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BERICHT/203: Gefangene Körper, befreite Köpfe (RUBENS)


RUBENS - Nr. 156 vom 1. Dezember 2011

Gefangene Körper, befreite Köpfe

Studierende veranstalteten Filmabende im Jugendgefängnis

von Tabeah Steinhauer


Wie ist es, über Monate in einer Zelle zu sitzen, wartend auf das Urteil, das fremde Menschen über einen richten werden? Wie geht ein Jugendlicher, der kaum Kontakt zu Mithäftlingen, geschweige denn zur Außenwelt hat, mit seinen Gedanken und Gefühlen um? Und was werden die einsamen Monate des hilflosen Verharrens aus diesem noch nicht erwachsenen Menschen machen? Einen Eindruck davon bekamen sieben RUB-Studierende gemeinsam mit ihrer Dozentin Dr. Hilde W. Hoffmann (Institut für Medienwissenschaft). Sie veranstalteten im Rahmen eines Seminares zur Filmvermittlung kleine Kinoabende für jugendliche Häftlinge in der JVA Wuppertal. "Filme sind in besonderem Maß in der Lage, die Emotionen junger Menschen zu spiegeln und als Medium komplexer Gefühlslagen zu dienen", erklärt Hilde Hoffmann den Hintergrund des Projekts "Filme befreien den Kopf".


Die Köpfe der jugendlichen Straftäter zu befreien, zu reden, zu lachen, zu fühlen, Perspektiven aufzuzeigen, unter Menschen zu sein - wenigstens für ein paar Abende. Das wollten Hilde Hoffmann und ihre Studierenden mit Filmvorführungen und anschließenden Diskussionen erreichen. Den fünf Studentinnen und zwei Studenten war das Seminar im Vorlesungsverzeichnis aufgefallen und so meldeten sie sich an, um zu den ersten zu gehören, die am Seminar teilnehmen durften.


Befreiende Gespräche

Als sie diese Hürde genommen hatten, konnten sie mit der Planung des Projekts beginnen. Dazu gehörten ein Gefängnisbesuch mit Regeleinweisung und eine theoretische Heranführung an Formen der Filmvermittlung. Außerdem beschäftigten sich die Studierenden mit den problematischen Bedingungen in der Jugendhaft. Danach stellten sie ein Kinoprogramm für die sieben Mittwochabende zusammen. Sie brachten Süßigkeiten, Knabbersachen, Getränke, Beamer und Filme in die JVA nach Wuppertal. Der Raum wurde verdunkelt und es wurden Stühle aufgestellt, sodass die Jugendlichen in einer wohligen Kinoatmosphäre empfangen wurden. "Der Aufwand war etwas außergewöhnlich", bemerkt Robin Schrade, "als dann der Schließer kam und sagte, dass die Häftlinge nun reingebracht würden, waren wir sehr aufgeregt." Er und Julia Lewe waren zwei der sieben, die an dem etwas anderen medienwissenschaftlichen Praxisseminar teilnahmen.

Zu Beginn war die Befremdung zwischen Häftlingen und Studierenden deutlich zu spüren. Die Gefangenen blieben nicht nur räumlich unter sich, sondern verliehen der ungewöhnlichen Situation auch in ihrer Sprache Ausdruck. "Anfangs waren sie respektvoll, haben uns gesiezt und immer höflich gefragt 'darf ich kurz', 'könnte ich mal bitte'. Dabei wollten wir doch auf Augenhöhe mit ihnen sein", erinnert sich Julia. Eine weitere Auffälligkeit zeigte sich während der Vorstellungen: Die Sträflinge hibbelten, knibbelten, wackelten und auch die eingeplante Raucherpause reichte zum Nervositätsabbau nicht aus. "Eine Folge der Isolation, der Ungewissheit über ihr Prozessende und nicht zuletzt des nicht abgefederten Drogenentzugs", erklärt Hilde Hoffmann.

Auch die Gespräche nach den Filmvorstellungen fielen den Gefangenen schwer. Die Seminarteilnehmer waren überrascht, wie wenig geläufig es für die Häftlinge war, über eigene Gefühle und den erlebten Film zu sprechen. Die Gefangenen konnten nicht verstehen, warum sie über das gerade Gesehene reden sollen und was z.B. ein Roadmovie mit ihnen zu tun habe. Doch nach einer Zeit öffneten sie sich. Sie wurden an der Filmauswahl beteiligt und kleinere Gruppen halfen, dass die Inhalte tiefer gingen, als es die vorherigen Prahlereien und obszönen Witze taten. Die Themen Drogen, Gangs, Gewalt und Gefängnis beschäftigten die Häftlinge zwischen 15 und 20 Jahren besonders. Dabei blieb die beklemmende Erkenntnis, dass das alles nichts Ungewöhnliches, sondern Alltag, für die gefangenen Jugendlichen ist.


Die Gedanken sind frei

Insgesamt beschreiben die Studierenden das Projekt als vollen Erfolg. Über die Praxis der Filmvermittlung und einer umfangreichen Sichtungserfahrung hinaus bleibt den Studierenden der Eindruck von der Gefängnisarchitektur sowie vom Haftalltag der Jugendlichen. "Uns hat das Projekt menschlich geprägt, weil wir ja praktisch in einer ganz anderen Welt leben als diese Jugendlichen", sagen beispielsweise Julia und Robin.

Die Gefangenen erzählten, dass sie jede Woche dem Mittwochabend entgegenfieberten. Julia ist sich sicher: "Sich mitzuteilen war den Häftlingen das Wichtigste. Um die Filme ging es denen gar nicht". "Um die Süßigkeiten ging es denen aber auch.", fügt Robin lachend hinzu, "Aber im Ernst: Sie hatten niemanden, der ihnen zuhört. Als wir ihnen die Gelegenheit gaben, redeten sie ohne Punkt und Komma." Vielleicht konnten die RUB-Studierenden die Gefängnistore in den Köpfen ein Stück öffnen. Wie schon Hoffmann von Fallersleben dichtete: "Und sperrt man mich ein im finsteren Kerker, das alles sind rein vergebliche Werke. Denn meine Gedanken zerreißen die Schranken und Mauern entzwei: Die Gedanken sind frei!


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Quelle:
RUBENS - 18. Jahrgang, Nr. 156 vom Dezember 2011, S. 2
Herausgeber: Pressestelle der Ruhr-Universität Bochum, 44780 Bochum
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Januar 2012