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ERNÄHRUNG/1281: Das große Geschäft mit den künstlichen Vitaminen (Securvital)


Securvital 2/2014 - April-Juni
Das Magazin für Alternativen im Versicherungs- und Gesundheitswesen

Das große Geschäft mit den künstlichen Vitaminen
Die Vitamin-Schwemme

Von Norbert Schnorbach



Mediziner und Ernährungsexperten raten davon ab, künstliche Vitamine routinemäßig einzunehmen. Die industriell hergestellten Nahrungsergänzungsmittel können in hoher Dosierung Gesundheitsprobleme hervorrufen.


Vitamine sind die Stars der Lebensmittelindustrie. Sie sind fast überall drin, auch da, wo man sie nicht vermutet. Nicht nur Joghurt und Fruchtsäfte werden bei der industriellen Herstellung mit großen Mengen Vitaminen angereichert, sondern auch Salami und Käse, Mayonnaise und Kartoffelchips, Erdnüsse und Salzstangen, Pudding und Schokolade. Verbraucherschützer haben beim Test von Inhaltsstoffen entdeckt, dass Kartoffelsticks knapp 50 Milligramm Vitamin C pro 100 Gramm enthielten, mehr als Mangos und zehn Mal so viel wie Birnen.

Vitamin C wird in großen Mengen hergestellt und vielfach genutzt: Als Konservierungsmittel, um Lebensmittel länger haltbar zu machen, und als Antioxidans, damit Wurst und Fleischwaren frischer aussehen. Außerdem auch als Zusatz zu Mehl, damit Brot und Brötchen luftiger wirken und größeres Volumen erhalten, und als Farbzusatz, damit Tiefkühlpommes beim Aufbacken gelb und knackig werden. Der Industriebedarf an Vitamin C wird hauptsächlich von Herstellern in China gestillt. Die Jahresproduktion beträgt etwa 100.000 Tonnen und erfolgt unter anderem mit gentechnisch veränderten Mikroorganismen.

Mythos und Marketing

Dass ausgerechnet Vitamin C dennoch einen so guten Ruf hat und als gesund gilt, hat viel mit Mythos und Marketing zu tun. Was in natürlicher Form in gesunden Lebensmitteln vorkommt, lässt sich auch als attraktiver Zusatz von der Lebensmittelindustrie vermarkten. Die Ernährungsexpertin Annette Sabersky kritisiert die industrielle "Übervitaminisierung". Sie sieht darin einen "Trend zur Denaturierung unserer Nahrungsmittel", der mit gesundheitlichen Risiken einhergeht.

Tatsache ist, dass die Werbung für Nahrungsergänzungsmittel mit "lebenswichtigen Vitaminen", "wertvollen Mineralien" und "gesunden Spurenelementen" ein großes Geschäft ist. Ein Drittel der Erwachsenen in Deutschland kaufen regelmäßig solche Kapseln, Pulver und Tabletten. Ältere Menschen sind besonders gute Kunden: 54 % der Frauen und 34 % der Männer im Rentenalter nehmen nach einer Studie des Helmholtz Zentrums München regelmäßig Vitamine, Mineralstoffe oder sonstige Zusatzstoffe ein, oft weit über den Bedarf hinaus. Eine Milliarde Euro Umsatz wird damit pro Jahr in Deutschland gemacht.

"Die meisten Ergänzungsmittel verhindern keine chronischen Krankheiten. Man sollte sie nicht benutzen."
Dr. Eliseo Guallar, Professor der Bloomberg School of Public Health, Baltimore

In den USA ist der Vitamin-Hunger ein noch größeres Massenphänomen. Die Vitaminlobby rührt kräftig die Werbetrommel für hoch dosierte Vitamincocktails. 28 Milliarden Dollar geben die US-Bürger jährlich für Vitamine und andere Nahrungsergänzungsmittel aus. "Die meisten Menschen brauchen solche Präparate jedoch nicht, weil eine ausgewogene alltägliche Ernährung sie mit allem Notwendigen ausreichend versorgt", meint die Stiftung Warentest.

Gesundheitsrisiko

Vitaminbefürworter sehen das anders. Einzelne Mediziner gehen so weit, synthetische Vitamine in hoher Dosierung als Wundermittel anzupreisen - gegen Krebs, Herzinfarkt und Altersbeschwerden. Erklärt wird es damit, dass die Vitamine vor gefährlichen Sauerstoffradikalen und damit vor Tumorgefahren schützen könnten.

Tatsächlich aber weisen immer mehr medizinische Untersuchungen in die andere Richtung. Neue Studien kommen zu dem Ergebnis, dass Vitaminzusätze in den meisten Fällen keinen Nutzen bieten und sogar ein Risiko für die Gesundheit darstellen. Das US-Fachmagazin "Annals of Internal Medicine" veröffentlichte im Dezember 2013 eine vom US-amerikanischen Gesundheitsministerium mitfinanzierte Übersichtsstudie mit den Daten von 400.000 US-Bürgern, die einzelne Vitamine oder Multivitaminpräparate eingenommen hatten. Die Forscher fanden keine klaren Belege dafür, dass die Vitamine das Risiko für Herz-Kreislauf-Krankheiten, Krebs oder die Sterblichkeit senken konnten.

Andere Studien untersuchten die Frage, ob Multivitaminpräparate über einen längeren Zeitraum die Leistungsfähigkeit des Gehirns steigern oder Schutz vor einem Herzinfarkt bieten könnten. Sie kamen ebenfalls zu negativen Ergebnissen. Frühere Untersuchungen haben bereits gezeigt, dass das Provitamin Beta-Carotin und die Vitamine E und A in hoher Dosierung schädlich sein können und das Sterblichkeitsrisiko erhöhen.

"Vitaminpräparate können auch schaden, ein Nutzen ist selten nachweisbar".
Dr. Ingrid Mühlhauser, Professorin für Gesundheitswissenschaft an der Universität Hamburg

Es gibt noch mehr Hiobsbotschaften: Vitamin E-Pillen erhöhen das Prostatakrebsrisiko und schaden der Haut. Das Asthma-Risiko kann durch Multivitaminpräparate steigen. Zuviel Vitamin A kann den Knochenabbau beschleunigen, zuviel Vitamin D bringt Nierenprobleme. Oft schwächen Vitamine die Wirkung von Medikamenten und Impfungen. Mit anderen Worten: Die starken Vitaminzusätze sind nicht etwa gesund, sondern eher gefährlich.

Für gut ernährte Menschen haben die üblichen Mineral- und Vitaminergänzungsmittel keine Vorteile, sondern eher schädliche Wirkungen, fasste der Leiter der Studiengruppe, Dr. Eliseo Guallar, die Ergebnisse in den "Annals of Internal Medicine" zusammen. Sein Fazit: "Genug ist genug - zur Prävention gegen chronische Krankheiten sollten diese Vitamine nicht benutzt werden."

Auch Dr. Ingrid Mühlhauser, Professorin für Gesundheitswissenschaft an der Universität Hamburg, betont: "Vitaminpräparate können auch schaden, ein Nutzen ist selten nachweisbar." Sie hält den Glauben an eine segensreiche Wirkung der Vitaminzusätze für "einen Irrtum der Medizingeschichte".

Nachholbedarf

Eine Ausnahme bildet offenbar Vitamin D. Es ist wichtig für die Knochenfestigkeit und die Zahnbildung, kann aber nur in geringen Mengen mit der Nahrung aufgenommen werden. Den Großteil des Bedarfs muss der Körper selbst produzieren. Dafür ist Sonnenlicht erforderlich. In den sonnenarmen Wintermonaten reicht das aber nicht. Deshalb sind viele Menschen mit Vitamin D unterversorgt, meint das Max Rubner-Institut.

Mehr als die Hälfte der Bevölkerung hat demnach einen Mangel an Vitamin D, besonders Kleinkinder, Senioren und Pflegebedürftige, die wenig an die Sonne kommen. In diesen Fällen verordnen Ärzte Vitamin D-Tabletten, oft in Kombination mit Calcium. Darüber hinaus hat das Institut noch einen verbreiteten Nachholbedarf an Folsäure (Vitamin B9) in Deutschland festgestellt.

Mit den übrigen Vitaminen sind die Menschen hierzulande ausreichend bis überreichlich versorgt, urteilte das Max Rubner-Institut, eine Bundesforschungseinrichtung für Ernährung und Lebensmittel, im vergangenen Jahr in einer "Nationalen Verzehrstudie". Obst, Gemüse und andere Lebensmittel enthielten ausreichend Vitamine, bei normaler Ernährung sei der Bedarf gedeckt.

Überdosierung

Wie der Bedarf für die einzelnen Vitamine und Mineralstoffe zu definieren ist und wo die exakte Grenze zwischen empfehlenswerter Tagesmenge und Überdosierung liegt, ist nicht unumstritten. Wissenschaftlich untermauerte Zahlen dazu liefern die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE, www.dge.de) und die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA, www.efsa.europa.eu).

Die künstlich hergestellten Vitamine haben aus Sicht der Lebensmittelindustrie einen großen Vorzug: Sie sind billig und industrietauglich. Während natürliches Vitamin C in Obst und Gemüse durch Lagerung und Reifung abgebaut wird, ist das wasserlösliche, kristalline Industrie-Vitamin (Ascorbinsäure) lange haltbar und leicht zu verarbeiten. Und es ist mittlerweile unschlagbar billig: Die von der DGE genannte Tagesdosis von 100 Milligramm Vitamin C kostet in der industriellen Produktion nur rund 0,1 Cent. Die Gewinnspanne ist beträchtlich: In Apotheken kostet eine Tagesdosis je nach Präparat bis zu 50 Cent, also 500 Mal mehr als der Herstellungspreis.

Gesunde Mischung

Den Unterschied zwischen natürlichen und synthetischen Vitaminen sehen Ernährungsexperten auch aus gesundheitlichen Gründen mit kritischem Blick. Laborvitamine sind den natürlichen Vitaminen deutlich unterlegen, meint Annette Sabersky. Es sei davon auszugehen, dass Obst und Gemüse nicht wegen einzelner Substanzen gesund sind, sondern weil sie eine ausgewogene Mischung vieler Stoffe enthalten.

Vitamine sind lebensnotwendig für die Gesundheit, ohne Zweifel. Auch Jod und Fluor, Zink und Magnesium braucht der Körper in gewissen Mengen. Für bestimmte Lebenssituationen können ergänzende Vitamine und Mineralstoffe sinnvoll sein. Von einer routinemäßigen Einnahme "für alle Fälle" ist abzuraten. Im Allgemeinen genügt eine ausgewogene Ernährung: vielfältig essen, gesunde Lebensmittel und Vollkornprodukte bevorzugen, Obst und Gemüse nicht vergessen.

Aber der Markt ist voll mit fragwürdigen Nahrungsergänzungsmitteln und den künstlichen Vitaminen der Lebensmittelindustrie. Angesichts dieser Vitaminschwemme fordern Verbraucherschützer mehr Aufklärung. "Die meisten Nahrungsergänzungen", meint die Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen, "werden von Menschen eingenommen, die sie wegen ihrer an sich schon guten Ernährung eigentlich gar nicht bräuchten, einfach nur zur Sicherheit, zur Beruhigung des Gewissens."


Empfehlungen für die tägliche Ernährung

Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) empfiehlt folgende Tagesmengen für ausgewählte Vitamine und Mineralstoffe. Die Werte gelten für Frauen im Alter zwischen 25 und 65 Jahren, für Männer sind sie teils etwas höher. Für Kleinkinder, chronisch Kranke, Schwangere, Stillende und Senioren gelten abweichende Empfehlungen.
Quelle: www.dge.de

Vitamin/Mineral
Tagesmenge
Natürliches Vorkommen
Calcium
1000 Milligramm
Milch, Käse, Broccoli, Lauch u.a.
Magnesium
300 Milligramm
Vollkornprodukte, Obst, Reis, Spinat, Soja u.a.
Vitamin C
100 Milligramm
Zitrusfrüchte, Paprika, Kohl, Sanddorn, Kiwi u.a.
Eisen
15 Milligramm
Brot, Fleisch, Wurst, Gemüse u.a.
Vitamin E
12 Milligramm
Pflanzenöle, Nüsse, Vollkornprodukte u.a.
Zink
7,0 Milligramm
Fleisch, Eier, Milchprodukte
Vitamin B6
1,2 Milligramm
Leber, Lachs, Reis, Linsen, Grünkohl, Milch u.a.
Vitamin B2
1,2 Milligramm
Milch, Fleisch, Fisch, Vollkorn
Vitamin B1
1,0 Milligramm
Vollkorn, Kartoffeln, Schweinefleisch, Hülsenfrüchte
Vitamin A
0,8 Milligramm
grünes Gemüse, Milch, Butter, Käse
Folat/Folsäure
0,3 Milligramm
Blattgemüse, Getreide, Milchprodukte, Nüsse u.a.
Vitamin D
20 Mikrogramm
Lachs, Hering, Forelle, Pilze, Eigelb, Margarine u.a.
Vitamin B12
3 Mikrogramm
Leber, Fleisch, Eier, Milch, Käse

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Quelle:
Securvital 2/2012 - April-Juni, Seite 6 - 10
Das Magazin für Alternativen im Versicherungs- und Gesundheitswesen
Herausgeber: SECURVITA GmbH - Gesellschaft zur Entwicklung
alternativer Versicherungskonzepte
Redaktion: Norbert Schnorbach (V.i.S.d.P.)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Juni 2014