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UMWELT/215: 25 Jahre nach der Tschernobyl-Katastrophe - Ernste Gesundheitsschäden auch im Westen (umg)


umwelt · medizin · gesellschaft - 1/2011
Humanökologie - soziale Verantwortung - globales Überleben

25 Jahre nach der Tschernobyl-Katastrophe -
Ernste Gesundheitsschäden auch im Westen

Von Christine Frenzel und Edmund Lengfelder


Nach der Explosion des Block 4 im Atomkraftwerk Tschernobyl am 26.4.1986 traten mindestens 10 Tage lang radioaktive Substanzen aus, die sich in einem unregelmäßigen Muster über weite Teile Europas verteilten. In Russland, Belarus und der Ukraine wurden nach und nach große Gebiete evakuiert und Hunderttausende sog. Liquidatoren am Unfallort und in der kontaminierten Zone zu Aufräumarbeiten aller Art eingesetzt. Insgesamt wurden in Belarus und in der Ukraine ca. 420.000 Menschen umgesiedelt, ca. 5,7 Mio. Menschen sind direkt von der Tschernobyl-Katastrophe betroffen.

Die wirtschaftlichen, politischen und gesundheitlichen Folgen der Katastrophe von Tschernobyl sind bis heute weder in ihren ganzen Ausmaßen bekannt noch beseitigt. So gab es auch in den von der radioaktiven Wolke berührten Ländern Westeuropas nachweislich gesundheitliche Effekte.

Bei einem ähnlichen Super-Gau in Deutschland muss damit gerechnet werden, dass z. B. wegen der höheren Besiedlungsdichte die Evakuierung von etwa 3 - 6 Millionen Menschen notwendig wäre.

Politik und Bevölkerung sollten endlich den Ernst der Lage begreifen und aus den Erfahrungen der 25 Jahre nach Tschernobyl Lehren ziehen und handeln. Da es weder Sicherheit gegen technisches Versagen, noch gegen menschliches Fehlverhalten oder gar einen zielgerichteten terroristischen Angriff gibt, gebietet es die politische Klugheit und Verantwortung, das Bedrohungspotential durch Atomkraftwerke für die Gesundheit und die wirtschaftlichen Lebensgrundlagen der Bevölkerung unverzüglich zu eliminieren.


Der Reaktorunfall

Am 26. April 1986 ereignete sich die folgenschwerste Katastrophe in der Geschichte der zivilen Nutzung der Atomenergie. Der Block 4 des ukrainischen Atomkraftwerkes Tschernobyl nahe der belarussischen Grenze explodierte. Der bis dahin für extrem unwahrscheinlich gehaltene Fall eines SuperGAUs versetzte die Menschen in Angst und Schrecken. Ursache des Unfalls war nicht das Versagen technischer Komponenten, sondern die falsche Einschätzung bei der Bedienung des Reaktors, also menschliches Versagen.

Der Tschernobyl-Katastrophe lag offenbar nicht nur eine Kernschmelze zugrunde, wie sie von den Betreibern und Befürwortern auch westlicher Kernkraftwerke als maximal mögliches Ereignis postuliert wird. Der Nuklearphysiker Tscheschterow aus dem russischen Kurtschatow-Institut - der Wiege der sowjetischen Atomtechnologie - hat das Innere des explodierten Reaktorgebäudes, das Zerstörungsprofil und die dort vorhandenen Radionuklide genau analysiert. Auf Grund der Nuklidzusammensetzung, dem geringen Schadensbild im Reaktorschacht und den gewaltigen Schäden in den darüberliegenden Gebäudeteilen, in denen wohl impulsartig Temperaturen bis über 35.000°C entstanden sind, steht für Tschetscherow fest, dass eine nukleare Explosion stattfand, deren Sprengkraft er mit 100-150 t TNT angibt. Im Hinblick auf das weltweit wohlgeformte Image der angeblich sicheren Kerntechnik sagt er: "Psychologisch ist es schwer, den Gedanken zu akzeptieren, dass ein Kernreaktor explodieren kann"(1).

Die Freisetzungsdauer am explodierten Reaktor betrug 10 Tage, bei sich ständig ändernden Windrichtungen und Wetterverhältnissen. Das Ergebnis war eine extrem inhomogene Verteilung der freigesetzten Radionuklide über ganz Europa bis Skandinavien und den Norden von Schottland. Der Großteil der Radionuklid-Deposition betraf die GUS-Staaten mit einem Belastungsanteil von ca. 70 % in Belarus, 15 % in der Ukraine und 15 % in Russland. In Belarus wurden ca. 7.000 km² zur Sperrzone und Zone strikter Kontrolle erklärt, in der Ukraine ca. 1.000 km² und in Russland ca. 2.000 km².

In den betroffenen Gebieten von Belarus wurden in den Tagen nach dem Unfall ca. 135.000 Menschen aus der Sperrzone und den angrenzenden Gebieten evakuiert. Insgesamt wurden ca. 250.000 Menschen umgesiedelt, ca. 2,5 Mio. Menschen sind direkt von der Tschernobyl-Katastrophe betroffen. In der Ukraine wurden ca. 90.000 Menschen aus der Sperrzone evakuiert, ca. 170.000 Menschen umgesiedelt und über 2 Mio. Menschen sind direkt betroffen. In Belarus wurden auch weiter vom Reaktorstandort entfernte Gebiete evakuiert und - zum Teil vorübergehend - zur Sperrzone erklärt: Das betraf Dörfer im Rajon (Landkreis) Woloschin - ca. 400 km entfernt (westlich von Minsk). Dörfer im Rajon Wetka (ca. 40 km nordöstlich der Gebietshauptstadt Gomel und ca. 140 km von Tschernobyl entfernt) und im südöstlichen Gebiet der Gebietshauptstadt Mogilew (ca. 200 km entfernt) wurden zum Teil erst 1991/92 evakuiert. Denn nach der gängigen Meinung der Kraftwerksbetreiber (auch der im Westen) hatte man bei diesen Entfernungen nicht mehr mit so hohen Belastungswerten gerechnet. Die Menschen waren bis zum Zeitpunkt der Umsiedlung der vollen Strahlenbelastung ausgesetzt, sie haben "ihr Krebsrisiko" mitgenommen.

Die sowjetische Regierung hatte etwa 800.000 sog. Liquidatoren in das Unglücksgebiet gesandt, die als Aufräumarbeiter am Reaktor, Helfer bei der Evakuierung von Bevölkerung und Vieh, zur Herstellung des Sarkophags, zum Waschen von Ortschaften und für viele andere Aufgaben eingesetzt wurden (Abb. 1). Bei vielen wurden die offiziellen Strahlengrenzwerte von 0,25 Sv Lebenszeitdosis weit überschritten. Auch sie haben ein großes Erkrankungsrisiko für Krebs und andere Krankheiten mit in ihre Heimat zurückgenommen. Als Liquidatoren wurden größtenteils junge Soldaten, aber auch Mediziner, Ingenieure und Strahlenfachleute eingesetzt. Nach Angaben der Gesundheitsbehörden in der Ukraine sind bis 2006 mindestens 15.000 Liquidatoren gestorben, mitgerechnet die große Zahl an Selbstmorden. Die Liquidatorenverbände der drei Republiken geben erheblich höhere Zahlen an. Sie gehen davon aus, dass bis heute ca. 100.000 Liquidatoren gestorben sind. Viele der Liquidatoren leiden heute u. a. an Herz-Kreislauf-Problemen, Lungenkrebs, Entzündungen des Magen-Darm-Bereichs, Tumoren und Leukämie. Unter den Liquidatoren ist die Selbstmordrate wegen ihrer als fatal empfundenen Perspektivlosigkeit besonders hoch. Viele Betriebe schrecken vor einer Einstellung zurück, wenn sie von der Tätigkeit als Tschernobyl-Liquidator erfahren. Auch haben sich viele Ehefrauen und Lebenspartnerinnen nach der Rückkehr ihres "Liquidators" von ihm getrennt. Die Frauen hatten Angst, dass ihre Männer an Krebs erkranken oder künftige gemeinsame Kinder behindert sein würden.


Schilddrüsenkrebs und andere Erkrankungen in Belarus

Bereits mit Ablauf des Jahres 1990 war in Belarus die Inzidenz für Schilddrüsenkrebs bei Kindern gegenüber dem 10-Jahres-Mittelwert vor 1986 um mehr als das 30-fache erhöht (2, 3). EU-Staaten und die USA haben sich geweigert, diese Tatsache anzuerkennen. Von 1989-1991 wurde das Internationale Tschernobyl-Projekt zur Erfassung der gesundheitlichen, sozialen und ökologischen Folgen durchgeführt. Daran nahmen 500 Wissenschaftler der Sowjetunion und 200 Wissenschaftler aus 25 westlichen Staaten teil, die von ihren Regierungen ausgesucht worden waren, darunter 16 aus Deutschland. Die Ergebnisse wurden zentralisiert bewertet. Im Mai 1991 gaben die UN-Organisationen IAEA, UNSCAER, FAO, WHO u.a. auf einem Weltkongress in Wien diese Ergebnisse bekannt. Als ein wesentliches Fazit wurde verkündet:

"Es gab keine Gesundheitsstörungen, die direkt einer Strahlenbelastung zugeordnet werden konnten. ... Auf der Grundlage sowohl der Strahlendosen, die durch das Projekt abgeschätzt wurden, als auch der gegenwärtig akzeptierten Abschätzung des Strahlenrisikos dürften künftige Anstiege über das natürliche Auftreten von Krebsfällen und vererbte Effekte hinaus schwierig festzustellen sein, selbst mit großen und gut angelegten, langfristigen epidemiologischen Studien" (4).

Gegen diese Erklärung und Schlussfolgerung erhob eine Gruppe von belarussischen und ukrainischen Wissenschaftlern, die in Wien im Auftrag ihrer Regierungen über eigene umfangreiche und unabhängige Untersuchungen berichten sollten, heftigen Protest (2). Dem US-amerikanischen Radiologen Fred Mettler, der die Gesundheitsfolgen im Auftrag von IAEA und WHO untersucht hatte, waren nämlich die histologischen Nachweise für den sprunghaften Anstieg der kindlichen Schilddrüsenkarzinome bereits übergeben worden. Aber Mettler und die IAEA unterdrückten die Daten, was später durch die Recherchen von BBC nachgewiesen worden ist (5). Im Westen entstand trotz der vielen Widersprüche, insbesondere bei Nichtstaatlichen Organisationen eine große Welle der Hilfsbereitschaft und Unterstützung der unterschiedlichsten Maßnahmen für die strahlenbelasteten Gebiete (6).

Im Juni 2000 informierte die IAEA die Weltöffentlichkeit mit der Überschrift: UN Komitee für die Effekte der Atomstrahlung bestätigt frühere Abschätzungen der IAEA. In diesem Bericht des UNSCEAR Komitees heißt es:

"Es gibt keinen Hinweis auf eine größere Auswirkung für die Gesundheit der Bevölkerung, die man 14 Jahre nach dem Unfall der Strahlenbelastung zuordnen könnte, abgesehen von einem hohen Anteil an (behandelbaren, nicht tödlichen) Schilddrüsenkrebsfällen bei Kindern" (7).

Diese Aussage ist falsch, weil die Daten zum Anstieg der Schilddrüsenkarzinome bei Erwachsenen unterdrückt wurden. Sie ist auch zynisch, denn sie gilt nur dann, wenn der komplette westliche Behandlungsstandard zur Verfügung steht, den es dort aber nicht gab. Aber keine UNO-Organisation engagiert sich im Bereich der medizinischen Versorgung von Kliniken zur Behandlung von Schilddrüsenkrebs und anderer Krebserkrankungen. Bis 1995 erreichte die Neuerkrankungsrate von Schilddrüsen-krebs bei Kindern (0-14 Jahre) in Belarus den Höchststand (8).

1998 entwickelte die WHO aus dem zeitlichenVerlauf der bis dahin aufgetretenen Fälle von Schilddrüsenkarzinomen bei Kindern die Prognose, dass allein im Gebiet Gomel von allen Kindern, die zum Zeitpunkt der Reaktorkatastrophe zwischen 0 und 4 Jahren alt waren, ein Drittel im Laufe ihres Lebens - also mehrere 10.000 Menschen - an Schilddrüsenkrebs erkranken werden. Die reale Entwicklung der Schilddrüsenkrebsinzidenz in Belarus wurde aber in den Expertenberichten zahlreicher internationaler Organisationen und Forschergruppen und von Regierungsstellen praktisch aller europäischen Länder nicht kommuniziert (8).

Das Gebiet (Oblast) Gomel - Fläche etwa wie die Schweiz - ist die Region in Belarus, die durch die Tschernobyl-Katastrophe am stärksten betroffen wurde. Im Oblast Gomel liegt auch der belarussische Teil der Tschernobyl-Sperrzone. Das Otto Hug Strahleninstitut - MHM hat in Gomel ein Schilddrüsenzentrum errichtet, das seit 1993 routinemäßig arbeitet. Zum Zentrum gehört auch die Abteilung für Radiojodtherapie (seit 1998) in der Onkologischen Klinik. Das Zentrum ist für die Betreuung aller Patienten des Oblast Gomel mit Pathologien der Schilddrüse einschließlich Krebs zuständig. Die Behandlung erfolgt auf westlichem Niveau und mit westlichen Analysekits sowie mit der wöchentlichen Lieferung von Radiojod für die Karzinom-Therapie. Das Paradoxe an dieser Therapieform ist, dass radioaktives Jod, das den Krebs der Schilddrüse ausgelöst hat, auch zur Bekämpfung des Schilddrüsenkrebses verwendet wird. Die Versorgung des Zentrums wird seit Beginn der Arbeit durch das Otto Hug Strahleninstitut-MHM sichergestellt.

Bis Ende 2010 waren etwa 160.000 Patienten zur Untersuchung im Schilddrüsenzentrum Gomel. Dabei wurden ca. 460.000 Laboranalysen der Schilddrüsenhormone durchgeführt. Dazu kommen pro Jahr ca. 22.000 Ultraschalluntersuchungen und etwa 4.000 Schilddrüsen-Punktionen. Ferner wurden bis Ende 2010 über 10.000 Radiojod-Anwendungen durchgeführt.

Die histologische Untersuchung des operativ entfernten Krebsgewebes zeigte bisher immer wieder, dass besonders bei jungen Patienten gehäuft gleichzeitig auch Autoimmun-Thyreoiditis (Schilddrüsenentzündung mit Angriff des Immunsystems auf körpereigenes Gewebe) vorliegt und diese Erkrankungsform die Krebsentstehung offensichtlich begünstigt. Deshalb ist es besonders wichtig, die jungen Erwachsenen in der Bevölkerung der belasteten Regionen systematisch und regelmäßig zu untersuchen.

Die Häufigkeit der Autoimmun-Thyreoiditis ist in der Zeit von 1988 bis 1999 um das 56,2-fache gestiegen. Im selben Zeitraum stieg diese Erkrankungshäufigkeit bei Kindern um das 84,6-fache.

Im Vergleich zu Deutschland, Österreich und Norwegen ist im Gebiet Gomel die jährliche Neuerkrankungsrate an Schilddrüsenkrebs deutlich höher (Tab. 1).


Länder

Einwohner
in Mio.
Prävalenz je 100.000 EW
Inzidenz je 100.000 EW
Deutschland
Schweiz
Norwegen
Gebiet Gomel/Belarus*
82,5
7,8
4,8
1,4
14,45
13,49
15,04
85,71
3,54
3,62
3,75
16,43

* Mittelwert der jährlichen Krankheitsrate für den Zeitraum 2006-2010

Tab. 1: Inzidenz und Prävalenz des Schilddrüsenkrebses bei Erwachsenen in Gomel/Belarus im Vergleich mit europäischen Staaten (9, 10)


Die Erkrankungshäufigkeit an Knotenkropf bei Erwachsenen ist in der Zeit von 1986 bis 2005 um das 6-fache gestiegen. Im selben Zeitraum stieg die Erkrankungshäufigkeit bei Kindern um das 45,2-fache. Insgesamt haben nach der Tschernobyl-Katastrophe alle benignen und malignen Erkrankungsformen der Schilddrüse zugenommen (Abb. 2).

Seit 1985 erfolgte im Gebiet Gomel ein Rückgang der Bevölkerungszahlen um 11 % auf 1,485 Mio. Einwohner. Diese Veränderung entstand durch Umsiedlung, Abwanderung sowie durch höhere Sterberaten.

Interessant ist die Beobachtung, dass die Inzidenz der Prostatakarzinome von 1988 bis 2004 um mehr als das Dreifache zugenommen hat. Signifikante Anstiege sind auch beim Mammakarzinom und den Leukämien zu verzeichnen (siehe Tab. 2 und 3 für alle onkologische Erkrankungen).


Landkreis
1990
1995
2000
2005
Bragin
Wetka
Narowlja
Choiniki
im Durchschnitt im Oblast
268,9
452,2
267,0
382,4
250,8
339,1
365,8
272,7
375,5
311,1
465,5
525,5
411,3
364,0
344,8
459,0
385,0
262,0
342,5
422,0

Tab. 2: Inzidenz der onkologischen Erkrankungen in den am stärksten durch die Tschernobyl-Katastrophe betroffenen Landkreisen des Oblast Gomel (Fälle pro 100.000 Einwohner) (11)



1986
1998
2005
Alle
ohne Malignome der Haut
220,3
191,0
345,0
302,9
424,8
335,0

Tab. 3: Inzidenz der onkologischen Erkrankungen im Oblast Gomel (Fälle pro 100.000 Einwohner) (11)


Gesundheitliche Effekte im Westen

Auch im Westen gibt es nachweislich gesundheitliche Effekte nach Tschernobyl. Zahlreiche Untersuchungen wurden durchgeführt, um den möglichen Einfluss auf Geburtsanomalien und auf die Perinatalsterblichkeit zu erforschen. Scherb und Mitarbeiter haben die jährliche Totgeburtenrate einer westlichen europäischen Ländergruppe und einer näher an Tschernobyl liegenden östlichen europäischen Ländergruppe verglichen. Seit 1980 war für beide Gruppen eine stetige Abnahme der jährlichen Totgeburtenrate zu beobachten, die auf die ständige Verbesserung der medizinischen Betreuung während der Schwangerschaft zurückzuführen ist.

Die Daten der östlichen europäischen Ländergruppe zeigten 1986 und 1987 im Vergleich zu 1985 eine deutliche absolute Zunahme der Totgeburtenrate und eine Verschiebung des Trends der Kurve nach oben. Für das Zeitfenster von 1986 bis 1992 bedeutet dies insgesamt zusätzliche 1.639 Totgeburten. Die westliche europäische Ländergruppe zeigte keine besondere Auffälligkeit. Die Ergebnisse sind aufgrund der großen Fallzahl hoch signifikant. Für den Effekt ist nur der Zusammenhang mit der Strahlenbelastung nach Tschernobyl plausibel, für andere Ursachen gibt es keine Anhaltspunkte (12).

Scherb und Mitarbeiter untersuchten auch die 10 am höchsten durch Tschernobyl belasteten Landkreise in Bayern. Hier überstieg die Zahl der Totgeburten im Jahr 1987 den erwarteten Wert um 45 %. Auch in den Jahren 1988 und 1989 wurden signifikante Effekte (ca. 35 % Erhöhung) festgestellt. Das Ergebnis ist für die Wissenschaftler ein deutliches Indiz für die schädliche Wirkung radioaktiver Niedrigstrahlung (12, 13).

Das Berliner Institut für Humangenetik stellte fest, dass 9 Monate nach der Tschernobyl-Katastrophe in Berlin bei Neugeborenen die Zahl der Mongolismusfälle (Trisomie 21) sprunghaft angestiegen ist. Im Hinblick auf die Erfassung der Trisomie 21-Fälle war zur Zeit des Reaktorunfalls die Situation in Berlin aus epidemiologischer Sicht einzigartig. Wegen der damaligen Insellage der Stadt - eingeschlossen durch das Gebiet der ehemaligen DDR - konnte für einen großen Zeitraum die Häufigkeit praktisch aller prä- und postnatal diagnostizierten Fälle angegeben und in Bezug zu allen relevanten demographischen Faktoren gesetzt werden.

In dem 10-Jahres-Zeitraum von Januar 1980 bis Dezember 1989 lag in Westberlin die monatliche Zahl von Trisomie-21-Fällen bei durchschnittlich 2-3. Aber im Januar 1987, neun Monate nach der Tschernobyl-Katastrophe, wurden 12 Fälle beobachtet. Dieser Anstieg war nach einer Zeitreihenanalyse hoch signifikant und konnte nicht mit dem Alter der Schwangeren oder einer häufigeren Inanspruchnahme der vorgeburtlichen Diagnostik erklärt werden. Als einzig plausible Ursache kommt die Strahlenbelastung durch Tschernobyl in Frage. Auch hier kommt den Jodnukliden eine besondere Bedeutung zu, da diese in den ersten Wochen nach einem Reaktorunfall für den wesentlichen Dosisbeitrag in der Strahlenbelastung der Bevölkerung verantwortlich sind. Die üblichen Belastungskartierungen beziehen sich dagegen auf Cäsium-137 (14, 15).

Die Arbeitsgruppe Lengfelder hat Untersuchungen zum Auftreten von Schilddrüsenkrebs nach Tschernobyl im Westen durchgeführt. Obwohl Bayern höher durch den Tschernobyl-Fallout mit radioaktivem Jod belastet wurde, musste die Studie in der benachbarten Tschechischen Republik durchgeführt werden, weil dort seit langem ein umfassendes Krebsregister geführt wird, das bisher in Bayern fehlt. Die Untersuchung erfasste die jährliche alters- und geschlechtsspezifische Inzidenz von Schilddrüsenkrebs in der Tschechischen Republik für den Zeitraum von 1976 bis 1999 (16). Die Studie ist wahrscheinlich die größte auf diesem Gebiet, denn sie umfasst 247 Millionen Personenjahre - verglichen mit 3,2 Millionen Personenjahren bei der Untersuchung der Atombombenüberlebenden in Hiroshima und Nagasaki. Von 1978 bis 1989 ist ein altersabhängiger jährlicher Anstieg beim Schilddrüsenkrebsverhältnis von 2,1 % pro Jahr festzustellen. Die Studie ergab, dass ab 1990 ein zusätzlicher signifikanter Anstieg der Schilddrüsenkrebs-Inzidenz von 2,3 % pro Jahr (p = 0,0010) zu verzeichnen ist (16). Die Höhe der Kontamination in der Tschechischen Republik durch Tschernobyl-Fallout, einschließlich Radiojod, war im Vergleich zur Situation in Belarus, Ukraine und Russland, auch zu einigen Gebieten Bayerns, niedrig.

Obwohl dies im Ergebnis nur niedrige individuelle Schilddrüsen-Organdosen zur Folge hatte, führte das dennoch zu einer relevanten kollektiven Schilddrüsendosis der Tschechischen Bevölkerung. Da es sehr unwahrscheinlich ist, dass in der Tschechischen Republik nach dem Tschernobyl-Unfall eine gesteigerte medizinische Beobachtungsintensität und Erfassung als Ursache für den Anstieg der Schilddrüsenkrebs-Inzidenz in Frage kommt, erscheint das radioaktive Jod aus Tschernobyl als die wahre Ursache für diese Erkrankung.

Es zeigte sich bei den Erwachsenen dort bereits wenige Jahre nach der Reaktorkatastrophe ein signifikanter Anstieg der Schilddrüsenkrebsfälle. In Bayern ist deshalb ebenfalls ein Anstieg, und zwar höher als in Tschechien, zu vermuten. Die Klärung dieser Frage ist allerdings schwierig, da es in Deutschland immer noch kein flächendeckendes Krebsregister gibt.

Die Tatsache, dass auch 25 Jahre nach Tschernobyl Pilze und Wildschweinfleisch aus den besonders belasteten Regionen Bayerns - z. B. dem Bayerischen Wald - nicht ohne Prüfung des Radioaktivitätsgehaltes in den Handel kommen dürfen, ist ein Beleg für das fortdauernde Strahlenrisiko durch Tschernobyl auch bei uns. Die genaue Strahlenkarte Südbayerns ermöglicht es, Angebote der genannten Waldprodukte schon auf Grund ihrer Herkunft einzuordnen (17).


Ein Super-GAU ist in Europa jederzeit möglich

Atomkraftwerke sind komplizierte High-Tech-Systeme, in denen physikalische Prozesse, eine Fülle verschiedener Materialien, Ingenieurtechnik und der Faktor Mensch in einer fein abgestimmten Weise zusammenwirken müssen. Gerät dieses Multikomponentensystem außer Kontrolle, so sind - besonders in dicht besiedelten Regionen - schlagartig Millionen von Menschen in ihrer Existenz und ihrer Gesundheit bedroht.

Beispiele für unerwartete Vorkommnisse in Bereichen der Hochtechnologie, die trotz der ausgefeiltesten Sicherheitskonzepte in Katastrophen mündeten, gibt es reichlich: Der Absturz des TWA-Jumbos 1996, bei dem eine unter Flugzeugbauern nicht auszuschließende Selbstentzündung in den Treibstofftanks als Ursache vermutet wurde. Der Absturz der Raumfähre Challenger im Jahre 1986, einem Meisterwerk der weltweit als technisch führend eingestuften NASA, wurde durch die bei Insidern bekannten Schwachstellen in den Dichtungsringen der Raketenstufen ausgelöst. Und dann die Katastrophe des ICE 884 "Wilhelm Conrad Roentgen" am 3. Juni 1998. An der Brücke von Eschede zerschellte ein Wunderwerk deutscher Ingenieurkunst, ein Glanzstück an Technik, Sicherheit und Fortschritt, und riss 100 Menschen in den Tod. Der Unfall war die Folge einer Verkettung menschlicher und technischer Schwachstellen.

Die Berechnungen für die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Super-GAUs in einem deutschen AKW z.B. in der deutschen Risikostudie berücksichtigen nur das Versagen der Technik. Und bereits da liegt die Eintrittswahrscheinlichkeit für eine Katastrophe in Deutschland bei 18 AKW und 30 Jahren Betriebszeit bei etwa 2 %! In den offiziellen Risikoanalysen wird menschliches Versagen regelmäßig ausgeklammert, welches ja Ursache der Tschernobyl-Katastrophe war. Ausgeklammert wird insbesondere auch das Herbeiführen eines Super-GAUs durch terroristische Eingriffe, von innen wie von außen. Der Terroranschlag auf das World Trade Centre in New York am 11.09.2001 hat allen klar gemacht, dass es keinen Schutz gegen ein derart gezieltes Vorgehen gibt.


Lehren für Europa

Die Erfahrungen aus Tschernobyl haben gezeigt, dass auch bei den im Vergleich zu Tschernobyl anderen Konstruktionsprinzipien westlicher Druck- und Siedewasser-Reaktoren nach einer Katastrophe - durch welche Ursache auch immer sie ausgelöst wurde - das Evakuierungsgebiet bis zu 400 km weit reichen kann, je nach Katastrophenszenario und Wetterlage. Dazu kommt das erheblich höhere radioaktive Inventar westlicher Reaktoren durch die lange Abbrandzeit der Brennelemente.

Übertragen wir die Situation von Belarus auf Deutschland oder Europa, so müssen wir davon ausgehen, dass z. B. in Deutschland wegen der 7 - 10 mal höheren Besiedlungsdichte die Evakuierung von etwa 3 - 6 Millionen Menschen notwendig werden kann. Eine geordnete Evakuierung so vieler Menschen ist nicht möglich. In Deutschland würde dann in der Sperrzone und der Zone strikter Kontrolle den Eigentümern der Gebrauch ihrer Grundstücke, Häuser, Fabriken etc. entzogen, was faktisch einer Enteignung gleichkäme. Das gilt natürlich für alle dichter besiedelten Staaten Europas.

Die Schäden an Gebäuden, Wirtschaftsgütern und die geschätzten Gesundheitsschäden sind mit der von der Politik für Betreiber von AKWs vorgeschriebenen Haftpflichtversicherung mit nur 2,5 Milliarden Euro Deckungssumme versichert. Damit wird nur 0,1 % der in internationalen Gutachten bezifferten möglichen Schadenshöhe abgedeckt. Somit bleiben die Menschen auf ihren Schäden sitzen.

Es widerspricht den Prinzipien der Ethik und der Gerechtigkeit, Risiken und mögliche Schäden mit solch ungeheurem Ausmaß aus privatwirtschaftlicher Tätigkeit (und mit privatwirtschaftlichen Gewinnen) der Allgemeinheit aufzubürden und von den Energiekonzernen, die Atomkraftwerke betreiben, keine betriebliche Haftpflicht in der Größenordnung des real möglichen Schadens zu verlangen, wie dies in allen anderen Wirtschaftsbereichen Standard ist.

Es ist zu hoffen, dass die Politik und die Bevölkerung endlich den Ernst der Lage begreifen und aus den Erfahrungen der 25 Jahre nach Tschernobyl Lehren ziehen und handeln. Denn es gibt weder Sicherheit gegen technisches Versagen, noch gegen menschliches Fehlverhalten oder gar einen zielgerichteten terroristischen Angriff. Die politische Klugheit und Verantwortung gebieten jetzt, das Bedrohungspotential durch Atomkraftwerke für die Gesundheit und die wirtschaftlichen Lebensgrundlagen der Bevölkerung unverzüglich zu eliminieren.


Kontakt:
Dr. h.c. Christine Frenzel
Prof. Dr. med. Dr. h.c. Edmund Lengfelder
Otto Hug Strahleninstitut - Medizinische Hilfsmaßnahmen e. V. (OHSI-MHM)
Jagdhornstraße 52
81827 München


Nachweise

(1) TSCHETSCHEROW, K.P. (2005): Ablauf der Tschernobyl-Katastrophe und Beseitigung ihrer Folgen: Erkenntnisse aus 20 Jahren Erfahrung eines Insiders, in: LENGFELDER, E., FRENZEL, Ch. und S. P. KUNDAS (Hrsg.): 20 Jahre Leben mit Tschernobyl - Erfahrungen und Lehren für die Zukunft, Kongressband Internationaler Kongress, Otto Hug Strahleninstitut, München: 413-441.

(2) BELARUSSISCH-UKRAINISCHE REGIERUNGS-DELEGATION (1991): Erklärung der vom Internationalen Tschernobyl-Projekt der IAEA unabhängigen Wissenschaftsdelegation zu den Schlussfolgerungen des Internationalen Tschernobyl-Projekts der IAEA, Wien, Mai 1991.

(3) KASAKOV, V.S., DEMIDCHIK, E.P. and ASTAKHOWA, L.N. (1992): Thyroid cancer after Chernobyl. Nature 359: 21.

(4) IAEA - INTERNATIONAL ATOMIC ENERGY AGENCY (1991): The International Chernobyl Project, Assessment of Radiological Consequences and Evaluation of Protective Measures, Conclusions and Recommendations of a Report by an International Advisory Committee, Wien, Mai 1991.

(5) BBC - BRITISH BROADCASTING CORPORATION (1996): Chernobyl - 10 Years on, HORIZON, BBC 2, 1.4.1996.

(6) LENGFELDER, E. (1991): Fünf Jahre nach Tschernobyl - Beurteilungskriterien zur Zweckmäßigkeit verschiedener Hilfsmaßnahmen für die strahlenbelastete Bevölkerung in der Sowjetunion, MMW 133(17): 272-274.

(7) UN - UNITED NATIONS (2000): The Chernobyl Accident. Report of the United Nations Scientific Committee on the Effects of Atomic Radiation to the General Assembly, Chapter IV, New York.

(8) LENGFELDER, E., DEMIDCHIK, E., DEMIDCHIK, J., RABES, H., SIDOROW, J., KNESEWITSCH, P. und FRENZEL, Ch. (2000): 14 Jahre nach Tschernobyl: Schilddrüsenkrebs nimmt zu. Dramatische Fehleinschätzung internationaler Experten, MMW-Fortschr. Med. 41: 353-354.

(9) IARC - INTERNATIONAL AGENCY FOR RESEARCH ON CANCER (2008): Globocan: Thyroid Cancer Rates, Lyon.

(10) GESUNDHEITSVERWALTUNG DES OBLAST GOMEL und OTTO HUG STRAHLENINSTITUT (2010): aktuelle Daten, unveröff.

(11) PRIGOSCHAJA, T., MICHAILOV, I.V., BELJAKOWSKI, W.N., NITITSCH, W.E. (2006): Entwicklung maligner Erkrankungen im Oblast Gomel in der Folge der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, in: LENGFELDER, E., FRENZEL, Ch. und S.P. KUNDAS (Hrsg.): 20 Jahre Leben mit Tschernobyl - Erfahrungen und Lehren für die Zukunft, Kongressband Internationaler Kongress, Otto Hug Strahleninstitut, München: 319-325.

(12) SCHERB, H., WEIGELT, E. and BRUESKE-HOHLFELD, I. (1999): European stillbirth proportion before and after the Chernobyl accident, Europ. J. Epidemiology 28: 932-940.

(13) SCHERB, H. (2006): Epidemiologie von Fehlbildungen, Säuglingssterblichkeit und Schilddrüsenkrebs vor und nach der Tschernobyl-Katastrophe, in: LENGFELDER, E., FRENZEL, Ch. und S.P. KUNDAS (Hrsg.): 20 Jahre Leben mit Tschernobyl - Erfahrungen und Lehren für die Zukunft, Kongressband Internationaler Kongress, Otto Hug Strahleninstitut, München: 339-351.

(14) SPERLING, K., DÖRRIES, A., PLÄTKE, R., STRUCK, E., GAENGE, M. und WEGNER, R.-D. (1987): Häufung von Trisomie 21 Fällen unter den Neugeborenen Berlins, Ann. Univ. Sarv. Med. 7(Suppl.): 305-306.

(15) SPERLING, K., PELZ, J., WEGNER, R.-D., DÖRRIES, A., GRÜTERS, A. and MIKKELSEN, M. (1994): Significant increase in trisomy 21 in Berlin nine month after the Chernobyl accident: temporal correlation or causal relation? British Medical Journal 309: 158-162.

(16) MÜRBETH, ST., ROUSAROVA, M., SCHERB, H. und LENGFELDER, E. (2004): Thyroid Cancer has increased in the adult populations of countries moderately affected by Chernobyl fallout, Med. Sci. Monit. 10: 300-306.

(17) LENGFELDER, E. (1990): Messergebnisse und Bewertung der Strahlenbelastung durch den Reaktorunfall in Tschernobyl, in: LENGFELDER, E. (Hrsg.): Strahlenwirkung - Strahlenrisiko: Daten, Bewertung und Folgerungen aus ärztlicher Sicht, 2. erw. Aufl., ecomed Verlag, München-Landsberg: 37-68.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Abb. 1: Das AKW Tschernobyl nach der Einhausung des zerstörten Reaktorgebäudes
- Abb. 2: Inzidenz des Schilddrüsenkrebses im Gebiet Gomel (10)


*


Quelle:
umwelt · medizin · gesellschaft Nr. 1/2011, (Februar 2011)
24. Jahrgang, S. 9 - 14
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Juli 2011