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AUGEN/332: Erkrankungsmechanismus der Netzhauterkrankung Lebersche Kongenitale Amaurose entschlüsselt (idw)


Universitätsklinikum Tübingen - 06.06.2011

LCA - Störung des Proteintransports in Sehzelle Auslöser für Netzhauterkrankung


Mutationen in Genen, deren Funktion für das Sehen notwendig ist, sind die Ursache für die erbliche Netzhauterkrankung Lebersche Kongenitale Amaurose (LCA5). Die davon betroffenen Kinder erblinden oft schon während des ersten Lebensjahrs, da ihre Fotorezeptorzellen auf Grund des Gendefekts bereits kurze Zeit nach der Geburt funktionsunfähig werden. Die Erforschung der durch Mutationen verursachten zellulären Defekte ist eine Voraussetzung dafür, rationale Therapieansätze für diese unheilbaren Netzhauterkrankungen zu entwickeln, beispielsweise mittels Gentherapie.

Jetzt ist es einem internationalen Forscherteam unter Federführung von Prof. Marius Ueffing und Dr. Karsten Boldt vom Forschungsinstitut für Augenheilkunde des Universitätsklinikums Tübingen gelungen, den Erkrankungsmechanismus von LCA5 in molekularen und zellphysiologischen Prozessen im Auge zu entschlüsseln und in der renommierten Fachzeitschrift Journal of Clinical Investigation zu veröffentlichen, Clin Invest. doi:10.1172/JCI4562.

Lebersche Kongenitale Amaurose ist eine der schwersten, aber glücklicherweise seltenen erblichen Netzhauterkrankungen. Mutationen in mindestens 15 verschiedenen Genen sind für das Erblinden im Kindesalter verantwortlich. Die betroffenen Gene kodieren Proteine, die vielfältige und sehr spezielle Funktionen in der Netzhaut übernehmen. Da die klinische Ausprägung dieser Gendefekte jedoch sehr ähnlich ist, geht man davon aus, dass verschiedene, sich überschneidende, krankhafte Veränderungen in der Sehzelle zu einer Funktionsstörung der gesamten Zelle führen.

Zelluläre Transportprozesse sorgen dafür, dass Proteine zur richtigen Zeit am richtigen Ort ihre Funktion in der Zelle wahrnehmen können. Viele dieser Transportprozesse laufen über molekulare Transportbänder, auf denen Richtung und Geschwindigkeit vorgegeben sind. Eine zentrale Transportschiene in den Sehzellen des Auges sind die Cilien. Sie überbrücken eine enge Verbindungsstelle zwischen dem äußeren und dem inneren Segment des Fotorezeptors und ermöglichen einen schnellen Transportmechanismus, über den die Proteine, die für das Sehen gebraucht werden, in das lichtempfindliche äußere Segment gelangen. Befördert werden diese Proteine über den so genannten Intraflagellären Transport (IFT), eine kleine, von einem molekularen Motor betriebene molekulare Maschine aus Proteinen, die ein gemeinsames Merkmal aller Cilien ist und auch in anderen Organen gebraucht wird.

Bereits in vorangegangenen Forschungsarbeiten konnte dieselbe international zusammengesetzte Gruppe das von Mutationen betroffene Gen identifizieren. Das in Zusammenarbeit und unter Federführung von Ronald Ropeman, Nijmegen, gefundene LCA5-Gen kodiert Lebercilin, ein bis dahin unbekanntes Protein, das sich hauptsächlich im Bereich des Ciliums nachweisen lässt (den Hollander, Nature Genetics 2007). Dessen Interaktion mit den Transportprozessen im IFT und seine Rolle bei der Entstehung der LCA konnte das Team um Boldt und Ueffing jetzt aufklären. So bindet das Lebercilin an zwei verschiedene Teilkomplexe des IFT. Ein Vergleich des normalen Proteins mit zwei bei LCA5 mutierten Proteinvarianten, die beim Menschen krankheitsauslösend sind, zeigte, dass die Bindungsfähigkeit der defekten Proteine an beide Komplexe durch die Mutation verloren geht. Als Konsequenz der herabgesetzten Bindungsfähigkeit an die IFT-Maschinerie wird das Transportsystem nicht beladen, der Transport von Sehpigment und anderer essentieller Proteine, die für Ausbildung und Funktionsfähigkeit des äußeren Segments notwendig sind, unterbleibt, die Sehfähigkeit geht damit verloren. Lebercilin scheint jedoch kein struktureller Bestandteil des IFT-Systems zu sein. Dies wurde in der Fachwelt bereits vermutet, da Mutationen, die eine Veränderung des Lebercilin Proteins hervorrufen, nicht zu ciliären Transportstörungen im gesamten Organismus führen, sondern sich ausschließlich auf eine schnelle Degeneration der Fotorezeptoren beschränken. Der Forschungsansatz von Ueffing und seinem Team konnte diese Vermutung nun belegen.

Die an den jetzt publizierten Arbeiten mitbeteiligte Gruppe in Philadelphia, USA, hat unmittelbar damit begonnen, Gentherapie für diese Erkrankung zu entwickeln. Ueffing hofft, dass diese für Netzhauterkrankungen erfolgversprechende Form der Therapie in Zukunft nicht nur betroffenen Kindern in den USA, sondern auch in Deutschland angeboten werden kann. Dafür sollen jetzt auch in Tübingen die Bedingungen geschaffen werden. "Tübingen bietet exzellente Voraussetzungen Gen- und Zelltherapie für diese anderweitig unheilbaren Netzhauterkrankungen zu entwickeln und diese auch in die Klinik zu bringen" sagt Ueffing, "Forschungsinstitut und Klinik ziehen hier an einem Strang". Aber er schränkt auch ein: "Auch wenn es optimal läuft, wird es sicher einige Jahre dauern, bis eine experimentell etablierte Therapie so überprüft und abgesichert ist, dass man sie den betroffenen Patienten anbieten kann, denn die Hürden zur Zulassung sind sinnvollerweise hoch." Gefragt nach dem Zeithorizont sagt er, dass er sich sicher ist, dass er dies in seiner Zeit in Tübingen erleben wird.


Ansprechpartner für nähere Informationen:

Universitätsklinikum Tübingen
Department für Augenheilkunde
Forschungsinstitut für Augenheilkunde
Prof. Dr. rer. nat. Marius Ueffing
Röntgenweg 11, 72076 Tübingen
E-Mail marius.ueffing@uni-tuebingen.de

Titel der Originalpublikation
erschienen am 23. Mai 2011 im Journal of Clinical Investigation
Clin Invest. doi:10.1172/JCI4562
Disruption of intraflagellar protein transport in photoreceptor cilia causes Leber congenital amaurosis in humans and mice

Karsten Boldt 1,2; Dorus A. Mans 3,4; Jungyeon Won 5, Jeroen van 1, Reeuwijk 3,4; Andreas Vogt 1,2; Norbert Kinkl 1,2; Stef J.F. Letteboer 3,4; Wanda L. Hicks 5, Ron E. Hurd 5, Jürgen K. Naggert 5, Yves Texier 1,2; Anneke I. den Hollander 3,4,6,7; Robert K. Koenekoop 8, Jean Bennett 9,10; Frans P.M. Cremers 3,4; Christian J. Gloeckner 1,2; Patsy M. Nishina 5, Ronald Roepman 3,4,7 and Marius Ueffing 1,2

1 Division of Experimental Ophthalmology and Medical Proteome Center, Center of Ophthalmology, University of Tübingen, Tübingen, Germany.
2 Department of Protein Science, Helmholtz Zentrum München, German Research Center for Environmental Health, Neuherberg, Germany.
3 Department of Human Genetics, Radboud University Nijmegen Medical Centre, Nijmegen, Netherlands.
4 Nijmegen Centre for Molecular Life Sciences, Radboud University Nijmegen, Nijmegen, Netherlands.
5 The Jackson Laboratory, Bar Harbor, Maine, USA.
6 Department of Ophthalmology, Radboud University Nijmegen Medical Centre, Nijmegen, Netherlands.
7 Institute for Genetic and Metabolic Disease, Radboud University Nijmegen, Nijmegen, Netherlands.
8 McGill Ocular Genetics Center, McGill University Health Center, Montreal, Quebec, Canada.
9 Scheie Eye Institute, F.M. Kirby Center for Molecular Ophthalmology, University of Pennsylvania School of Medicine, Philadelphia, Pennsylvania, USA.
10 Center for Cellular and Molecular Therapeutics, Children's Hospital of Philadelphia, Philadelphia, Pennsylvania, USA.

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung:
http://idw-online.de/de/institution82


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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft - idw - Pressemitteilung
Universitätsklinikum Tübingen, Dr. Ellen Katz, 06.06.2011
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Juni 2011