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REZENSION/018: Slingshot Hip Hop (Palästina-Dokumentation) (SB)



Hip Hop ist in den Jahrzehnten, in denen er seinen Siegeszug aus US-amerikanischen Schwarzenghettos in alle Welt absolvierte, popkultureller Mainstream geworden. Der sozial widerständige Geist der Anfangsjahre ist insbesondere in den USA einem Vermarktungsdiktat gewichen, das Rapper, die bekannt und erfolgreich werden wollen, dazu treibt, mit den Symbolen bürgerlichen Reichtums zu protzen, Frauen sexistisch niederzumachen und kapitalistischen Raub im Gangsterpathos abzufeiern. Wenn der Ruf nach schwarzer Emanzipation nicht in einen negativen Abklatsch dessen mündete, wogegen man einst aufstand, dann verkam er zu weichgespülter R&B-Soße, die niemandem wehtut außer denjenigen, die sich fragen, wie es zu diesem Niedergang kommen konnte. Die kommerzielle Verwertung einer sprachlichen und musikalischen Kreativität, die sich aus den sozialen Widersprüchen ausgegrenzter Minderheiten speiste, durch die massenmediale Unterhaltungskultur hat den Hip Hop in weiten Teilen der westlichen Welt zu einem alltäglichen Konsumartikel degradiert, dem man nicht mehr anmerkt, daß seine Urheber einmal etwas zu sagen hatten. Wer dies dennoch tut, muß sich damit zufrieden geben, in subkulturellen Nischen zu überleben.

Richtet man den Blick auf die Länder des Südens, dann trifft man häufiger auf Hip Hop-Adaptionen, die diese Mitteilungsform im originären Sinne widerständiger Mobilisierung einsetzen. Die auf dem Sundance-Filmfestival Anfang 2008 erstmals gezeigte Dokumentation "Slingshot Hip Hop" führt am Beispiel palästinensischer Rapper vor, wie vital dieses Genre sein kann, wenn es an den Bruchlinien gesellschaftlicher Konflikte erblüht. Die US-amerikanische Regisseurin Jackie Reem Salloum, die bereits mit dem Film "Planet of the Arabs" gegen die rassistischen Klischees zu Felde zog, hat alle finanziellen und politischen Schwierigkeiten überwunden, um ein Dokument über das Leben palästinensischer Jugendlicher in Israel und Palästina vorzulegen. In ihm wird der künstlerische Leitfaden des Hip Hop zu einem Bild des palästinensischen Widerstands verwebt, das in der westlichen Welt weitgehend unbekannt ist.

Als einer der wichtigsten Initiatoren des palästinensischen Hip Hop erklärt der im israelischen Lyd lebende Rapper Tamer Nafar dem Zuschauer, wie er in anfangs völlig unpolitischer Adaption US-amerikanischer Vorbilder erste Erfolge erzielte, um seine Kunst mit Beginn der zweiten Intifada ganz dem Ziel der Befreiung des eigenen Volks zu widmen. Die Verschärfung des Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern nach dem provokanten, von hunderten Soldaten geschützten Auftritt des damaligen israelischen Ministerpräsidenten Ariel Sharons auf dem Tempelberg in Jerusalem im September 2000 löste bei Tamer einen Prozeß der Identifizierung mit den Palästinensern in den besetzten Gebieten aus, die ihn und seine Freunden von der Gruppe DAM mit neuem Selbstbewußtsein erfüllte. Als Angehörige einer ethnischen Minderheit ohnehin benachteiligt betonten sie nun ihre palästinensische Herkunft, was für in Israel lebende Araber nicht selbstverständlich ist.

"Fear of a Black Planet", das bahnbrechende Album der US-Rapper Public Enemy, wird bei Tamer zu "Fear of an Arabic Nation". "Wie hätten wir Hip Hop nicht lieben können", erklärt Tamer die inspirierende Wirkung die von dieser berühmten US-amerikanischen Hip Hop-Combo, die ihren radikalen politischen Anspruch niemals aufgab, ausging. "30 Prozent Hip Hop, 30 Prozent Literatur, 40 Prozent Intifada" - so beschreibt der palästinensische Rapper die Mixtur, die seine Gruppe DAM zu einem der bekanntesten Acts dieser in Palästina noch jungen Subkultur gemacht hat. Ihr Video "Meen Erhabi (Who's the Terrorist)", mit dem sie über ihre lokale Anhängerschaft hinaus bekannt wurden, beginnt mit den Worten des ehemaligen US-Justizministers Ramsey Clarke, der die Palästinenser nach 50 Jahren der Rechtlosigkeit als die "am meisten terrorisierten Menschen der Erde" bezeichnet. Szenen, in denen Kampfhubschrauber Raketen abfeuern, israelische Soldaten auf palästinensische Demonstranten feuern und Bulldozer palästinensische Häuser einreißen, werden gegen Bilder steinewerfender Jugendlicher geschnitten. Das Kräfteverhältnis ist so eindeutig, daß sich die Frage, wer der Terrorist sei, als rhetorisch erweist.

Während die in Israel lebenden Rapper ein gegenüber ihren Freunden in den besetzten Gebieten privilegiertes Leben führen, dafür aber eher am Rande des Kampfes um ihre Befreiung stehen, wird am Beispiel der Gruppe Palestinian Rapperz (PR) in Gaza deutlich, was dem Leben unter Besatzung vor allem fehlt. Zwar wurde der Film noch vor dem Rückzug der israelischen Siedler und Soldaten aus dem Gazastreifen gedreht, doch die Möglichkeit, das Gebiet zu verlassen, war schon damals kaum vorhanden. Die drei Jugendlichen sprechen viel darüber, wie sehr sie sich danach sehnen, mit den Hip Hoppern im Westjordanland und in Israel zusammenzutreffen. Als sie schließlich unter Einsatz einer westlichen Kulturorganisation die Erlaubnis erhalten, an einem Hip Hop-Festival in Ramallah teilzunehmen - und das Gebiet damit zum ersten Mal in ihrem Leben zu verlassen -, endet der Ausflug aus diesem Freiluftgefängnis am israelischen Grenzposten. Nach mehreren Anläufen dürfen sie dann doch noch das Westjordanland besuchen - für drei Tage.

So sehr die palästinensischen Hip Hopper durch unüberwindliche Grenzen voneinander getrennt sind, so stark erscheint ihr Zusammenhalt, der hauptsächlich über Mobiltelefon und Computer organisiert wird. Ihre Probleme enden jedoch nicht mit der Besatzung, sie stehen gleichzeitig unter dem Druck einer konservativen islamischen Gesellschaft, in der insbesondere gegen den Auftritt von Frauen Einspruch erhoben wird. Die Rapperin Abeer muß ihrer künstlerischen Leidenschaft anfangs unter konspirativen Bedingungen nachgehen, weil sie von Verwandten bedroht wird, die nicht wollen, daß sie auf einer Bühne zu sehen ist.

Während mehrere in dem Film auftretende Mütter und Väter stolz auf die agitatorische Kunst ihrer Söhne sind, bekennt sich nur ein Elternpaar vor der Kamera zu ihrer rappenden Tochter. Abeer, der bei McDonalds gekündigt wurde, weil sie bei der Arbeit arabisch sprach, und die dagegen erfolgreich vor Gericht zog, hat sich für viele Palästinenserinnen zu einem Vorbild weiblicher Emanzipation entwickelt. Als von Männern und Besatzern unterdrückt haben Palästinenserinnen doppelte Befreiungsarbeit zu leisten, um so erfreulicher ist, daß sie darin von den männlichen Rappern unterstützt werden.

Die in "Slingshot Hip Hop" auftretenden Künstler zeichnen sich durch einen freundschaftlichen und solidarischen Umgang miteinander aus, der ahnen läßt, daß das in anderen Hip Hop-Kulturen so dominante gegenseitige Dissen auch aus der Abwesenheit gemeinsamer politischer Ziele resultiert. Die Regisseurin Jackie Reem Salloum versteht ihren Film denn auch als Mittel der Aufklärung nicht nur über die israelische Besatzungspolitik, sondern auch über die Stereotypien, in denen Palästinenser dargestellt werden. In einem Interview mit Al Jazeera (07.11.2008) berichtet sie davon, daß der Film an Schulen und Universitäten begeistert aufgenommen wurde, weil schwarze oder hispanische Jugendliche in ihm Parallelen zu ihrer eigenen subalternen Situation entdeckten. Außerdem möchte die Regisseurin den Menschen in der arabischen Welt vor Augen führen, daß der Hip Hop Abeers und des ebenfalls im Film vorgestellten weiblichen Duos Arapeyat nichts mit der zuckersüßen Popmusik zu tun hat, die, in den USA wie in ihren eigenen Ländern produziert, aus den Radios quillt.

Um "Slingshot Hip Hop" drehen zu können, mußte Salloum nicht nur finanzielle Schwierigkeiten überwinden. Weil einige Geldgeber das Projekt nicht mehr guthießen, da es nicht primär der Verständigung zwischen israelischen und palästinensischen Jugendlichen gewidmet sein sollte, mußte sie im Eissalon ihrer Eltern arbeiten, um ihn dennoch möglich zu machen. Ohne deren finanzielle Unterstützung und die befreundeter Künstler wäre seine Realisation nicht möglich gewesen.

Als Angehörige der arabischen Minderheit in den USA stieß die Regisseurin beim Drehen in Israel auf einige Schwierigkeiten. Ihre Kamera wurde ihr nach einer Beschlagnahmung zerstört zurückgegeben, und sie wurde mehrfach, zum Teil bis zu sieben Stunden lang, verhört. Auch US-Amerikaner genießen in Israel nur dann Schutz, wenn sie sich nicht gegen die Besetzung palästinensischen Landes stellen, so Salloum unter Verweis auf Rachel Corrie, die beim Schutz eines palästinensischen Hauses von einem Bulldozer überrollt wurde. Besonders aufschlußreich wäre die Begegnung mit in Israel lebenden Palästinensern gewesen, da sie nicht geahnt hätte, in welchem Ausmaß arabische Bürger unterdrückt werden. Was der Rapper Mahmoud Shalabi bei einem Gang durch die nordisraelische Stadt Akka mit einem gerappten Kommentar erlebter Repression in Szene setzt, dürfte auch für Zuschauer interessant sein, die sich für Hip Hop nicht interessieren.

So handelt Slingshot Hip Hop denn auch weit mehr vom Nahostkonflikt und dem Leben palästinensischer Jugendlicher in den verschiedenen Gesellschaften, in die es sie verschlagen hat, als von einer der vielen Varietäten des Hip Hop. 2003 und 2004 produziert bildet er Drangsalierung einer ganzen Bevölkerung ab, die sich seitdem noch verschärft hat und vor einem Jahr im israelischen Überfall auf Gaza kulminierte. So berichtet der in dem Film auftretende, in Gaza lebende Rapper Ayman Mghamis auf Al Jazeera TV (22.07.2009), wie die Wohnung seiner Familie durch vier israelische Raketen zerstört wurde. Sein Vater überlebte den Angriff nicht, er trug ihn an seinem eigenen Geburtstag am 16. Januar 2009 zu Grabe. "Es gibt keinen Frieden mit Israel" ist die Lektion, die Ayman aus der Zerstörung Gazas zieht und die er in seinen Raps, seinen Worten, den einzigen Waffen, zu denen er greifen will, verbreitet.


Slingshot Hip Hop

Regie: Jackie Reem Salloum

Palästina/USA 2008

Länge: 83 Min.

Untertitel in Englisch, Arabisch, Französisch

5. Februar 2010