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ZAHN/201: Umwelt-ZahnMedizin weiter denken (umg)


umwelt · medizin · gesellschaft - 2/2011
Humanökologie - soziale Verantwortung - globales Überleben

Umwelt-ZahnMedizin weiter denken

Von Lutz Höhne und Volker von Baehr


Die Umwelt-Zahnmedizin ist eine interdisziplinär ausgerichtete Spezialisierung für Zahnärzte, Mediziner und Zahntechniker. Das Fachgebiet beschäftigt sich auf wissenschaftlicher Basis mit der individuellen Wechselbeziehung der erkrankten Mundhöhle und zahnärztlicher Maßnahmen zum gesamten Organismus. Im Fokus der Umwelt-Zahnmedizin steht somit die ganzheitlich ausgerichtete zahnärztliche Behandlung chronisch kranker Patienten sowie die Anwendung individueller präventiver Behandlungskonzepte mit dem Ziel, chronisch entzündliche Krankheiten zu verhindern.


Umwelt-Zahnmedizin: Morbiditätsentwicklung verlangt Reaktion

Erkrankungen, die mit chronischen Entzündungszuständen einhergehen, nehmen einen immer höheren Stellenwert, vor allem in den höher entwickelten Industrienationen, ein. Dazu zählen Allergien, Diabetes, Rheuma, Magen-, Darm- oder Schilddrüsenerkrankungen, Osteoporose, Herz-Kreislauferkrankungen sowie Parodontitis und andere chronische Infektionen, um nur die wichtigsten zu nennen. Die Fortschritte der Medizin haben die Komplikationen dieser Erkrankungen gemindert, nicht aber die Zahl der Patienten, bei denen die Diagnosen gestellt werden. Besorgniserregend ist vor allem der Anstieg bei jüngeren Patienten. Die Allergierate in Deutschland hat sich in den letzten 20 Jahren nahezu verdoppelt (1). Die Multiple Sklerose wird dreimal (2), der Morbus Crohn sogar viermal (3) so häufig diagnostiziert wie noch vor 50 Jahren. Beim insulinabhängigen Diabetes mellitus rechnet man mit einem Anstieg um 70 % in den kommenden zehn Jahren (4). Aber auch die Zahnmedizin ist unmittelbar betroffen. Die Parodontitis nimmt in ihrer Inzidenz und Prävalenz stetig zu. Die 2009 publizierten Daten der 4. Mundgesundheitsstudie zeigten, dass mittelschwere und schwere Parodontalerkrankungen bei 35 bis 44jährigen Erwachsenen seit 1997 um 26,9 % und bei Senioren (65-74 Jahre) um 23,7 % zugenommen haben (5).

Man erklärte sich den Anstieg damit, dass durch verbesserte Prophylaxe heute weniger Zähne durch Karies verloren gehen und damit die länger erhaltenen Zähne mit zunehmendem Alter einem steigenden Risiko für Parodontalerkrankungen ausgesetzt sind. Diese Erklärung wird allein schon durch die Tatsache unglaubhaft, dass der Anstieg bei jüngeren Patienten sogar deutlicher war als bei älteren Personen. Man hat die längst gewonnenen Erkenntnisse, dass chronisch entzündliche Schleimhauterkrankungen auf Grund von Veränderungen im Immunsystem im Allgemeinen zunehmen, nicht auf die Zahnmedizin übertragen.


Chronisch entzündliche Erkrankungen

Die gestörte Immuntoleranz hat zur Folge, dass unser Immunsystem auch auf banale Reize mit einer Entzündung, das heißt mit einer Aktivierung des Immunsystems antwortet. Diese nahezu immer multikausal hervorgerufene Immunaktivierung stellt den Schlüssel nahezu aller chronisch entzündlichen Erkrankungen dar. Die Genetik kann einen so rasanten Anstieg entzündlicher Erkrankungen in der Bevölkerung innerhalb weniger Jahrzehnte nicht erklären. Man weiß heute, dass eine Vielzahl individueller Trigger- und Kofaktoren (häufig als Umweltfaktoren bezeichnet) als Auslöser chronisch entzündlicher Krankheiten auf der Grundlage einer individuellen Genetik bedeutsam sind. In unserer modernen Gesellschaft müssen wir uns immer häufiger mit immer komplexeren Fremdstoffen und (Umwelt)-Einflüssen auseinandersetzen. Diese stellen einerseits, meist multikausal, den Entzündungsauslöser dar, sind aber andererseits auch dafür verantwortlich, dass unser immunologisches Toleranzsystem gestört wird.

Die Tatsache, dass viele chronisch entzündliche Erkrankungen in den letzten 50 Jahren deutlich zugenommen haben, musste folgerichtig dazu führen, dass die sich in dieser Zeitspanne ebenfalls veränderten Bedingungen in unserer Umwelt mit der Störung immunologischer Toleranzmechanismen in Zusammenhang gebracht werden. Einige der diskutierten Faktoren sind:

Medikamente und alloplastische Ersatzmaterialien im Organismus
Impfungen und Limitierung von Infektionserkrankungen durch Hygienemaßnahmen
Vermehrter Einsatz von Pestiziden, Herbiziden, Weichmachern, Lösungs- und Flammschutzmitteln in unserer Wohn- und Arbeitsumgebung
Zunahme der Antigenvielfalt in unserer Nahrung
Konservierung von Lebensmitteln (Konservierungsmittel, UV-Behandlung, Blechbüchsen, PET-Flaschen)
Nahrungsergänzungsmittel in unüberschaubarer Vielfalt
Moderner (luftdichter) Wohnungsbau und "sterile" Wohnbedingungen
Haustierhaltung (in der Wohnung)
Vermehrter Kontakt zu Kosmetika
Zunehmender Stress und Lärmbelastung

Einfluss der Zahnmedizin

Die Zahnmedizin ist ohne Zweifel am Zuwachs von potentiellen Fremd- und Störfaktoren auf den Organismus beteiligt. Der zunehmende Einsatz von Zahnersatzmaterialien in beinahe unüberschaubarer Vielfalt, die zunehmende Zahl an Implantationen und Implantatfabrikaten, die Versieglungen und Fluoridierungen, der nicht zu verhindernde Kontakt zu potentiellen Allergenen in der Kieferorthopädie und der Endodontie - das alles ist segensreich für die Erhaltung der natürlichen Zähne bzw. der Kaufunktion. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Fremdmaterialien einen (in der Regel andauernden) Reiz für das Immunsystem darstellen und dieses aktiv eine Toleranz aufrechterhalten muss.


Konsequenzen für Medizin und Zahnmedizin

Die Zunahme chronisch entzündlicher Erkrankungen bleibt auch für die moderne ZahnMedizin nicht folgenlos. Zum einen haben es die Zahnärzte immer seltener mit Patienten zu tun, die frei von jeder chronischen Erkrankung in ihrem Zahnarztstuhl Platz nehmen. Zum anderen sind aber gerade die Zahnmediziner gezwungen, Fremdmaterialien in den Körper ihrer Patienten dauerhaft einzubringen. Da bis heute keine biokompatiblen körperfremden Materialien zur Verfügung stehen, müssen sie davon ausgehen, dass im individuellen Fall jedes Material einen Trigger für chronische Entzündungen darstellen kann.

Auch wenn bis heute in der Praxis die zahnmedizinischen Krankheitsbilder nicht selten isoliert vom übrigen systemischen Inflammationsprozess diagnostiziert und behandelt werden, ist es unbestritten, dass hier direkte Beziehungen bestehen. Die bekannte, letztlich auf einer genetisch bedingten Entzündungsneigung beruhende Assoziation zwischen Herz-Kreislauferkrankungen und Parodontitis ist sicherlich nur ein Beispiel (6). Der Tatsache, dass eine allergisch bedingte Materialunverträglichkeit oder ein chronischer Entzündungsprozess im Bereich der Zähne oder des Zahnhalteapparates eine Immun- oder Entzündungserkrankung auch an entfernten Organen fördern kann, wird bis heute von Medizinern und Zahnmedizinern zu wenig Beachtung geschenkt. Eine Ausnahme stellt hier allenfalls die Urtikaria dar, bei der die Fokussuche durch den Zahnarzt in die diagnostischen Leitlinien aufgenommen wurde. Bei vielen anderen entzündlichen Systemerkrankungen wird zwar in Einzelfällen interdisziplinär gehandelt, nur selten wird dabei aber systematisiert vorgegangen. Die "ketzerische" Frage muss erlaubt sein, warum eine diabetische Erkrankung als Indikation für eine Parodontalbehandlung gilt, die Endodontie aber sich davon vollständig unbeeindruckt lässt. Mehr Medizin in der ZahnMedizin zu fordern darf kein Thema für Sonntagsreden von Standespolitikern bleiben: es muss tatsächlich jeden Tag in der Praxis gelebt werden. Nur dann werden wir glaubhaft die Politik überzeugen können, dass unser vollkommen veraltetes Zahnheilkundegesetz und eine von mechanistischer Arbeitsweise geprägte Abrechnungslogik unseren Patienten eher schaden als schützen.

Im Fokus einer der heutigen Zeit angemessenen Umwelt-ZahnMedizin steht eine wissenschaftlich, ganzheitlich ausgerichtete Diagnostik und Therapie chronisch kranker Patienten, die nicht in erster Linie die Kaufähigkeit in den Vordergrund rückt, sondern umfassende Gesundheit und Wohlbefinden als erste Priorität definiert. Individuelle präventive Behandlungskonzepte sind zu entwickeln mit dem Ziel, chronische entzündliche Krankheiten zu verhindern.

Forderungen nach einer Änderung eines archaischen Zahnheilkundegesetzes und Forderungen für eine vollständige Deklaration aller Bestandteile in unseren Medizinprodukten stehen im Raum und sind unabdingbar für eine verantwortliche ärztliche und zahnärztliche Tätigkeit.


Kontakt:
Lutz Höhne
Zahnarzt - Umwelt-ZahnMedizin
Bahnhofstr. 24, 67246 Dirmstein
Tel.: 06238/2110
Fax: 06238/3057
E-Mail: info@zahnarzt-hoehne.de
www.zahnarzt-hoehne.de

Dr. med. Volker von Baehr
Ärztlicher Leiter der Abteilungen Immunologie und Allergologie
Institut für Medizinische Diagnostik MVZ GbR
Nicolaistrasse 22, 12247 Berlin
Tel.: 030/77001-220
Fax: 030/77001-236
E-Mail: vbaehr@imd-berlin.de
www.imd-berlin.de


Nachweise

(1) SCHLAUD, M., ATZPODIEN, K., THIERFELDER, W. (2008): Allergische Erkrankungen - Ergebnisse aus dem Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS). Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 50: 701-710.

(2) ALONSO, A., HERN‘N, M.A. (2008): Temporal trends in the incidence of multiple sclerosis: a systematic review. Neurology 71(2): 129-135.

(3) JACOBSEN, B.A., FALLINGBORG, J., RASMUSSEN, H.H. et al. (2006): Increase in incidence and prevalence of inflammatory bowel disease in northern Denmark: a population-based study, 1978-2002. Eur J Gastroenterol Hepatol. 18: 601-606.

(4) NEU, A., WILLASCH, A., EHEHALT, S. et al. (2001): Häufigkeit des Diabetes mellitus im Kindesalter in Deutschland. Ein epidemiologischer Überblick. Monatsschrift Kinderheilkunde, 149( 7): 636-640.

(5) SCHIFFNER, U., HOFFMANN, T., KERSCHBAUM, T., MICHEELIS, W. (2009): Oral health in German children, adolescents, adults and senior citizens in 2005. Community Dent Health. 26(1): 18-22.

(6) TONETTI, M.S. (2009): Periodontitis and risk for atherosclerosis: an update on intervention trials. J Clin Periodontol. 36: 15-19.


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Quelle:
umwelt · medizin · gesellschaft Nr. 2/2011, (Juni 2011)
24. Jahrgang, S. 91 - 92
Verlag: UMG Verlagsgesellschaft mbH
Frielinger Str. 31, 28215 Bremen
Chefredaktion (V.i.S.d.P.): Erik Petersen
Tel.: 0421/498 42 51; Fax: 0421/498 42 52
E-Mail: umg-verlag@t-online.de
Internet: www.umwelt-medizin-gesellschaft.de

Erscheinungsweise: vierteljährig
Bezugspreis: Für Mitglieder der Umweltmedizinischen Verbände dbu, DGUHT, DGUZ, IGUMED
und Ökologischer Ärztebund sowie der weiteren beteiligten Verbände
DGMCS und VHUE ist der Bezug der Zeitschrift im Jahresbeitrag enthalten.
Das Abonnement kostet ansonsten jährlich 38,- Euro frei Haus, Ausland 45,- Euro.
Einzelheft: 10,- Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Oktober 2011