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NEUROLOGIE/595: Spezielle Physiotherapie hilft bei degenerativen Kleinhirnerkrankungen (idw)


Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH) - 23.11.2009

Spezielle Physiotherapie verbessert deutlich die Symptome bei degenerativen Kleinhirnerkrankungen


Patienten mit degenerativen Kleinhirnerkrankungen können durch intensives koordinatives Training in der Physiotherapie ihre motorische Leistungsfähigkeit hinsichtlich Gleichgewichtskontrolle und Ganzkörperkoordination signifikant und alltagsrelevant verbessern; dies konnte in einer interdisziplinären klinischen Studie von Motorik-Wissenschaftlern, Neurologen und Physiotherapeutinnen des Hertie-Instituts für klinische Hirnforschung (HIH), des Centrums für Integrative Neurowissenschaften (CIN) und des Universitätsklinikums Tübingen erstmals nachgewiesen werden.

Das Kleinhirn (Cerebellum) hat eine zentrale Funktion in der Steuerung von Bewegungen und im motorischen Lernen. Seine Schädigung führt zu Koordinationsproblemen, die als Ataxie bezeichnet werden und eine Störung von Gleichgewicht, Gehfähigkeit und Feinmotorik bewirken. Bei degenerativen Ataxien kommt es zum Beispiel aufgrund eines genetischen Defekts zu einem Funktionsverlust und Absterben von Nervenzellen im Kleinhirn. Zahlreiche Studien haben eine Beeinträchtigung des motorischen Lernens bei Patienten mit Kleinhirnstörungen nachgewiesen. Daher war es zweifelhaft, ob Patienten, die an einer Kleinhirndegeneration leiden, von motorischem Training profitieren können. Andererseits stellt Physiotherapie die derzeit einzige verfügbare Therapieform für die ca. 4000 Patienten mit degenerativen Ataxien in Deutschland dar.

In der Studie untersuchten die Wissenschaftler den Nutzen eines vierwöchigen intensiven Koordinationstrainings an einer Gruppe von 16 Patienten, die an progressiver Ataxie durch eine Degeneration des Kleinhirns leiden. Die Effekte des koordinativen Trainings wurden (1) klinisch anhand einer Ataxie-Skala durch Neurologen bewertet, (2) in einer computerbasierten Bewegungsanalyse von Gang- und Gleichgewichtstests untersucht und (3) bezüglich ihrer Alltagsrelevanz durch die Patienten mittels individueller Zielvorgaben beurteilt. Diese Untersuchungen fanden jeweils acht Wochen vor, direkt vor, direkt nach, sowie acht Wochen nach der Trainingsphase statt. So war es möglich, die Effekte des Koordinationstrainings sowie deren Anhalten nach Beendigung der Trainingsphase zu evaluieren. Zusammenfassend zeigen die Ergebnisse, dass sowohl bei den klinischen Bewertungen der Ataxie-Symptomen als auch in der Erreichung der individuell bestimmten Ziele bezüglich der Alltagsfunktionen signifikante Verbesserungen erzielt werden konnten, die auch bei der Nachuntersuchung noch vorhanden waren. Mittels spezieller Methoden der computerbasierten Bewegungsanalyse konnten die Wissenschaftler weiterhin zeigen, dass die Patienten nicht hauptsächlich von einer höheren allgemeinen Fitness des Herz-Kreislauf-Systems, sondern von spezifischen motorischen Verbesserungen in den Bereichen der Gleichgewichtskontrolle und der Bewegungskoordination profitieren. Ein weiteres zentrales Ergebnis dieser Studie ist, dass die Kontinuität des Trainings für diese Patientengruppe von großer Bedeutung ist. Bei denjenigen Patienten, die im Anschluss an die Interventionsperiode gemäß eines Heimtrainingsplanes regelmäßig weiter trainierten, hielt bei der Nachuntersuchung der Therapieeffekt besser an als bei Patienten, die nicht regelmäßig weiter trainierten. Die Resultate dieser Studie sind höchst relevant für die Therapie und Rehabilitation von Patienten mit Ataxie-Erkrankungen - auch hervorgerufen durch Multiple Sklerose oder Schlaganfall - und belegen die Effizienz von Physiotherapie bei Kleinhirndegenerationen.


Originaltitel:
Intensive coordinative training improves motor performance in degenerative cerebellar disease
W. Ilg (1,5) PhD, M. Synofzik (2) MD, D. Brötz (3), S. Burkard (4), M.A. Giese1,(5) PhD, L. Schöls (2) MD

Erschienen in:
Neurology, published October 28, 2009 as
doi:10.1212/WNL.0b013e3181c33adf

(1) Abteilung Kognitive Neurologie, Sektion Theoretische Sensomotorik am Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH)
(2) Abteilung für Neurodegeneration, Sektion Klinische Neurogenetik am HIH
(3) Institut für Medizinische Psychologie und Verhaltensneurobiologie, MEG Zentrum, Universität Tübingen
(4)Therapie-Zentrum, Universitätsklinikum Tübingen
(5) Werner Reichardt Centrum für Integrative Neurowissenschaften (CIN)

Kontakte:

- Dr. Winfried Ilg
   Kognitive Neurologie, Sektion Theoretische Sensomotorik
- Werner Reichardt
   Centrum für Integrative Neurowissenschaften (CIN)
   und
   Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH)
Universitätsklinikum Tübingen
Zentrum für Neurologie
Mail: winfried.ilg@uni-tuebingen.de

Hertie-Institut für klinische Hirnforschung
Externe Pressestelle:
Kirstin Ahrens
mail@kirstin-ahrens.de
www.hih-tuebingen.de

Universitätsklinikum Tübingen
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Dr. Ellen Katz
Mail: Ellen.katz@med-uni-tuebingen.de
www.medizin.uni-tuebingen.de

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung:
http://idw-online.de/pages/de/institution1351


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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft - idw - Pressemitteilung
Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH)
Kirstin Ahrens, 23.11.2009
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 26. November 2009