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GERIATRIE/315: Adipositas - Wenn eine Pandemie die andere befeuert (SHÄB)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 2, Februar 2022

Wenn eine Pandemie die andere befeuert

von Uwe Groenewold


ADIPOSITAS. Insbesondere unter älteren Menschen wird bundesweit eine Gewichtszunahme beobachtet. Experten wie der Lübecker Diabetologe Prof. Morten Schütt sehen einen problematischen Zusammenhang mit Corona und raten dazu, Adipositas zu verhindern.


Adipositas als Volkskrankheit ist im vergangenen Jahrzehnt auch bei den Senioren angekommen. Insbesondere die Zahl adipöser älterer Menschen ist zwischen 2009 und 2018 stark gestiegen, wie aktuelle Zahlen des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi) belegen. "Auffallend ist, dass im Beobachtungszeitraum vor allem in den höheren Altersgruppen ab 80 Jahren ein starker Anstieg in der Diagnosehäufigkeit von Adipositas stattgefunden hat. So fand zum Beispiel bei Hochaltrigen im Alter von 85 bis 89 Jahren eine Steigerung um 80 % bei Frauen von 8,3 auf 14,9 % und bei Männern eine Verdopplung von 6,4 auf 12,9 % statt", heißt es in der Versorgungsatlas-Studie des Zi (https://doi.org/10.20364/VA-21.10).

Dass sich dieser Trend seit 2018 relativiert hat, glaubt Diabetologe Prof. Morten Schütt aus Lübeck nicht. Ganz im Gegenteil: "Wir haben es inzwischen mit zwei Pandemien zu tun", erklärt Schütt auf Anfrage des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblattes, wobei die eine die andere befeuere: Corona sorge für eine massive Gewichtszunahme bei einem Teil der Bevölkerung, "hier erwartet uns eine Explosion der Daten", befürchtet er. Erste Analysen des Münchener Else Kröner Fresenius Zentrums für Ernährungsmedizin, die im vergangenen April 1001 Erwachsene zwischen 18 und 70 Jahren befragten, unterstreichen die schlimmsten Befürchtungen: 39 % der Deutschen haben im ersten Jahr der Pandemie durchschnittlich 5,6 kg zugenommen, bei den Adipösen steigerte sich das Gewicht gar um 7,2 kg.

Unter Corona haben sich Lebensstil und Lebensqualität vieler Menschen verschlechtert, sagt Ernährungsmediziner Prof. Hans Hauner. Etwa ein Drittel der befragten Erwachsenen gab an, mehr zu essen, überwiegend ungünstige Lebensmittel und Mahlzeiten zu sich zu nehmen. Seelische Belastungen fördern darüber hinaus ein ungünstiges Essverhalten. Außerdem gaben 52 % der Befragten an, sich weniger zu bewegen, vor allem bei seelischer Belastung und hohem BMI. Der Münchener Experte: "Es ist zu befürchten, dass durch die Verschlechterung der Lebensweise viele chronische Wohlstandskrankheiten begünstigt werden. Gleichzeitig gilt Adipositas als Treiber der COVID-19-Pandemie, denn mit dem BMI steigt auch das Risiko, schwer an Corona zu erkranken. Damit entsteht ein Teufelskreis, da sich Adipositas- und Corona-Pandemie gegenseitig verstärken."

Zurück zu den älteren Menschen: Die klinische Relevanz neu diagnostizierter Adipositas bei über 80-Jährigen sollte anders als bei jüngeren Menschen bewertet werden, so Diabetologe Schütt. "Übergewicht kann in höherem Alter in kritischen Situationen sogar ein Vorteil sein. Maßgeblicher ist die körperliche Fitness des Einzelnen, da auf diese Weise negative Einflüsse der Adipositas korrigiert werden können und gegebenenfalls sogar Vorteile gegenüber den untrainierten Schlanken bestehen." Dass im Alter erworbene Fettleibigkeit zu einer signifikant höheren Sterblichkeit führt, bezweifelt Schütt. Gleichwohl erhöhe Adipositas das Morbiditätsrisiko etwa als Trigger für Typ-2-Diabetes, kardiovaskuläre Erkrankungen und Krebs. Und auch die Teilhabe am normalen Leben sei durch Adipositas erschwert bis eingeschränkt, der Versorgungsbedarf etwa in der Pflege deutlich erhöht.

Was tun? "Wer gesund alt werden will, sollte frühzeitig darauf achten, eine Adipositas zu verhindern", empfiehlt Schütt. Metabolisch gebe es im Alter weniger Möglichkeiten, eine Adipositas nachhaltig wieder zu reduzieren (hormonelle Veränderungen, reduzierte Muskelmasse). "Eigentlich ist mit zunehmendem Alter mehr körperliche Aktivität notwendig, doch leider ist das Gegenteil der Fall." Er plädiert dafür, das Angebot zur körperlichen Aktivität für ältere und alte Menschen flächendeckend auszubauen. "Da ist die Politik gefordert, ein solches Angebot sicherzustellen. Ehrenamtlich geführte Vereine sind vor allem auch durch die Pandemie in ihrer Existenz bedroht."

Stärker gefährdet als Senioren sind laut Schütt fettleibige Kinder und Jugendliche. "Das Risiko für kardio-metabolische Erkrankungen steigt bei jungen Menschen erheblich. Diese wieder zurück aus der Adipositas zu führen, wird eine der großen Herausforderungen der nächsten Jahre. Deshalb ist eine Umsetzung der bereits geplanten, aber wegen Corona vernachlässigten Nationalen Diabetesstrategie, die auch Adipositas und Prä-Diabetes mit einbezieht, unbedingt zeitnah erforderlich", sagt Schütt. Die Einführung eines strukturierten Behandlungsprogramms (DMP Adipositas) ist laut Bundeskabinettsbeschluss für 2023 vorgesehen.

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 2, Februar 2022
75. Jahrgang, Seite 36
Herausgeber: Ärztekammer Schleswig-Holstein
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
Telefon: 04551/803-0, Fax: 04551/803-101
E-Mail: info@aeksh.de
Internet: www.aeksh.de
 
Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 12. März 2022

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