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BUCH/1260: Die Belasteten. 'Euthanasie' 1939-1945, von Götz Aly (ALfA LebensForum)


ALfA LebensForum Nr. 106 - 2. Quartal 2013
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)

Die »Aktion T4«
Götz Aly: Die Belasteten

Buchbesprechung von Stefan Rehder



»Bei der geistigen, unheilbaren Krankheit Ihres Sohnes ist der Tod eine Erlösung für ihn und seine Umwelt.« Sätze wie dieser finden sich in zahlreichen standardisierten Schreiben, mit denen Angehörige der Opfer, die im Dritten Reich im Rahmen der »Aktion T4« ermordet wurden, über den Tod ihrer Kinder, Geschwister und Eltern in Kenntnis gesetzt wurden, die vom NS-Staat, aber auch weiten Teilen der deutschen Gesellschaft, als »nutzlose Esser« betrachtet worden waren. Der Historiker Götz Aly zählte vor mehr als 30 Jahren zu den Ersten, die sich daranmachten, Licht in das Halbdunkel zu bringen, in dem mehr als 200.000 Deutsche in den sechs T4-Tötungsanstalten in Bernburg, Brandenburg, Grafeneck, Hadamar, Hartheim und Pirna-Sonnenstein vergast, totgespritzt und zu Tode gehungert wurden, die der nationalsozialistischen Rassen- und Volksgemeinschaftsideologie als »lebensunwert« galten. Mit seinem nun vorgelegten Buch leuchtet er den düsteren Souterrain im »Tiefparterre der deutschen Geschichte« kräftig aus.

Allein die Masse der Quellen, die Aly für dieses Buch zusammengetragen und ausgewertet hat - Erlasse, Geschäftsverteilungspläne, Krankenakten, Totenscheine, Briefe, Tagebucheinträge und dergleichen mehr - nötigt dem Leser Respekt ab. Diese Leistung wird noch übertroffen von der beeindruckenden Art, mit er diese zum Sprechen bringt. Immer wieder gelingt es Aly, Geschichte aus der Perspektive der Betroffenen zu erzählen: Etwa aus der einer Mutter, die ein an ihre in einem Heim lebende Tochter adressiertes Paket mit dem Vermerk »verstorben« zurückgeschickt bekommt, oder aus der der etwa neunjährigen Elvira Hempel, eine der wenigen Überlebenden, die das Glück hatte, nach der Krankenschau in der T4-Anstalt Brandenburg nicht vergast zu werden. Alys Buch erschöpft sich jedoch nicht in der Schilderung berührender Schicksale und der generalstabsmäßig organisierten Vernichtungsorgie, sondern analysiert und ordnet ein.

Dabei dürfte ein Befund auch für heute Lebende besonders wichtig sein. Aly vertritt die These, dass die Idee der Tötung von Menschen, die als Last betrachtet wurden, von der man sich befreien müsse, keine ist, die nur oder überwiegend von Anhängern des Nationalsozialismus verfolgt wurde. »Für Sterbehilfe, humanen Tod oder sanfte Erlösung warben in den 1920er Jahren vielfach jene politisch Engagierten, die gegen Todesstrafe und Abtreibungsverbot auftraten, Frauenrechte forderten, den verpönten Selbstmord begrifflich zum individuell gewählten Freitod läutern, Ehescheidungen und überhaupt freiere Lebensformen erleichtern wollten. (...) Sie taten das im Namen des sozialen Fortschritts und eines nur mehr irdisch verstandenen Glücks.« Insgesamt sei der Widerstand gegen die »Vernichtung unwerten Lebens« gering geblieben. »Wo aber Protest ausbrach«, so Aly weiter, »speiste er sich kaum je aus Prinzipien moderner Rechtsstaatlichkeit oder aus den Ideen eines säkularen Humanismus, sondern aus dem längst schon geschwächten Glauben an die Gottesebenbildlichkeit eines jeden Menschen - sei dieser noch so verkrüppelt, idiotisch oder schwachsinnig, plegebedürftig oder schwer leidend.«

Aly will, dass die Namen und Lebensdaten der Ermordeten »in einer allgemein zugänglichen Datenbank« aufgeführt und so geehrt werden. Seine Begründung: »Die Behinderten, Geistesschwachen und Krüppel, die allein gelassen wurden und sterben mussten, waren keine anonymen Unpersonen, deren Namen unterhalb der Schamgrenze liegen oder unter das Arztgeheimnis fallen. Sie waren Menschen, die vielleicht nicht arbeiten, aber lachen, leiden und weinen konnten - jeder Einzelne von ihnen eine unverwechselbare Persönlichkeit.«


Götz Aly: Die Belasteten. 'Euthanasie' 1939-1945 - Eine Gesellschaftsgeschichte.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013. 356 Seiten. 22,00 EUR.

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Quelle:
LEBENSFORUM Ausgabe Nr. 106, 2. Quartal 2013, S. 30
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)
Herausgeber: Aktion Lebensrecht für Alle e.V.
Bundesvorsitzende Dr. med. Claudia Kaminsky (V.i.S.d.P.)
Verlag: Ottmarsgäßchen 8, 86152 Augsburg
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Oktober 2013