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NEUROLOGIE/2065: Kein Zusammenhang zwischen Migräne und Demenz (idw)


Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V. - 20.05.2020

Kein Zusammenhang zwischen Migräne und Demenz


Migräne kann in bestimmten Fällen mit einem erhöhten Schlaganfallrisiko einhergehen und außerdem zu Veränderungen im Hirngewebe führen. Ob Migräne aber direkt auch das Demenzrisiko erhöht, wurde nun erstmals an einer großen Kohorte prospektiv untersucht [1]. Das beruhigende Ergebnis: Es besteht kein Zusammenhang zwischen Migräne und Demenz.

Die Migräne ist eine komplexe neurologische Erkrankung mit vaskulären und neuronalen Komponenten. Die Ursachen und Entstehungsmechanismen sind bis heute nicht vollständig geklärt. Aufgrund der Beteiligung der Hirngefäße an der Migränesymptomatik wird seit längerer Zeit untersucht, ob es Zusammenhänge zwischen der Kopfschmerzerkrankung und dem Auftreten von Gefäßerkrankungen/Schlaganfällen oder dem Verlust kognitiver Fähigkeiten bzw. einer Demenz gibt. Es zeigte sich, dass insbesondere Migräneerkrankungen mit Aura (d. h. mit vorangehenden Sehstörungen wie Flimmern oder Lichtblitzen oder auch neurologischen Symptomen) mit einem leicht erhöhten Schlaganfallrisiko einhergehen (bei Frauen mit Migräne-Aura ist das Risiko 2,1-fach erhöht, bei Männern 1,4-fach [2]). In der ARIC-Studie ("Atherosclerosis Risk in Communities") fand sich darüber hinaus eine Assoziation zwischen Migräneanamnese und Veränderungen der weißen Hirnsubstanz (sogenannte Hyperintensitäten im MRT [3, 4]), schlaganfallähnlichen Läsionen ("stumme Infarkte") sowie Gehirnvolumenänderungen [5] in der zerebralen Bildgebung. Solche Auffälligkeiten im Hirngewebe sind wiederum mit einem erhöhten Risiko kognitiver Störungen assoziiert, woraus sich die Frage ergibt, ob eine Migräne selbst auch einen Risikofaktor für die Entwicklung einer Demenzerkrankung darstellt. Nur wenige Studien haben dies bisher untersucht; meist waren es kleine, retrospektive Studien oder Analysen mit kurzem Follow-up. Nun wurde die erste prospektive Studie zur Frage der Assoziation von Migräne und Demenz anhand einer großen U.S.-amerikanischen Kohorte publiziert.

Die Migräneanamnese wurde in der Studie mit einem Fragebogen erhoben (Symptome entsprechend den Kriterien der "International Headache Society"), Patienten mit vorbestehender Demenz oder Schlaganfällen wurden ausgeschlossen. Die Diagnose Demenz wurde anhand von kognitiven Tests, neuropsychologischen Untersuchungen und der klinischen Beurteilung von Verdachtsfällen gestellt. Die Inzidenzberechnung beruht auf den bestätigten Fällen, telefonischen Verlaufskontrollen und der Erfassung von Klinikdiagnosen und Todesursachen. Es wurden 12.495 Teilnehmer, darunter 1.397 Migränepatientinnen und -patienten, im Alter zwischen 51-70 Jahren analysiert, die mediane Nachbeobachtungszeit betrug 21 Jahre.

Im Ergebnis errechnete sich bei den Teilnehmern ohne Migräne eine Demenz-Prävalenz von 18,5% (1821/9955), von 16,7% (233/1397) bei Migränepatienten, und von 15,8% (196/1243) bei schweren Nicht-Migräne-Kopfschmerzen in der Anamnese. Insgesamt gab es statistisch keine Assoziation zwischen Migräne und der Demenz-Inzidenz [HR 1,04]. Es wurden außerdem Kovariablen erfasst und überprüft, die einen Einfluss auf die Ergebnisse haben könnten (z. B. Alter, Geschlecht, Abstammung, Bildungsstatus, Einkommen, Nikotin- und Alkoholkonsum, Bluthochdruck, BMI, Diabetes mellitus, koronare Herzerkrankung, Cholesterin). Es fand sich auch keine statistisch bedeutsame Interaktion zwischen Migräne, Demenz und den einzelnen Kovariablen. Allerdings könne anhand der Studiendaten, so die Autoren, nicht differenziert werden, ob möglicherweise weitere Charakteristika wie das Patientenalter zu Migränebeginn oder die Anzahl und der Schweregrad der Migräneanfälle mit einer Demenzentstehung assoziiert sind, dazu müssten noch größere Patientenzahlen analysiert werden.

"Trotz der Tatsache, dass Migränepatienten in seltenen Fällen Veränderungen im Hirngewebe aufweisen, haben die Betroffenen kein höheres Risiko, eine Demenz zu entwickeln", so Professor Dr. med. Hans-Christoph Diener, Essen, Pressesprecher der DGN. "Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es keine Hinweise darauf, dass die bei Migränepatienten auftretenden Veränderungen in der weißen Substanz eine klinische Bedeutung oder einen Krankheitswert haben." Allerdings weist der Experte darauf hin, dass die Betroffenen, vor allem Frauen, die an einer Migräne mit Aura leiden, hinsichtlich ihres Schlaganfallrisikos überwacht und zusätzliche Gefäßrisiken (z. B. Rauchen und Hormonbehandlungen) nach Möglichkeit vermeiden sollten.


Literatur

[1] George KM, Folsom AR, Sharrett AR et al. Migraine Headache and Risk of Dementia in the Atherosclerosis Risk in Communities Neurocognitive Study. Headache 2020 May; 60 (5): 946-53

[2] Schurks M, Rist PM, Bigal ME et al.Migraine and cardiovascular disease: Systematic review and meta-analysis. BMJ 2009; 339: b3914

[3] Palm-Meinders IH, Koppen H, Terwindt GM et al. Structural brain changes in migraine. JAMA 2012; 308: 1889-97

[4] Hamedani AG, Rose KM, Peterlin BL et al. Migraine and white matter hyperintensities: The ARIC MRI study. Neurology 2013; 81: 1308-13

[5] Bashir A, Lipton RB, Ashina S et al. Migraine and structural changes in the brain: A systematic review and meta-analysis. Neurology 2013; 81: 1260-68

Originalpublikation:
DOI: 10.1111/head.13794

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung stehen unter:
http://idw-online.de/de/institution1276

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft - idw - Pressemitteilung
Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V. - 20.05.2020
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Mai 2020

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