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REZENSION/037: "Sacco and Vanzetti" - Dokumentarfilm über Klassen- und Gesinnungsjustiz (SB)


Dieser Tage jährt sich einer der berühmtesten und berüchtigtsten Justizmorde des 20. Jahrhunderts zum 90. Mal. In der Nacht vom 22. zum 23. August 1927 wurde ein Todesurteil vollstreckt, das als Ergebnis einer gegen linksradikale Anarchisten gerichteten Gesinnungsjustiz Geschichte geschrieben hat. Mit der Hinrichtung von Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti durch den elektrischen Stuhl im Charlestown State Prison in Boston, Massachusetts, ging ein fast sieben Jahre währender Prozeß zu Ende. In ihm wurde vorgeblich über einen Raubüberfall verhandelt, der am 15. April 1920 in South Braintree, Massachusetts, auf einen Transport mit Lohngeldern verübt wurde und bei dem zwei Personen ums Leben kamen. Vorgeblich, weil Staatsanwalt Frederick Katzmann mit Fragen, die nichts mit dem Fall zu tun hatten, versuchte, die dieses Verbrechens bezichtigten italienischstämmigen Migranten Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti als unpatriotische Staatsfeinde darzustellen, was den politischen Kontext des Strafverfahrens maßgeblich bestimmte.


Vanzetti war bereits zuvor wegen eines Mordversuchs am Kassierer einer Schuhfabrik trotz eines hieb- und stichfesten Alibis für die Tatzeit zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Angesichts der starken Zweifel, die an der Korrektheit des Urteils geäußert wurden, hatte der Richter die Möglichkeit, daß Vanzetti nicht der Täter sei, eingestanden. Er sei als Feind von Staat und Gesellschaft jedoch moralisch schuldig, so sein Verdikt. Die Beweislage im Prozeß gegen Sacco und Vanzetti war nicht weniger dürftig, dafür traten zahlreiche Entlastungszeugen auf. Das führte dazu, daß dieses sich vom 31. Mai 1920 bis zur Urteilsverkündung am 8. April 1927 hinziehende Verfahren weltweit wahrgenommen und als gegen linke Aktivisten gerichtete Gesinnungsjustiz kritisiert wurde. Nach nicht weniger als acht Berufungsanträgen, denen aufgrund der schwachen Argumente der Staatsanwaltschaft allemal hätte stattgegeben werden müssen, wurde das Leben der Angeklagten viereinhalb Monate nach Urteilsverkündung trotz weltweiter Proteste von der Staatsgewalt beendet.



Über 50 Millionen Menschen hatten individuell oder kollektiv 110.000 Protesterklärungen gegen die Hinrichtung von Sacco und Vanzetti verabschiedet. In Berlin versammelten sich einen Tag nach der Exekution bis zu 150.000 Menschen auf einer von der KPD organisierten Protestkundgebung, eine der größten politischen Massenkundgebungen der Weimarer Republik [1]. Die Zahl der zu diesem Justizmord verfaßten Texte, gemalten Bilder und gesungenen Lieder ist Legion, weltbekannte Künstler, Literaten und Musiker wie Diego Rivera, George Grosz, Ben Shahn, John Dos Passos, Nâzim Hikmet, Upton Sinclair, H. G. Wells, Woody Guthrie oder Joan Baez bezeugten in ihren Werken tiefe Betroffenheit angesichts der staatlichen Auslöschung zweier als Sozialkämpfer in jeder Hinsicht überzeugender Aktivisten.

Für die Menschen in aller Welt, die sich sieben Jahre lang für die Befreiung Saccos und Vanzettis eingesetzt hatten, war dieses Ende nicht nur eine epochale Niederlage, es warf auch den Schatten des deutschen und italienischen Faschismus voraus, der in den USA nur vorübergehend für ein Nachlassen der staatlichen Unterdrückung linker Gruppen und Organisationen sorgen sollte. Gerade weil in diesem Fall Anarchisten, Kommunisten und Sozialisten nach dem Zerwürfnis während der Oktoberrevolution, die in die brutale Verfolgung anarchistischer Revolutionäre durch die Bolschewiki mündete, obwohl diese maßgeblich zu ihrem Gelingen beigetragen hatten, auf seitdem nicht mehr gekannte Weise zusammenarbeiteten, hätte sich daraus eine zukunftsweisende Bewegung entwickeln können. Ein letzter Versuch des gemeinsamen Kampfes im republikanischen Spanien scheiterte auf eine Weise, die bis heute für tiefgreifende Kontroversen sorgt. Der mörderische Antibolschewismus des NS-Regimes, der Zweite Weltkrieg, der sogenannte Kalten Krieg und das sang- und klanglose Ende der realsozialistischen Welt trugen dazu bei, daß die anarchistische Bewegung nicht mehr an ihre frühere Stärke, die sie zur Lebenszeit von Sacco und Vanzetti aufwies, anknüpfen konnte.

In dem 2006 erstmals gezeigten Dokumentarfilm "Sacco and Vanzetti", der nun, mit deutschen Untertiteln versehen, auch hierzulande ins Kino kommt, wird die Geschichte der beiden Einwanderer umfassend und unter Verwendung von ihnen selbst in Haft verfaßter Texte nacherzählt. Regisseur Peter Miller bot letzte Zeitzeugen und prominente Kommentatoren der US-Linken wie Howard Zinn und Studs Terkel auf, um den persönlichen Hintergrund der beiden erklärten Anarchisten, ihre politische Streitbarkeit und persönliche Empathie wiedererstehen zu lassen. Viel Raum erhalten auch die sozialen Umstände, unter denen Einwanderer nicht nur italienischer Herkunft zu leiden hatten, die ihre Existenz in den USA meist unter sehr bescheidenen materiellen Bedingungen bestreiten mußten. Sie lebten nicht "in Amerika, sondern unter Amerika", so ein Zitat im Film, was dazu beitrug, daß die Hoffnung auf menschliche Emanzipation im Anarchismus auf eine Weise widerhallte, die seinen Gruppen und Organisationen gerade in migrantischen Gemeinschaften in den USA starken Zulauf verschaffte. Während es anarchistischen Bewegungen in der Ukraine und Mexiko fast gelang, den libertären Kommunismus zu etablieren, blieb die soziale Revolution in den USA allerdings außer Reichweite.

Sacco und Vanzetti gehörten zum Kreis um den Anarchisten Luigi Galleani. Er vertrat die militante Aktionsform der "Propaganda der Tat", die das Erreichen sozialrevolutionärer Ziele im Kampf gegen den Staat mit allen Mitteln befürwortete. Ob der Schuhschneider Sacco und der Fischhändler Vanzetti selbst an der Ausführung von Bombenanschlägen beteiligt waren oder sie unterstützt hatten, ist nicht bekannt, sie galten als eher der Peripherie der sogenannten Galleanisti zugehörig. Die Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen anarchistischen Bewegungen und den staatlichen Behörden wird in dem Film zwar anläßlich des Falles von Sacco und Vanzetti geschildert, nimmt jedoch in seiner zeitgeschichtlichen Bedeutung zu wenig Kontur an. Zwar werden die sozialen Umstände, aus denen heraus sozialer Widerstand erwuchs, auf eindringliche milieuspezifische Weise dargestellt. Der Einbettung der Geschichte dieser beiden unfreiwillig weltberühmt gewordenen Anarchisten in die sozialrevolutionären Kämpfe des frühen 20. Jahrhunderts wird jedoch zu wenig Aufmerksamkeit zuteil, so daß die Bedeutung des Kampfes um ihre Befreiung für den damaligen Stand revolutionärer Politik eher unterbelichtet bleibt.

Die mit viel Empathie und Engagement von Historikern und Aktivisten, die dieser Justizmord offenkundig stark bewegt, kommentierte Geschichte Sacco und Vanzettis greift durchaus auf das Publikum über. Wie die Niederschriften zeigen, die die beiden Anarchisten in ihrer siebenjährigen, schon für sich genommen eine schwere Strafe für sozialen Widerstand darstellenden Haft vefaßten, waren beide von einem tiefempfundenen Bewußtsein für die soziale Ungerechtigkeit der kapitalistischen Gesellschaft geprägt. Die Unversöhnlichkeit, mit der diese ihre politischen Gegner bekämpfte, konnte schon damals nicht überraschen. Dementsprechend wird dem liberalen Reflex, sich aus verletztem Gerechtigkeitsgefühl über eine Justiz zu empören, die Klasseninteressen durchsetzt, weil das herrschende Recht nun einmal das Recht der Herrschenden ist, um im Endeffekt den korrekt funktionierenden Rechtsstaat einzufordern, in der Dokumentation wenig Raum gegeben.

Über die Schilderung der persönlichen Befangenheit des Vorsitzenden Richters Webster Thayer am Gericht in Dedham, Massachusetts, eines ausgesprochenen Linkenhassers, hinaus wird auf die als Red Scare bekanntgewordene erste große Kommunistenhatz 1919 und 1920, mit der vor allem auf den Erfolg der Oktoberrevolution in Rußland reagiert wurde, verwiesen. Vor allem jedoch wird an den Rassismus erinnert, mit dem italienische Migrantinnen und Migranten damals in den USA konfrontiert waren. Die Parallele zur vornehmlich schwarzen Bürgerrechtsbewegung, deren Ziel einer vollständigen Gleichstellung afroamerikanischer Menschen in den USA bis heute auf sich warten läßt, drängt sich dabei wie von selbst auf. Parallelen werden auch zur politischen Strafverfolgung der frühen 2000er Jahre gezogen, wurden die bürgerlichen Grundrechte in den USA nach den Anschlägen des 11. September 2001 doch stark eingeschränkt.

Was in Charlottesville geschah und wie US-Präsident Donald Trump auf den Aufmarsch schwerbewaffneter Nazis reagierte, ist einer von vielen Belegen für einen reaktionären Rollback von historischem Ausmaß [2]. Der sich weiter vertiefende Klassenantagonismus im globalisierten Kapitalismus, der damals wie heute rassistischen, sozialchauvinistischen und patriarchalen Imperativen vorausgeht, und die Selbstverständlichkeit, mit der staatliche Ermächtigung in Nordamerika wie Westeuropa eine die Tragweite jeder konstitutionell verfaßten Demokratie sprengende Form von permantem Ausnahmezustand annimmt, machen es für die Zukunft emanzipatorischer Bewegungen um so dringlicher, sich die Geschichte sozialrevolutionärer Kämpfe anzueignen. Aus ihr zu lernen, um nicht die gleichen Fehler zu wiederholen, ist die Mindestanforderung an eine Linke in Zeiten wachsender Bedrängnis.


Fußnoten:

[1] https://www.jungewelt.de/artikel/31122.opfer-politischer-hysterie.html

[2] HERRSCHAFT/1768: Wer schützt den Krisenstaat in der Staatskrise? (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/herr1768.html

18. August 2017


Sacco & Vanzetti
Ein Dokumentarfilm von Peter Miller
USA 2006
Original mit deutschen Untertiteln
81 min
Premiere: 20. August, 20:45 Uhr, hofkino.berlin


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