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NEUROLOGIE/659: Forschung - Rein ins Nervensystem und von innen aufmischen! (RUBIN)


RUBIN - Wissenschaftsmagazin, Frühjahr 2011
Ruhr-Universität Bochum

Freie Radikale und Nervenerkrankungen
Rein ins Nervensystem und von innen aufmischen!

Von Ben Novak


Bei verschiedenen Nervenerkrankungen wie Parkinson oder Alzheimer kann man in den betroffenen Zellen verstärkten Sauerstoffstress nachweisen: Freie Radikale richten die Zellen zugrunde. Ob sie Auslöser oder nur Vermittler der Krankheit sind, wollen RUB-Forscher am Lehrstuhl für Tierphysiologie (Prof. Dr. Hermann Lübbert) in Zellkultur untersuchen. Sie haben ein Modell entwickelt, bei dem Nervenzellen ihre "Bomben" selbst bauen. Mit Licht lässt sich die Zündschnur anzünden.


Sauerstoff ist ein Giftgas. Mit dieser provokanten These gingen in den 1950er Jahren verschiedene Wissenschaftler an die Öffentlichkeit. Sie hatten sich mit den altersbedingten Veränderungen von Zellen und verschiedenen Biomolekülen beschäftigt, und mussten feststellen, dass Sauerstoff, das unabdingbare Atemgas für nahezu alles Leben auf der Erde, für verschiedenste Schäden auf molekularer und zellulärer Ebene verantwortlich ist.

Wie kann das sein? Gemeinhin assoziiert man mit Sauerstoff das Atmen und Überleben und sicher nicht Altern und Zerstörung. Dies gilt zumindest für biologische Prozesse. Wenn allerdings ein Auto Rost ansetzt, wofür eine Reaktion des Karosserieblechs mit Sauerstoff verantwortlich ist, sieht das schon anders aus.

Der Sauerstoff, engl. oxygen, hat eine zentrale chemische Eigenschaft: Er oxidiert, also verbrennt andere Moleküle. Dahinter steckt der Vorgang, sich Elektronen aus der Außenhülle von anderen Molekülen zu schnappen, wobei diese oxidiert, der Sauerstoff selbst reduziert wird. Ein bekanntes Bild dafür ist die sog. Knallgasreaktion, bei der Wasserstoff und Sauerstoff unter großer Energiefreisetzung Wasser bilden. Lebewesen haben einen kontrollierten Weg gefunden, Elektronen schrittweise auf den Sauerstoff zu übertragen und die freiwerdende Energie nutzbar zu machen. Das macht Sauerstoff zur wichtigsten Energiequelle für biologische Reaktionen. Das Leben hat sich somit ein wirkmächtiges Element als Treibstoff für seine energieverbrauchenden Prozesse ausgesucht.

Dies birgt allerdings auch Gefahren - wir kennen diesen Zwiespalt zum Beispiel aus der Atomkraftnutzung. Die Energieeffizienz ist sehr hoch, doch niemand möchte erleben, was passiert wenn etwas schiefgeht. Auch in den Kraftwerken der Zelle, den Mitochondrien, wird immer mit dem Super-GAU gerechnet. Dieser heißt hier oxidativer Stress: Bei der Zellatmung fallen ständig, und bei verschiedenen Erkrankungen im Übermaß, sog. reaktive Sauerstoffspezies an. Sie werden auch verallgemeinernd als freie Radikale bezeichnet, da viele von ihnen aufgrund zusätzlicher Elektronen auf ihrer Außenhülle besonders gerne andere Moleküle "verbrennen". Natürlich ist jede Zelle stets bemüht, solche Radikale unschädlich zu machen, indem sie ihnen Moleküle entgegensetzt, die sich "freiwillig" oxidieren lassen. Es gibt Moleküle wie das Glutathion, die nur gebildet werden um oxidiert zu werden. So verhindern sie Schaden an wichtigen Zellstrukturen. Gelingt dies nicht und nehmen die Radikale Überhand, spricht man vom oxidativen Stress, und der kann zur Zerstörung der Mitochondrien und letztlich zum Zelltod führen.

Solche Prozesse treten häufig im Zusammenhang mit Erkrankungen des zentralen Nervensystems auf, etwa bei Parkinson und Alzheimer, bei denen Nervenzellen massenhaft zugrunde gehen. Unsere Nervenzellen sind aufgrund ihres extremen Energiebedarfs und ihrer komplexen, ausgeklügelten Zellarchitektur wahre Sensibelchen, wenn es zu oxidativem Stress kommt. Im Verlauf verschiedenster sog. neurodegenerativer Erkrankungen konnte man bisher erhöhten oxidativen Stress dokumentieren. So auch bei Parkinson und Alzheimer. Allerdings konnte vielfach noch nicht geklärt werden, ob die freien Radikale Auslöser oder Vermittler der Krankheitssymptome sind. Wären sie reine Vermittler, würde vor der Radikal-Entstehung ein anderer Prozess stehen, zum Beispiel eine Hemmung der Zellatmung durch ein mutiertes Protein.

Um nun die Rolle und Funktion der reaktiven Sauerstoffspezies in Nervenzellen genauer zu untersuchen, wollten wir ein neuartiges Modellsystem schaffen, das es uns ermöglicht, wählbare Intensitäten an oxidativem Stress in Nervenzellen in der Zellkultur zu generieren. Daher wollten wir die Radikale in den Mitochondrien, dort also, wo sie in der Natur auch entstehen, sowie in variabler Stärke und zu einem von uns gewählten Zeitpunkt erzeugen.

Bei diesem Versuch kam uns zugute, dass Biologen und Mediziner oxidativen Stress in einem anderen Zusammenhang schon zielgerichtet einsetzen, nämlich bei einer modernen Form der Krebsbehandlung, der Photodynamischen Therapie. Bei dieser Behandlungsform, die bei bestimmten Hauttumoren eingesetzt wird, lässt man die Zellen zunächst ein für sie harmlos anmutendes kleines Molekül (in unserem Fall die d-Aminolevulinsäure; 5-ALA) aufnehmen. In der Behandlung geschieht das über eine Salbe. 5-ALA ist per se nicht giftig, sondern kommt sogar im Körperstoffwechsel vor. Nehmen Zellen jedoch übermäßig viel davon auf, dann bilden sie in ihren Mitochondrien verstärkt ein großes Molekül namens Protoporphyrin IX (PpIX). Es hat eine beeindruckende Eigenschaft: Setzt man es einem bestimmten Typ von rotem Licht aus, reagiert es mit Sauerstoff und bildet hochreaktive Sauerstoffspezies, d.h. freie Radikale. Diese führen dazu, dass die behandelten Zellen absterben. Auf diese Weise können Dermatologen bestimmte Hautkrebsformen effizient bekämpfen.

Diese Herangehensweise schien alle von uns geforderten Eigenschaften zu erfüllen. Dennoch gab es ein Problem. Niemand hatte bisher ausprobiert, ob die Photodynamische Therapie überhaupt auf Nervenzellen (Neurone) wirkt, d.h. ob sie überhaupt 5-ALA aufnehmen und PpIX herstellen. Nur einige Berichte von Hautkrebspatienten über Schmerzen während der klinischen Anwendung ließen auf eine Beteiligung der sog. sensorischen Nervenzellen schließen, die die Schmerzwahrnehmung organisieren. So entstand dann das Projekt:

Kultivierte sensorische Nervenzellen (s. Abb. 2) wurden mit 5-ALA behandelt, indem wir das Molekül dem Nährmedium zufügten. Dann untersuchten wir die PpIX-Bildung und ihre Reaktion auf photodynamisch erzeugte Sauerstoffradikale. Hierbei kamen Methoden zum Einsatz, die die PpIX-Fluoreszenz bestimmen, die enzymatische Aktivität der Mitochondrien messen oder mit Hilfe von fluoreszierenden Farbstoffen zeigen, ob eine Zelle Signale sendet. Schnell konnten wir zeigen, dass die Zellen 5-ALA aufnehmen und den Photosensibilisator PpIX herstellen (Abb. 2). Auch den molekularen Weg des 5-ALA Transports konnten wir genau klären. Das Molekül wird über einen sog. Transporter in die Zelle eingeschleust, der eigentlich Botenstoffe aufnehmen soll. In der Folge konnten wir feststellen, dass wir mit Hilfe unseres Testsystems gezielt die Mitochondrien der Nervenzellen schädigen können. Wir konnten funktionale und strukturelle Einschränkungen beobachten, die klar mit der Menge an gebildetem PpIX korrelieren. Die Mitochondrien führten die Zellatmung nicht mehr effizient aus und konnten die Energieversorgung der Nervenzellen nicht mehr sicherstellen. Viele Nervenzellen verloren dadurch ihre Fortsätze (Abb. 3 und 4) oder begingen zellulären Selbstmord (Apoptose). Dies sind Symptome, die man bei vielen neurodegenerativen Erkrankungen beobachten kann.

Es ist somit gelungen, ein neues in vitro-Modellsystem für oxidativen Stress im Nervensystem zu erzeugen, welches eine Reihe von Vorteilen bietet. Zum Beispiel setzt es direkt in den Mitochondrien an, und der Zeitpunkt, zu dem man die Bildung der reaktiven Sauerstoffspezies startet, ist genau bestimmt: Die Zellen basteln die Bomben selbst in ihren Kraftwerken, und wir können die Zündschnur mit Licht anzünden. Zudem haben wir herausgefunden, dass die Erzeugung von Radikalen die sensorischen Nervenzellen dazu veranlasst, Signale zu erzeugen. Das tun sie auch, wenn sie mit einem schmerzhaften Reiz (großer Hitze, Kälte, einer Verletzung) konfrontiert werden. Dies erklärt auch den von Hautkrebspatienten beschriebenen Schmerz während der Photodynamischen Behandlung.

Bei der Untersuchung der Zellen der obersten Hautschicht konnten wir zudem herausarbeiten, dass diese den Nervenzellen mit Hilfe eines Signalmoleküls mitteilen können, wenn sie oxidativem Stress ausgesetzt sind. Sie haben also eine Warnfunktion.

Wir haben somit ein neues Modellsystem entwickelt, welches zu einem wichtigen Werkzeug zur Analyse und Beeinflussung des oxidativen Stresses werden kann, wenn es auch auf andere Zelltypen des Nervensystems übertragen wird. Hierzu nimmt man dann nicht die sensorischen Nervenzellen in Kultur, sondern die Neurone des Mittelhirns, die bei Parkinson befallen sind, oder die der Großhirnrinde, die bei Alzheimer absterben.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Seite 54:
Abb. 1: Ben Novak im Labor: Rotlicht setzt die "Zündschnur" in Brand, die in den Zellen Sauerstoffstress auslöst.

Seite 55:
Abb. 2: Nervenzellen in Kultur. Durch Fluoreszenzfarbstoffe lässt sich PpIX unter dem Mikroskop sichtbar machen (rot). Die Zellen stellen es her, wenn sie wie gewünscht 5-ALA aufnehmen. In grün leuchten die markierten Mitochondrien der Nervenzellen.

Seite 56:
Abb. 3: Mitochondrien unter dem Elektronenmikroskop: links intakt, rechts nach der Zerstörung durch freie Radikale, die sich bei Bestrahlung aus PpIX bilden.

Seite 57:
Abb. 4a: Mit zunehmendem Sauerstoffstress und dadurch beeinträchtigte Zellatmung funktioniert die Energieversorgung der Nervenzellen nicht mehr. Viele Zellen verlieren ihre Fortsätze (links normale Länge, rechts verkürzte Fortsätze).

Seite 57:
Abb. 4b: Die Sauerstoffradikale führen dazu, dass sich die Länge der Fortsätze von Nervenzellen verringert.


Den gesamten Artikel inkl. allen Bildern finden Sie im Internet im PDF-Format unter:
www.ruhr-uni-bochum.de/rubin/


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Quelle:
RUBIN - Wissenschaftsmagazin, Frühjahr 2011, S. 54-57
Herausgeber: Rektor der Ruhr-Universität Bochum in Verbindung
mit der Gesellschaft der Freunde der Ruhr-Universität Bochum
Anschrift: Pressestelle der Ruhr-Universität Bochum, 44780 Bochum
Tel. 0234/32-22 133, -22 830, Fax 0234/32-14 136
E-Mail: rubin@presse.ruhr-uni-bochum.de
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. August 2011