Konjunkturschwankungen ab. Privatisierungen, Sozialabbau und Sparpolitik konnten lediglich einen weiteren Anstieg verhindern. Ergebnis war ein scharfer Rückgang der öffentlichen Investitionen. Die staatliche Investitionsquote, die Anfang der 1970er Jahre bei 5 Prozent gelegen hatte, ging bis 2004 auf 2 Prozent zurück. Seit 2015 steigt sie wieder leicht an, auf 2,4 Prozent 2019.

Schuldenbremse, schwarze Null und Infrastrukturlücke

Die damit verbundene Vernachlässigung der öffentlichen Infrastruktur wird schon länger kritisiert. Insbesondere der Bereich Bildung legt dies offen: Mangel an Lehr- und Erziehungspersonal, marode Gebäude, fehlendes Lehr- und Lernmaterial - u.a. im Bereich Digitalisierung. Die Defizite kommen nicht von ungefähr. Deutschland liegt bei den Bildungsausgaben seit geraumer Zeit nur im unteren OECD-Mittelfeld. Das ist nicht nur ein Problem für die Mehrheit der Menschen, sondern auch für das "Humankapital" am "Wirtschaftsstandort" Deutschland. Ein Kampf für höhere Bildungsausgaben dürfte somit breite Unterstützung finden. Konfliktträchtiger ist jedoch die Ausrichtung des Bildungssystems: Die Unternehmen betrachten Bildung lediglich als "Produktionsfaktor". Dem gegenüber stehen Forderungen, die soziale Ungleichheit im Bildungssystem zu bekämpfen und kritische Geister zu fördern.

Einen Kurswechsel in der Investitionspolitik spiegelt die im Herbst 2019 vom BDI (zusammen mit dem DGB) vorgeschlagene "ambitionierte Investitionsoffensive der öffentlichen Hand" wider, deren Ziel es ist, "den Industriestandort Deutschland zu bewahren und zu verbessern." Gefordert werden zusätzliche staatliche Investitionen in Höhe von 45 Mrd. Euro über zehn Jahre, darunter auch im Bildungsbereich. In der Tendenz würde dies die Staatsquote deutlich ansteigen lassen. Finanziert werden soll das Programm über Kredite. Damit zeichnet sich eine Verschiebung des wirtschaftspolitischen Diskurses ab - die "schwäbische Hausfrau" hat ausgedient.

So sehr die Abkehr von "schwarzer Null" und Schuldenbremse sinnvoll erscheint, so wenig ist allerdings höhere Staatsverschuldung ein Ausweg. Übersehen wird, dass öffentliche Investitionen mit Folgekosten verbunden sind, die aus dem laufenden Haushalt finanziert werden müssen. Sollen im Rahmen von "Green Deals" und Klimaneutralität "inklusives" Wachstum und Ressourcenverbrauch entkoppelt werden, so erfordert dies den massiven Ausbau öffentlicher und sozialer Dienste. Dies wäre mit einer deutlichen Steigerung der laufenden Staatsausgaben verbunden, was höhere Einnahmen erfordert. Das Versprechen von Steuersenkungen verträgt sich nicht mit der Ankündigung von Investitionsoffensiven.

Investitionsprogramme, auch wenn sie als "Green Deal" daherkommen, dürfen nicht als Abkehr vom Neoliberalismus interpretiert werden. In Wirklichkeit ging es niemals um die Höhe des Staatsanteils und die Intensität staatlicher Regulierung schlechthin, ebenso wenig wie um Staatsverschuldung: Klar ist, dass die heute auch vom Kapital geforderte Steigerung der öffentlichen Ausgaben nicht allein durch Schulden finanziert werden kann. Auch wenn es derzeit noch finanzpolitische Spielräume gibt, so sind mittelfristig höhere Steuern nicht zu vermeiden. Welche Klasse diese vorrangig zu tragen hat, ist Gegenstand sozialer Auseinandersetzungen, ebenso wie die Frage, wo investiert wird. Dass und wie Neoliberalismus und staatsmonopolistischer Kapitalismus Hand in Hand gehen können, zeigt sich gerade im Kontext der neuen Programme zur Bewältigung der Klimakrise durch massive staatliche Subventionierung der weiter auf privatmotorisierte Mobilität setzenden Automobilindustrie. Für die gesellschaftliche Linke muss ein Alternativ-Programm einschließlich progressiver Besteuerung von Vermögen, Einkommen und Erbschafen an prominenter Stelle stehen. Debatten darüber werden rasch bei der Eigentumsfrage landen: Eine Besteuerung hoher Vermögen wird das Kapital als Eingriff in das Privateigentum betrachten.


3.3 Soziale Polarisierung und Umbau der Klassengesellschaft

Die in den 1980er Jahren gestarteten neoliberalen "Reformen" haben eine großen Schub sozialer Polarisierung und des Umbaus der Klassengesellschaft insbesondere durch systematischen Aufbau des prekären Sektors bewirkt, der heute unter den Bedingungen der Flexibilisierung der Arbeit in weitem Maße Funktionen der klassischen "industriellen Reservearmee" wahrnimmt. Der Anschluss der DDR 1990, deren Deindustrialisierung und die Privatisierung des gesellschaftlichen Eigentums dienten als Experimentierfeld und beschleunigten den Prozess der sozialen Polarisierung innerhalb der Lohnabhängigen wie zwischen den Klassen. Zur Bilanz der letzten Jahrzehnte gehören folgende Aspekte:

Ungleichheit und Armut

Bei ansteigender Erwerbstätigkeit und Erwerbsquote hat die Vermögens- und Einkommensungleichheit eher noch zugenommen. Der Anteil "atypisch" Beschäftigter (Teilzeit unter 20 Wochenstunden, befristet und geringfügig Beschäftigte, Zeitarbeiter) blieb auf hohem Niveau: Zahl und Anteil dieser Kategorie hatten zwischen 1991 und 2010 von 4,4 Millionen (ca. 14 Prozent der abhängig Beschäftigten) auf 7,9 Millionen (annähernd 26 Prozent) zugenommen.

Die Niedriglohnquote - der Anteil von Beschäfügungsverhältnissen mit Verdiensten unter zwei Dritteln des mittleren Verdienstes (Median) - ist laut DIW zwischen 1995 und 2008 von 16 auf 24 Prozent angestiegen und liegt seither auf diesem Niveau. Der Niedriglohnsektor ist in absoluten Zahlen auch im abgelaufenen Konjunkturzyklus noch gewachsen.

Seit 1990 haben sich Einkommens- und Vermögensungleichheit deutlich verstärkt. 1991 galten dem DIW zufolge knapp 5,5 Prozent der Bevölkerung als einkommensreich, 2016 lag die Quote bei 7,8 Prozent. Der Anteil der Einkommensarmen stieg von 11,4 Prozent 1991 auf 16,7 Prozent 2016. Seither ist die Einkommensarmut weiter gewachsen. Deutschland ist eines der Länder im Euroraum mit der höchsten Vermögensungleichheit. Das reichste Prozent verfügte 2017 über etwa so viel Vermögen wie die ärmsten 75 Prozent der Bevölkerung zusammen. In der letzten Dekade dürfte, so das DIW, die Vermögensungleichheit noch angestiegen sein; die Zahl der Vermögensmillionäre ist jedenfalls seit 2008 um 69 Prozent oder mehr als eine halbe Million Personen gestiegen.

Diese Entwicklung ist u.a. mit einer Polarisierung im Lohngefüge verbunden. Seit den 1990er Jahren zeigt sich ein zunehmendes Auseinanderdriften der Lohngruppen: Ab 2003 verzeichneten die mittleren Lohngruppen Reallohnverluste, die untersten Lohngruppen befinden sich schon seit Ende der 1990er Jahre im 'freien Fall'. Hier schlägt der von den Unternehmern gewollte und durch die Hartz-Reformen staatlich betriebene Aufbau des Niedriglohnsektors durch. 2017 umfasste dieser nach Berechnungen des DIW mit ca. 9 Mio. Personen etwa ein Viertel der Beschäftigten (in Ostdeutschland 35 Prozent, in Westdeutschland 22 Prozent).

Der Umbau des Rentensystems durch langfristige Kürzung der Rentenzahlungen der GRV zugunsten der Privatisierung der Altersvorsorge führt zu einem Anstieg von Altersarmut, zu wachsender Ungleichheit und Versorgungsproblemen angesichts der Unsicherheit kapitalgedeckter Renten. Die Armut von RentnerInnen ist in den letzten zehn Jahren um 33 Prozent gestiegen, so stark wie bei keiner anderen sozialen Gruppe. Der Paritätische Wohlfahrtsverband erwartet, dass der Anteil von Armutsgefährdeten ab 65 Jahren in den nächsten 10 bis 15 Jahren auf 20 Prozent ansteigt. Dieser Anteil ist gegenwärtig in Ostdeutschland (20 Prozent), bei Geringqualifizierten (26 Prozent), Migranten (31 Prozent), Langzeitarbeitslosen (38 Prozent) und alleinstehenden Frauen (40 Prozent) wesentlich höher. Das System betrieblicher Altersvorsorge trägt zur sozialen Polarisierung bei, weil die Zugangsmöglichkeiten je nach Betriebsgröße ungleich verteilt sind: 2015 hatten in Großbetrieben (>1.000 Besch.) 83 Prozent, in Kleinbetrieben (1-9 Besch.) nur 28 Prozent der Belegschaft einen entsprechenden Vertrag. Auch hier sind die Unterschiede nach Geschlechtern, Branchen, Ost- und West sehr ausgeprägt. Das Finanzkapital drängt auf staatlichen Zwang zur Privatisierung der Altersvorsorge und Ausweitung der Betriebsrenten.

Digitalisierung und neue Belastungen in der Arbeitswelt

Nimmt man die entsprechenden Passagen in der Koalitionsvereinbarung von 2018 für bare Münze, ist die Digitalisierung der Arbeitswelt (Arbeit 4.0) ein unvermeidbarer, weil technikgetriebener Prozess, der von Staat und "Sozialpartnern" einvernehmlich zu gestalten sei. Die GroKo-Prognosen verschweigen allerdings, dass die Digitalisierung der Arbeitswelt vor dem Hintergrund von mehreren Jahrzehnten neoliberaler Umwälzungen stattfindet. Digitalisierung ist ein sozioökonomischer Umwälzungsprozess, in dem leistungsfähige neue Technologien und neue Anwendungssysteme in Industrie und Dienstleistungsbereich miteinander vernetzt werden. Das bringt neue Konzernstrukturen hervor und geht einher mit massiven Rationalisierungsschüben, dem Abbau von Arbeitsplätzen, mit automatisierten Betrieben, geschrumpften Belegschaften, Niedriglöhnen, der Entgrenzung von Arbeitszeiten und neuen Formen der Kontrolle und Überwachung der Beschäftigten. Die Digitalisierung ist insofern ein soziales Konflikt- und Kampffeld. 46 Prozent der nach dem DGB-Index "Gute Arbeit" Befragten geben an, ihre Belastungen bei der Arbeit seien durch die Digitalisierung eher größer geworden, nur 9 Prozent empfinden eine Erleichterung. Jeweils mehr als die Hälfte der Befragten meint, Arbeitsmenge und Multitasking hätten zugenommen. 46 Prozent registrieren mehr Überwachung und Kontrolle der Arbeit. Eine Verbesserung der Work-Life-Balance sehen nur 21 Prozent.

Neoliberale Offensive und gewerkschaftlicher Machtverlust

Das neoliberale Rollback führte zu einer massiven Schwächung der Machtposition der Lohnabhängigen und zu einem Machtverlust der Gewerkschaften. Ursache dafür war nicht nur der veränderte Akkumulationsgang des Kapitals, sondern auch ein scharfer Klassenkampf von oben:

• Seit den Krisen von 1973/75 und 1981/82 und dem Anschluss der DDR 1990 verfestigte sich die Massenarbeitslosigkeit. Das tariflich abgesicherte "Normalarbeitsverhältnis" erodierte. Die Übernahme der früheren DDR und die Politik der Treuhand schufen eine Art Labor für den noch rigideren Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft

• Organisationsstarke industrielle Branchen verloren an Bedeutung, sozialstrukturelle Veränderungen der Erwerbsbevölkerung und insbesondere das Wachstum des Dienstleistungssektors schleiften gewerkschaftliche Bastionen. Die Gewerkschaften verloren mit dem Abstieg traditioneller Kerngruppen der Arbeiterklasse Einfluss in ihren früheren industriellen "Hochburgen" und Milieus. Sie zeigten aber auch Repräsentationsdefizite bei neuen Beschäftigtengruppen, etwa unter den Angehörigen der wissenschaftlich-technischen Intelligenz, den prekär Beschäftigten und bei den zunehmend erwerbstätigen Frauen.

• Die Transnationalisierung des Kapitals verstärkte den Druck auf die Positionen der Lohnabhängigen. Zum einen konnte das Kapital mit Produktionsverlagerungen in andere Länder drohen, zum anderen standen ihm nun im Rahmen der EU mit der Öffnung nach Osten Millionen neue billigere Arbeitskräfte zur Verfügung.

• Der neoliberale Umbau der Gesellschaft trat im Gewand der "Modernisierung" auf. Mit Hilfe der Medien mehrheitsfähig gemachte ideologische Versatzstücke wie Forderungen nach "Eigenverantwortung" und Konkurrenz wurden als längst überfällige "Reformen" verkauft und ließen gewerkschaftliche Vorstellungen von Solidarität zunehmend als veraltet erscheinen.

Die Ressourcen gewerkschaftlicher Macht gingen zu einem erheblichen Teil verloren. Das zeigt sich an mehreren Trends:

Mitgliederschwund: Ihren Höchststand an Mitgliedern hatten die DGB-Gewerkschaften in der alten Bundesrepublik (63 Mio. Einwohner) 1980 und 1990 (je 7,9 Mio.). Der Anschluss der DDR brachte nur einen kurzzeitigen Mitgliederzuwachs (1991: 11,8 Mio.); dann setzte sich mit der Deindustrialisierung Ostdeutschlands der Rückgang fort. Seit 2017 liegt die Mitgliederzahl erstmals unter 6 Millionen (bei 82 Millionen Einwohnern). Verglichen mit 1990 ist das eine Halbierung.

Organisationsgrad: Der gewerkschaftliche Organisationsgrad der Lohnabhängigen sank von knapp 35 Prozent (1960, alte BRD) auf 15 Prozent (2014). Während er 1991 in Ostdeutschland noch 50 Prozent betrug, fiel er dort Ende der 1990er Jahre auf 18 Prozent.

Betriebliche Verankerung: Setzt man Betriebsratsgremien und Anzahl der Beschäftigten ins Verhältnis, so zeigt sich: Dieser Anteil sank im Westen von 51 Prozent (1995) auf 40 Prozent (2018), im Osten von 43 auf 33 Prozent. 2000 hatten 12 Prozent der Betriebe in West und Ost einen Betriebsrat, 2017 waren es nur noch 9 Prozent.

Erosion der Tarifbindung: Ein besonders starkes Indiz für die Erosion der Basisinstitutionen gewerkschaftlicher Aktionsfähigkeit ist der Rückgang der Tarifbindung. 2000 hatten in Westdeutschland 48 Prozent der Betriebe einen Tarifvertrag, 2018 waren es nur noch 29 Prozent. In Ostdeutschland ging dieser Anteil im gleichen Zeitraum von 27 auf 20 Prozent zurück. 1998 arbeiteten in Westdeutschland 76 Prozent der Beschäftigten unter Bedingungen eines Tarifvertrags, 20 Jahre später nur noch 56 Prozent. Im Osten ging dieser Anteil von 63 auf 45 Prozent zurück.


3.4 Umwelt- und Klimakrise

In der Dekade seit der Weltwirtschafts- und Finanzkrise hat der globale Widerspruch zwischen kapitalistischer Produktions- und Konsumtionsweise und ihrer Naturbasis eine neue Brisanz gewonnen. Dies zeigt sich u.a. in der Klimakrise und dem zunehmenden Verlust an Biodiversität. Dieses gesellschaftliche Konfliktfeld hat sich in den letzten Jahren stark in den Vordergrund geschoben, wobei die Auseinandersetzung in der Bundesrepublik auch durch den globalen Charakter der Klimakrise zusätzliche Aufmerksamkeit bekommt.

Entscheidende Parameter des Umweltverbrauchs haben sich in der Bundesrepublik im letzten Jahrzehnt entweder zu langsam oder überhaupt nicht verbessert. Dies betrifft u.a. die Senkung des Primärenergieverbrauchs, die Erhöhung der Energieeffizienz und die Steigerung der Rohstoffproduktivität. Bescheidene Effizienzgewinne bei Ressourcenverbrauch und Energieeinsatz werden durch ein verstärktes Wirtschaftswachstum konterkariert ("Reboundeffekt"). Die Treibhausgasemissionen der BRD, die im Krisenjahr 2009 bei 908 Mio. t CO2-Äquivalenten lagen, stagnierten in den nachfolgenden Jahren bis 2017. Sie fielen von 2017 (907 Mio. t) auf 2018 (866 Mio. t) lediglich um 4,5 Prozent. Deutschland trägt damit zur globalen Verschärfung der Klimakrise bei. Die Bundesregierung musste eingestehen, dass alle bislang verkündeten Klimaschutzziele für die zurückliegende und die nächste Dekade nicht erreicht wurden und werden. Auch das jüngst verabschiedete "Klimapaket" ist ungeeignet zur Erreichung der ohnehin ungenügenden längerfristigen Klimaschutzziele.

Legt man die quantitativen Kriterien des Umweltbundesamtes ("Indikatorenbericht") zugrunde, mit denen die Entwicklung von Umweltbelastungen beurteilt wird, dann zeigt sich, dass in rd. 80 Prozent der Fälle die Ziele zur Verbesserung von Umweltverhältnissen entweder deutlich verfehlt wurden oder der Trend eine Zielerreichung nicht erwarten lässt. Dies gilt sowohl für Umweltprobleme, bei denen die globalen Belastungsgrenzen des Planeten ("planetary boundaries") " längst überschritten sind, als auch für lokale und regionale "hot spots" der Umweltbelastung in der BRD.

Die Klimapolitik scheitert, weil der Staatsapparat in das System der Kapitalverwertung eingebunden und nicht in der Lage ist, gesamtgesellschaftliche Interessen gegen kapitalistische Einzelinteressen durchzusetzen. Dies ist der Kern jeder Verpflichtung der Umweltpolitik auf eine "sozial-ökologische Marktwirtschaft". Unter kapitalistischen Konkurrenzverhältnissen besteht ein innerer Zwang zur Perpetuierung einer die Umweltkosten externalisierenden Wirtschaftsweise. Interessenwahrnehmung zugunsten des großen Kapitals zeigt sich bei der Kostengestaltung für Energieversorgung ebenso wie beim Handel mit Emissionszertifikaten, bei der Bevorzugung des privatmotorisierten Personen- und Gütertransports ebenso wie in der Agrarpolitik. Dies wurde deutlich bei den Interventionen der Bundesregierung zugunsten der Automobilindustrie im Fall der CO2-Grenzwerte für Kfz und bei der Gestaltung des "Klimapakets", das in weiten Teilen ein staatliches Förderprogramm für die Automobilindustrie ist. Ebenso erweist sich das Kohleausstiegsprogramm mit seinen Entschädigungen für die Stilllegung längst abgeschriebener Anlagen und der Erlaubnis, alte Emissionsrechte weiter zu verkaufen, als Bereicherungsprogramm für Konzerne.

Wenn die Folgen des eskalierenden Widerspruchs zwischen kapitalistischer Produktions- und Konsumtionsweise und ihrer Naturbasis noch in Grenzen gehalten werden sollen, so erfordert dies einen radikalen Umbau der Produktions-, aber auch der Konsumtionsweise, vorausschauende gesellschaftliche Planung und ein hohes Maß internationaler Kooperation. Dies ist ohne Eingriffe in die Eigentumsverhältnisse nicht zu haben. Das Plädoyer für "Klimagerechtigkeit" bleibt ohne diese ein frommer Wunsch.

Die neu entstandene internationale Jugendprotestbewegung skandalisiert diesen ihre Zukunft nachhaltig berührenden Widerspruch, ohne bisher die Forderung nach "system change' statt 'climate change'" in ihrer ganzen Brisanz zu erfassen und zu konkretisieren.

Viele Lohnabhängige fürchten die sozialen Folgen der Klimapolitik, sie sorgen sich um Arbeitsplätze und den Erhalt ihres Lebensstandards. Für viele Menschen steht unmittelbar nicht die Verhinderung des Klimawandels, sondern die Abwehr der befürchteten sozialen Folgen herrschender Klimapolitik im Vordergrund. Die Gewerkschaften formulieren ihre Interessen und Ziele primär defensiv, als Kompensationsstrategie eines ansonsten nicht von ihnen beeinflussbaren Prozesses. Die Alternative wäre, den Kampf gegen die Klimakrise als eigenständiges Zukunftsprojekt der Produktivkraftentwicklung gegen die Kapitalherrschaft zu begreifen und sich mit der Klimabewegung zu verbünden. Ihre Aufgabe wäre es, nicht nur die kurzfristigen, sondern auch die langfristigen Lebensinteressen der abhängig Beschäftigten, ihrer Kinder und Enkel, zu vertreten und eine ökologische Katastrophe und deren Kosten zu verhindern.


3.5 Migration

In welchem Ausmaß im System des global entfesselten Kapitalismus bestehende Lebensverhältnisse rasch außer Kontrolle geraten und Krisen eskalieren können, hatte sich im Herbst 2015 gezeigt. Der durch die Kriege in Syrien und Afghanistan ausgelöste Zustrom von Flüchtlingen und Asylsuchenden, verbunden mit medial skandalisierten Vorfällen wie in der Kölner Silvesternacht 2015/2016, wurde von Teilen der Bevölkerung als politischer Kontrollverlust empfinden, verbunden mit dem Ruf nach drastischer Begrenzung von Zuwanderung. Die politische Rechte konnte ihre Forderungen nach autoritären Veränderungen der Gesellschaft bei Teilen der Bevölkerung populär machen und sich organisatorisch fest etablieren.

Die Fluchtbewegungen lösten zugleich eine breite Welle von Hilfsbereitschaft aus und waren Ausgangspunkt für die Verstärkung humanitärer Initiativen, in denen sich zeitweilig Millionen von Menschen engagierten. Einer Studie des Familienministeriums zufolge haben sich seit Herbst 2015 rund 55 Prozent der Bevölkerung (über 16 Jahren) in irgendeiner Form in der Flüchtlingshilfe betätigt, Anfang 2018 waren es immerhin noch 19 Prozent. Eine humane und solidarische Haltung den Flüchtlingen gegenüber zeigte sich in breiten sozialen Schichten der Lohnabhängigen und ist nicht bloß eine Angelegenheit des 'hippen Großstadtmilieus', wie gelegentlich behauptet.

Die Immigration von Arbeitskräften ist eine Bedingung für die Aufrechterhaltung eines wachsenden Außenhandelsüberschusses. Die jahrzehntelange Weigerung, den Zusammenhang zwischen Exportmodell und Immigration zu thematisieren, hat dazu geführt, dass die mit der Migration verbundenen gesellschaftlichen Probleme ignoriert bzw. kleingeredet wurden. Immigration wird bis heute überwiegend als Immigration in den Niedriglohnsektor betrachtet: Einer Studie von 2011 zufolge arbeiteten 2008 etwa 36 Prozent aller Beschäftigten mit Migrationshintergrund der ersten Generation im Niedriglohnsektor. Hinzu kommt die Arbeitslosigkeit, die 2019 bei etwa 15 Prozent lag, dreimal so hoch wie bei Menschen ohne Migrationshintergrund: Insgesamt dürfte mehr als die Hälfte der Migranten der ersten Generation entweder zu Niedriglöhnen beschäftigt oder arbeitslos sein.

Zwar gab und gibt es nach wie vor Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung, diese ist aber aus der Sicht des Kapitals notwendig, um jenen Druck auf Arbeitsmarkt und Lohnniveau ausüben zu können, der allein international wettbewerbsfähige Lohnkosten garantiert. Eine vollständige Beseitigung der "industriellen Reservearmee" wäre möglich (vgl. die Arbeitslosenquoten bis 1966), ist aber nicht gewünscht. Daher wurde auch die "Flüchtlingskrise" 2015/2016 anfangs nicht als großes Problem betrachtet; die Stellungnahmen von Arbeitgeberverbänden und Wirtschaftsvertretern vom Herbst 2015 waren überwiegend positiv. Ein erheblicher Teil der Fluchtmigranten von 2015/16 konnte inzwischen in den Arbeitsmarkt integriert werden. Ende 2019 waren gut 430.000 Asylbewerber erwerbstätig, mehr als ein Drittel der seit 2014 Eingereisten. Davon arbeiteten zwei Drittel im Niedriglohnsektor (Integrationsbericht 2019). Die Hoffnung der Kapitalseite, der Zustrom von Asylbewerbern werde das untere Ende des Arbeitsmarktes alimentieren, scheint also aufzugeben.

Auf der anderen Seite war die Bundesregierung davon ausgegangen, dass Deutschland in der Lage wäre, eine "europäische Lösung" durchzusetzen, d.h. einen Teil der Flüchtlinge in andere europäische Länder abschieben zu können. Das erwies sich bald als Fehlkalkulation. Deutschland war und ist nicht in der Lage, eine solche Lösung innerhalb der EU durchzusetzen.

Um die mit der Migration verbundenen sozialen und kulturellen Probleme wirksam anzupacken, müsste der Fokus auf der Unterstützung und Integration der zugewanderten Menschen liegen. Das 2019 verabschiedete "Fachkräfteeinwanderungsgesetz" behandelt keines dieser Probleme. Stattdessen orientiert es sich ausschließlich an den Interessen der Unternehmen, denen auf diesem Wege geholfen werden soll, gut ausgebildete Arbeitskräfte aus Nicht-EU-Ländern anzuwerben. Völlig missachtet werden die Interessen der Auswanderungsländer, deren Entwicklungschancen durch den Abzug qualifizierter Arbeitskräfte (oft aus dem Gesundheits- und Pflegebereich) gemindert werden. So können die Unternehmen Aus- und Weiterbildungskosten sparen und zudem die Konkurrenz zwischen inländischen (sowohl deutschen wie nicht-deutschen) Arbeitsuchenden und neuen Immigranten nutzen. Während jene Teile der Bevölkerung, die Immigration ablehnen, in ihrer fremdenfeindlichen Haltung eher bestärkt werden, desavouiert das Gesetz jene Menschen, die sich im Flüchtlingsbereich engagieren.


3.6 Sicherheitspolitik und die internationale Rolle Deutschlands

Die außenpolitische Rolle der Bundesrepublik wird derzeit intensiv diskutiert. Es steht zu befürchten, dass es in naher Zukunft zu einer deutlichen Aufwertung des Militärs und einer durch zunehmende - natürlich als "humanitär" deklarierte - Bundeswehreinsätze begleiteten Außenexpansion kommen wird.

Die deutsche Debatte über das künftige militärische "Engagement" der Bundesrepublik wird vor dem Hintergrund von Hegemonie- und Machtverschiebungen in einem zunehmend "multipolaren" internationalen System geführt. Neue globale Konfliktlinien zwischen den USA und China bzw. Russland lassen zahlreiche blutige lokale Konflikte wie die Kriege in Syrien und im Jemen zugleich als Stellvertreterkriege erscheinen. Für das Selbstverständnis deutscher Außenpolitik bedeutsam sind die Erschütterungen im transatlantischen Verhältnis seit dem Wahlsieg von Donald Trump. Für die deutschen "Eliten" sind die transatlantischen Krisenerscheinungen insbesondere beunruhigend, weil die westdeutsche Außenpolitik seit den Anfängen eine Erweiterung eigener Machtpositionen stets durch "Westintegration" zu erreichen suchte. Der Druck zum Aufbau von militärischen und Rüstungskapazitäten im Rahmen der EU nimmt zwar zu, anders als z.B. Frankreich möchte Deutschland aber die Partnerschaft mit den USA im Rahmen der NATO nicht durch den Aufbau paralleler Strukturen in der EU in Frage stellen.

Die damit verbundenen Friktionen in der NATO sind der Anlass, die außenpolitischen Karten neu zu mischen. Trotz der Entscheidung für Nordstream II wird die deutsche Debatte durch scharfe antirussische und zunehmend auch antichinesische Zungenschläge bestimmt. Zugleich wird der Ausbau militärischer Kapazitäten und internationaler Einsetzbarkeit auf breiter Front forciert. Derzeit befinden sich - laut Bundeswehr - 3.275 Soldaten im "Auslandseinsatz", darunter 1.234 in Afghanistan und 1.050 in Mali. Auch wenn der Anteil der Militärausgaben am BIP mit rund 1,2 Prozent weit hinter den von den USA und der NATO geforderten zwei Prozent liegt, so sind die Militärausgaben der Bundesrepublik zwischen 2013 und 2018 absolut um beinahe 10 Mrd. US-Dollar (von 40 auf fast 50) angestiegen. Klagen über angebliche Ausstattungsmängel der Bundeswehr flankieren das Verlangen nach Aufrüstung und den Trend zur Militarisierung deutscher Außenpolitik, dem die politische Linke mit konsequenter Antikriegspolitik entgegentreten muss. Gleichzeitig sollten Vorschläge für Entspannungs- und Abrüstungsinitiativen an die Stelle von Debatten über die Zulässigkeit von Auslandseinsätzen treten.


4. Kontrollverluste und die Reaktionen der Linken

Die Krise des politischen Systems zeigt, dass das Vertrauen großer Bevölkerungsmehrheiten in die Regelungskompetenz der herrschenden Klasse stark gelitten hat. Krisenerscheinungen auf wichtigen Politikfeldern scheinen im Rahmen neoliberaler Konzepte kaum lösbar - dazu zählen Widersprüche auf dem Gebiet der Geld- und Finanzpolitik, die soziale Polarisierung, die Klimaveränderungen, die Migration, die Außenpolitik und die Weiterentwicklung der EU. Dies berührt auch die traditionellen Reformkonzepte der an der Arbeiterbewegung orientierten Linken. Diese konnte die Krise des Neoliberalismus trotz des Aufschwungs sozialer Bewegungen auf vielen Feldern bislang nicht zur Stärkung ihrer Positionen nutzen. Dafür gibt es objektive und subjektive Gründe.

Spätestens seit 2015 werden, zumindest auf der medialen Ebene, die politischen Debatten von Themen wie zuerst Flucht/Migration und dann der Umwelt- und Klimakrise beherrscht. Diese Themen werden von den politisch aufgeschlossenen Teilen der Bevölkerung nicht mit den Kernthemen der sozialistischen Linken verbunden, die nach wie vor soziale Gerechtigkeit und Antimilitarismus sind. Selbstverständlich bleiben soziale Alltagsfragen (Lohn, Rente, Mieten, Lebensmittelpreise, Altersarmut usw.) Schlüsselfragen des normalen Lebens und der Alltagskommunikation. Aber in der politischen Kommunikation bestimmen sie offenbar zumindest nicht direkt das politische Klima; sie können "unterdeterminiert" werden (z.B. dort, wo die soziale Frage von rechts als Migrationsfrage definiert wird) und sie wirken sich - siehe Berlin - wahlpolitisch zumeist nicht zugunsten der Linken aus, obwohl diese nach allen Umfragen mit relativ hoher 'sozialer' Kompetenz ausgestattet sind.

Dies wurde und wird innerhalb der sozialistischen Linken durchaus gesehen: So wird versucht, die aktuell dominierenden Themen mit der sozialen Frage zu verbinden, allerdings meist nur mit dem Ziel, Folgen von Veränderungen sozial abzufedern. Der Anspruch, in die Veränderungsprozesse selbst einzugreifen, d. h. Entscheidungen über klimafreundliche Produktions- und Konsumtionsformen, über Umfang und Zielrichtung öffentlicher Investitionen, über Digitalisierung und technologische Umwälzungen, über die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums usw. von den Verwertungsinteressen des Kapitals abzukoppeln und zum Gegenstand breiter demokratischer Entscheidungen zu machen, wird nicht erhoben. Wenn auch gelegentlich zu Recht, jedoch eher abstrakt, betont wird, dass es gerade das System der profitorientierten Kapitalverwertung ist, das die sozialen Verwerfungen, Ungerechtigkeiten und Widersprüche und die Umwelt- und Klimakrise heraufbeschwört, so verfügt die sozialistische Linke in der Bundesrepublik - zumindest, soweit sie sich in der breiteren medialen Öffentlichkeit massenwirksam bemerkbar macht und machen kann - über keinerlei über den Kapitalismus hinausweisende konkrete Zielvorstellung, in der Tages- und Zukunftspolitik miteinander verbunden wären.

Sozialistische Positionen müssten am Zusammenhang zwischen notwendigen sozialökologischen Veränderungen und den Verwertungsinteressen des Kapitals anknüpfen. Zu beschwören, dass der erforderliche sozialökologische Umbau doch eigentlich den Interessen des Kapitals entspräche, führt in eine politische Sackgasse: Denn tatsächlich stoßen auch jene Maßnahmen, die den abstrakten Gesamtinteressen des Kapitals entsprechen - der Schutz der natürlichen Ressourcen und die Stärkung des sozialen Zusammenhalts - auf den erbitterten Widerstand der betroffenen Konzerne. Die dominierende politische Logik des herrschenden Systems; besteht auf allen Konfliktfeldern in der Setzung von finanziellen und regulatorischen Anreizen für das Kapital: Die 'Energiewende' garantiert den auf dem Feld erneuerbarer Energie tätigen Investoren großzügige und risikolose Renditen und entschädigt diese - ähnlich großzügig - wenn umweltschädliche Produktionen umgerüstet oder geschlossen werden müssen. Automobilkonzerne erhalten Subventionen, wenn sie - eigentlich im eigenen Profitinteresse - in neue Antriebstechniken investieren. Jeder regulatorische Eingriff in Unternehmen, der renditeschmälernd wirken könnte, wird finanziell kompensiert. Ähnlich wird auf Feldern wie der Digitalisierung oder auch der Wohnungspolitik vorgegangen.

Unter diesen Bedingungen ist es zwar richtig, aber doch völlig unzureichend, entsprechende Kompensationen auch für die Lohn- und Sozialabhängigen zu fordern. Eine sozialistische Linke müsste die zentralen machtpolitischen Fragen im Kontext der notwendigen Veränderungen aufgreifen und Konzepte entwickeln, die darauf hinauslaufen, über faktische Eingriffe in Eigentumsrechte die Gestaltungsmacht in die Gesellschaft zurückzuverlagern. Die betroffenen Einzelkapitalen zugesprochenen Entschädigungen müssen ebenso skandalisiert werden wie Subventionen für hochrentable Konzerne, wenn sie in neue Technologien investieren. Die Abwälzung der gesellschaftlichen Kosten - dazu gehören sowohl Arbeitsplatzverluste wie die Kosten von Um- und Weiterbildungsmaßnahmen und Kosten vor! regionalem Strukturwandel - auf die öffentliche Hand sind in Frage zu stellen. Öffentliche Finanzierung ist mit dem Verlangen nach öffentlicher, gesellschaftlicher Kontrolle und der Einschränkung von Eigentumsrechten des Kapitals zu verbinden.

Jede Kritik an der Steuerung notwendiger Veränderungsprozesse über Profitsicherung und finanzielle bzw. regulatorische Anreize für 'systemrelevante' Konzerne und Industrien muss die Frage nach den Alternativen beantworten. Diese kann für die sozialistische Linke nur in einer Ersetzung des Profitprinzips durch gesellschaftliche Steuerung, d.h. durch eine Ausweitung von Demokratie auf wirtschaftliche Entscheidungen, bestehen. Falls finanzielle Entschädigungen und Subventionen tatsächlich notwendig werden sollten, so muss dies an die Offenlegung der wirtschaftlichen Verhältnisse der betroffenen Unternehmen und entsprechende Auflagen geknüpft werden. Unternehmerische Entscheidungen mit weitreichenden gesellschaftlichen Folgen müssen Gegenstand demokratischer Prozesse werden. Wie diese im Einzelnen zu organisieren sind, sollte nicht - wie z.B. im Ruf nach Verstaatlichung - pauschal vorgegeben werden: Tatsächlich hebelt staatliches Eigentum (Beispiele VW oder Fraport) die Profitlogik nicht per se aus.

Im Kern geht es für die sozialistische Linke darum, die Frage der sozialen Gerechtigkeit und der Umverteilung, mit der diese auch wahlpolitisch von großen Bevölkerungsmehrheiten identifiziert werden, als Demokratie- und Machtfrage, nicht bloß als sozialpolitische Frage im engeren Sinne im öffentlichen Bewusstsein zu verankern. Die sozialistische Linke muss als politische Kraft gesehen werden, die dafür kämpft, zentrale wirtschaftliche Entscheidungen in die Gesellschaft zurückzuverlagern, unter deren Kontrolle zu bringen und das System der privaten Kapitalverwertung zu überwinden. Der in den Protestbewegungen erhobenen Forderung nach "system change" muss ein politischer und sozialer, kein technologischer Inhalt verliehen werden. Dies erfordert, die Eigentums- und Machtverhältnisse systematisch zu thematisieren.

Dies ist keine leichte Aufgabe, weil solche Zusammenhänge jeweils im konkreten Fall abgeleitet und deutlich gemacht werden müssen. Die Rückkehr zu abstrakt-phrasenhaften Aussagen des Typs 'erst müssen wir den Sozialismus haben' helfen dabei nicht weiter. In allen Konfliktfeldern sind die Zusammenhänge zwischen Eigentumslogik und sozialen wie ökologischen Fehlentwicklungen und Katastrophen konkret und nachvollziehbar darzustellen mit dem Ziel, demokratische Lösungswege aufzuzeigen.


Anmerkungen

[1] So auch in dieser Zeitschrift: Vgl. Z 117 (März 2019), Kontrollverlust? Krise der Parteien und sozialer Protest, Beiträge u.a. von Deppe, Azzarà, Dräger, Chwala, Steinko und Kahrs sowie Mitgliedern der Z-Redaktion mit Blick auf Entwicklungen im internationalen Kapitalismus, in Frankreich, Italien, Spanien und Großbritannien sowie in der Bundesrepublik..

[2] Frank Deppe, Überlegungen zum politischen Charakter der Krise, in: Z 117, a.a.O., S. 16.

[3] Vgl. den Beitrag von Dieter Klein in diesem Heft, S. 60ff.

[4] Wilhelm Heitmeyer, Autoritärer Kapitalismus, Demokratieentleerung und Rechtspopulismus, in: ders./Dietmar Loch (Hrsg.), Schattenseiten der Globalisierung, Frankfurt a.M. 2001, S. 497-535, hier S. 500.

[5] Vgl. Wilhelm Heitmeyer, Autoritäre Versuchung, Frankfurt a.M. 2019, S. 183f.

[6] Vgl. "Der Spiegel" v. 13.4.2019.

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Quelle:
Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung Nr. 121, März 2019, Seite 21 - 37
Herausgeber: Forum Marxistische Erneuerung e.V. und IMSF e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. April 2020

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