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ETHIK/920: Der steuerbare Mensch? (3) Bilder des Gehirns als Bilder des Denkens und Fühlens (Dt. Ethikrat)


Dokumentation der Jahrestagung des Deutschen Ethikrates 2009
Der steuerbare Mensch? - Über Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn

Bilder des Gehirns als Bilder des Denkens und Fühlens

Von John-Dylan Haynes


Zusammenfassung

Kann man allein auf der Basis der aktuellen Gehirnaktivität einer Person bestimmen, was sie gerade denkt und fühlt? In dem neuen Forschungsgebiet des brain reading (wörtlich: Gehirnlesen) wird untersucht, inwiefern es möglich ist, aus den Hirnprozessen einer Person auf ihre Gedankeninhalte zu schließen. Die Grundidee ist, dass jeder Gedanke mit einem charakteristischen Aktivierungsmuster im Gehirn einhergeht. Trainiert man einen Computer darauf, solche Muster zu erkennen, wird es möglich, die Gedanken einer Person allein aus der Hirnaktivität auszulesen.

Bereits heute sind eine Reihe verschiedener Gedanken bereits ausgelesen worden. Dazu zählen visuelle Wahrnehmungen und Vorstellungen, Erinnerungen, Absichten und sogar Gefühle. Es ist bisweilen sogar möglich, aus der Hirnaktivität mehr über die mentalen Prozesse einer Person auszulesen, als ihr selbst bewusst ist. So kann man in bestimmten Situationen Absichten, bereits mehrere Sekunden bevor sie das Bewusstsein erreichen, auslesen.

Trotz der erheblichen Erfolge in den letzten Jahren stößt das brain reading jedoch auch schnell an Grenzen. So ist es zum Beispiel aus prinzipiellen Gründen schwierig, beliebige Gedanken auszulesen oder Erkenntnisse von einer Person auf andere zu übertragen. Es ist also noch ein langer Weg bis zu einer hypothetischen "universellen Gedankenlesemaschine", bei der die beliebigen Gedanken einer beliebigen Versuchsperson auf Anhieb ausgelesen werden können. Allerdings zeichnen sich bereits mit den heute verfügbaren einfacheren Ansätzen vielfältige Anwendungsmöglichkeiten ab, wie etwa in der Forensik und Kriminologie, in der Steuerung von Computern und künstlichen Prothesen mittels der Hirnaktivität, oder auch im "Neuromarketing".


Einleitung

Die Möglichkeit, die Gedanken einer anderen Person zu lesen, hat Menschen seit jeher fasziniert.[1] Eine wichtige Frage ist, ob es möglich ist, mit Hilfe neuer Verfahren zur Messung der Hirnaktivität die Gedanken einer Person direkt aus dem Gehirn "auszulesen". Bei der Messung von Hirnaktivität und Hirnstruktur gab es in den letzten Jahrzehnten erhebliche Fortschritte. Mittels Computertomografie (CT) und Magnetresonanztomografie (MRT) können Schnittbilder gemessen werden, die Aufschluss über den strukturellen Aufbau des Gehirns geben (Gewebetypen wie graue und weiße Substanz, Liquor, Knochen). Diese Verfahren werden routinemäßig in der neuroradiologischen Diagnostik zur Feststellung von Erkrankungen und Verletzungen des Zentralnervensystems eingesetzt. Allerdings gibt eine Messung der Hirnstruktur keinen Aufschluss über die momentanen mentalen Zustände (wie Vorstellungen, Gedanken, Absichten und Gefühle) einer Person, die sich von Sekunde zu Sekunde ändern können.

Um die momentanen mentalen Zustände einer Person zu bestimmen, ist eine Messung der momentanen Hirnaktivität erforderlich. Dazu gibt es eine Reihe von Messverfahren: Zum einen die Messung der elektromagnetischen Signale der Hirnaktivität mithilfe von Elektroenzephalografie (EEG) und Magnetenzephalografie (MEG). Damit lässt sich die Hirnaktivität mit hoher zeitlicher Auflösung messen (im Millisekunden-Bereich). Allerdings ist die räumliche Auflösung dieser Verfahren sehr gering (mehrere Zentimeter). Komplementär zu EEG/MEG erlaubt die funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT) die Messung der Hirnaktivität mit hoher räumlicher Auflösung (wenige Millimeter), allerdings niedriger zeitlicher Auflösung (mehrere Sekunden). Im Gegensatz zu EEG sind fMRT-Signale nur ein indirekter Marker der Aktivität von Nervenzellverbänden, weil diese Aktivität über den Sauerstoffgehalt des Blutes ermittelt wird. Allerdings ist die fMRT das einzige aktuell verfügbare nicht-invasive Verfahren, mit dem eine Messung der Hirnaktivität mit hoher räumlicher Auflösung möglich ist, ohne in das Gehirn chirurgisch eingreifen zu müssen.[2]

Das neue Forschungsgebiet des brain reading erforscht, inwiefern aus diesen Messungen der Hirnaktivität auf die mentalen Zustände einer Person geschlossen werden kann. Bereits in den 1960er-Jahren gab es Ansätze, mittels EEG, allein mit der "Kraft der Gedanken", Texte zu diktieren. Allerdings ist das EEG auf das Auslesen einfacher Kommandos beschränkt, wie etwa einen Text per Morsealphabet zu verschlüsseln oder einen Computercursor auf einem Bildschirm zu bewegen. Komplexere Gedanken lassen sich aufgrund der mangelnden räumlichen Auflösung des EEG nicht auslesen. In letzter Zeit sind Techniken entwickelt worden, die es erlauben, die Gedanken einer Person mit einer wesentlich höheren Detailschärfe aus ihrer Hirnaktivität zu erschließen. Dabei ist die hohe Auflösung der fMRT von Vorteil. Eine Neuerung, mit deren Hilfe sich die Gedanken einer Person auslesen lassen, ist die Anwendung multivariater Mustererkennung. Dabei macht man sich zunutze, dass jeder Gedanke mit einem charakteristischen Aktivierungsmuster im Gehirn einhergeht. In Analogie zu Fingerabdrücken kann man sich solch ein Muster als einen einzigartigen, unverwechselbaren "Abdruck" des Gedankens im Gehirn vorstellen. Wenn man ein solches Gehirnmuster vorfindet, weiß man, was eine Person gerade denkt.

Zunächst werden mittels fMRT die Hirnaktivitätsmuster einer Person mit einer sehr hohen räumlichen Genauigkeit gemessen. Dann trainiert man Computer, die spezifischen Aktivierungsmuster im Gehirn zu erkennen, die bei den verschiedenen Gedanken auftreten. Dabei kommen sogenannte Mustererkennungs-Algorithmen zum Einsatz, die das Vorliegen bestimmter Aktivitätsmuster statistisch optimal erkennen können. Dieselben Algorithmen werden zur Erkennung von Fingerabdrücken oder zur Identifikation von Gesichtern aus Überwachungsvideos verwendet. Mit der Entwicklung der Algorithmen befasst sich das Gebiet des "Maschinellen Lernens". Anders als bei herkömmlichen Methoden werden bei der Musterkennung Messungen aus vielen Gehirnbereichen kombiniert, um zum Beispiel die Absichten oder Gefühle eines Probanden zu entschlüsseln.

Dass das so gut funktioniert, hängt mit der Funktionsweise des Gehirns zusammen. Die detaillierten Inhalte der Gedanken sind nicht in einzelnen Nervenzellen gespeichert, sondern in einem räumlich verteilten Muster neuronaler Aktivität. Zwar gibt es eine regionale Spezialisierung bestimmter Hirnregionen für bestimmte Kategorien von Gedanken, wie etwa visuelle Erlebnisse, Erinnerungen, oder Absichten. Innerhalb der Areale sind die Details der Gedanken jedoch in verteilten Aktivitätsmustern kodiert. Durch die Kombination von fMRT mit Mustererkennung hat das brain reading in den letzten fünf Jahren einen enormen Entwicklungssprung gemacht. In bestimmten Fällen konnten selbst detaillierte Gedankeninhalte ausgelesen werden: Dazu zählen visuelle Wahrnehmungen und Vorstellungen, Gedächtnisinhalte, und sogar Absichten und Emotionen. Interessanterweise lassen sich bis zu einem gewissen Grad sogar implizite und unbewusste mentale Zustände auslesen, wie etwa unbewusste Wahrnehmungen und Entscheidungen.

Ein Beispiel ist das Auslesen von Absichten aus Hirnaktivitätsmustern. Im Rahmen eines klar definierten Versuchsaufbaus ließen wir Probanden frei zwischen zwei möglichen Entscheidungen wählen. Die Versuchspersonen sollten sich vornehmen, bei der nächsten Rechenaufgabe zwei Zahlen entweder zu addieren oder zu subtrahieren. Diese Absicht konnten wir mit 70-prozentiger Genauigkeit allein anhand der Gehirnaktivität der Probanden entschlüsseln - noch bevor diese die Zahlen zu sehen bekamen und zu rechnen begannen. Die Probanden trafen ihre Wahl verdeckt und wussten zunächst nicht, welche zwei Zahlen sie addieren oder subtrahieren sollten. Dadurch wurde sichergestellt, dass ausschließlich die Absicht der Probanden aus der Gehirnaktivität abgelesen wurde. Andere neuronale Aktivitäten, wie zum Beispiel die eigentliche Durchführung der Rechenaufgabe oder die Vorbereitung der Handbewegung zum Anzeigen der Lösung, fanden in dem Zeitraum der Messungen, aus denen die Vorhersage getroffen wurde, nicht statt. Erst einige Sekunden später erschienen die Zahlen auf dem Bildschirm und die Probanden konnten die gewählte Rechenaufgabe ausführen. In einem Bereich des Gehirns, im sogenannten mittleren Schläfenlappen, konnten wir aus Mikromustern der Hirnaktivität auslesen, welche Absichten ein Proband gefällt hatte (Abb. 1). In einem weiteren Experiment konnten wir zeigen, dass sich solche frei gewählten Absichten aus der Hirnaktivität auslesen lassen, noch bevor ein Proband sich selber entschieden hat (Abb. 2).


Methodische Grenzen

Diese Fortschritte sollten jedoch nicht den Blick darauf verstellen, dass wissenschaftliches "Gedankenlesen" noch in seinen Anfängen steckt. Ist es nur eine Frage der Zeit, bis man in ein paar Jahren eine "universelle Gedankenlesemaschine" bauen kann, also eine hypothetische Maschine, an die man jede beliebige Person nur anschließen müsste, um zu erfahren, woran genau sie gerade denkt? Dies ist noch Zukunftsmusik und wird es auch noch auf absehbare Zeit bleiben. Es gibt verschiedene Gründe, weshalb die Möglichkeiten, beliebige Gedanken eines beliebigen Probanden auszulesen, sehr begrenzt sind.


Grenzen der Messtechnik
Heute verfügbare Messverfahren für Hirnaktivität haben bei Weitem keine ausreichende Auflösung, um feine Unterschiede zwischen verschiedenen Aktivitätsmustern (und mithin zwischen verschiedenen Gedanken) zu erkennen. Dazu müsste die Auflösung der Messmethoden erheblich verbessert werden, zumindest bis hin zu einer räumlichen Auflösung von einem halben Millimeter oder weniger, was der Auflösung der sogenannten kortikalen Kolumnen entspricht (der kleinsten topografischen Struktureinheit im menschlichen Kortex). Die Langsamkeit des fMRT-Signals in Kombination mit dem erheblichen Rechenaufwand für eine Mustererkennung macht ein brain reading in Echtzeit zurzeit noch sehr schwierig. Die Signale von EEG und fMRT sind zudem noch durch starkes Rauschen beeinträchtigt, das von der Hintergrundaktivität des Gehirns stammt. Dies limitiert zwar die Trefferquote der Verfahren, allerdings sind auf einigen Gebieten auch hohe Trefferquoten von 100 Prozent erzielbar.


Unterschiede zwischen Personen
Die Kodierung der Details mentaler Zustände im Gehirn unterscheidet sich erheblich zwischen Individuen. Dies liegt daran, dass die Entwicklung der räumlichen Aufgabenverteilung in lokalen Nervenzellpopulationen Selbstorganisationsprozessen unterliegt. Dabei spielen auch individuell unterschiedliche Erfahrungen eine große Rolle (zum Beispiel bei den individuellen Assoziationen und Konnotationen, die bei vielen Gedanken wichtig sind). Es ist deshalb schwierig bis unmöglich, die Klassifikation feiner Details der Gedanken einer Person an einer Gruppe von anderen Probanden zu erlernen.


Auslesen beliebiger Gedanken
Für das "Auslesen" beliebiger mentaler Zustände einer Person muss man die Aktivitätsmuster jedes ihrer Gedanken kennen. Das Aktivitätsmuster muss also für jeden Gedanken vorher gelernt werden. Dies liegt daran, dass man eine brute-force-Zuordnung von Gedanken zu Aktivitätsmustern mittels statistischer Verfahren vornimmt. Zurzeit ist die "Sprache des Gehirns" bzw. der "neuronale Code" noch nicht bekannt, was erforderlich wäre, um die Aktivitätsmuster syntaktisch und semantisch interpretieren zu können. In wissenschaftlichen Publikationen wird deshalb der Begriff "Gedankenlesen" durch den präziseren Ausdruck "Decodierung mentaler Zustände" ersetzt. Diese Decodierung kann als eine Übersetzung von mentalen Zuständen in Hirnaktivitätsmuster verstanden werden. Um beliebige Gedanken dekodieren zu können, müsste man also mit heutigen Verfahren eine Person im Scanner jeden denkbaren Gedanken zunächst einmal denken lassen, um das zugehörige Muster zu messen. Dies ist offensichtlich nicht möglich. Es gibt jedoch erste Ansätze, die aus kurzen Kalibrierungsmessungen eine Vielzahl von Gedanken auszulesen erlauben, allerdings ist dies erst im Bereich einfacher Wahrnehmungen gezeigt worden.


Lernen und Plastizität
Eine weitere bislang ungeklärte Frage bezieht sich auf die Dynamik und Veränderbarkeit des neuronalen Codes. Zurzeit gehen die meisten Decodierungsverfahren von einer statischen, das heißt gleichbleibenden Beziehung zwischen Gedankeninhalten und neuronalen Aktivierungsmustern aus. Allerdings wird das Gehirn ständig durch Lernprozesse verändert. Dies wird besonders deutlich, wenn man die gesamte Lebensspanne einer Person betrachtet. So sind etwa die Assoziationen, die jemand als Kind und als Erwachsener mit dem Begriff "Lieblingsfilm" hat, in der Regel völlig unterschiedlich. Es ist also durchaus vorstellbar, dass auch der neuronale Code für bestimmte Gedanken verändert wird. Obwohl zum Thema Lernen und Plastizität viel geforscht worden ist, ist über deren Auswirkung auf neuronale Codierung bisher wenig bekannt.


Anwendungen

Aus den oben genannten Gründen ist die Entwicklung einer "universellen Gedankenlesemaschine", die die mentalen Zustände einer Person mit beliebiger Detailschärfe ausliest, auch auf lange Sicht nicht zu erwarten. Allerdings ist ein Auslesen der feinen Details mentaler Zustände für viele technische Anwendungen nicht erforderlich. So erfordert zum Beispiel die Identifikation einer Lüge nur eine binäre Aussage (Lüge/Wahrheit). Eine detaillierte Ermittlung der Gedanken einer Person wäre zwar nützlich, aber nicht unbedingt erforderlich. Für eine Klassifikation der groben Kategorien mentaler Aktivität sind die Aktivitätsmuster verschiedener Probanden einander meist ausreichend ähnlich und erlauben somit eine grobe Klassifikation des mentalen Zustands, auch wenn die Decodierung an anderen Probanden gelernt wird (dies ist zum Beispiel für die Lügendetektion gezeigt worden). Im Folgenden wird der aktuelle Forschungsstand zweier wichtiger brain-reading-Anwendungen kurz dargestellt.


Lügendetektion
Die klassische Lügendetektion erfolgt mittels der Polygrafie, eines Verfahrens, mit dem mehrere Werte gemessen werden, die die Erregung eines Probanden anzeigen (zum Beispiel Hautwiderstand, Herzfrequenz, Atemfrequenz). Diese Verfahren sind bei einer Anwendung an naiven Probanden zuverlässig. Allerdings ist wiederholt gezeigt worden, dass Probanden mit entsprechender Vorbereitung ihr Erregungsniveau gezielt kontrollieren können. Anleitungen dazu sind beispielsweise im Internet verfügbar.[3] Deshalb ist eine Manipulation von Polygrafie-Ergebnissen durch vorinformierte Probanden nicht auszuschließen und die Gültigkeit der Messergebnisse deshalb zweifelhaft. Das Problem der klassischen Polygrafie ist, dass sie die Erregung als physiologischen Marker für Täuschung verwendet.

Alternativen dazu bietet eine gehirnbasierte Lügendetektion, die die kognitiven Prozesse bei der Produktion einer Lüge oder beim Wiedererkennen tatrelevanten Materials als Signatur verwendet. Dazu werden fMRT-Signale (und evtl. auch EEG-Signale) aufgezeichnet, während ein Proband im Scanner tatrelevantes Material betrachtet oder zu bestimmten Fragen mit Ja/Nein antwortet. In der Forschung wird vielfach mit sehr einfachen Lügenszenarios gearbeitet. So werden zum Beispiel Probanden gebeten, darüber zu lügen, ob sie bestimmte Spielkarten bereits gesehen haben. Mit solchen einfachen Lügenexperimenten sind bereits hohe Trefferquoten erzielt worden. Allerdings sind diese Laborexperimente noch sehr weit von der Einsatzwirklichkeit entfernt, da die künstlichen Laborlügen keinen Aufschluss darüber geben, ob Lügen auch während einer polizeilichen oder gerichtlichen Untersuchung erkannt werden könnten.

Die Laborsituationen unterscheiden sich in einer Reihe wichtiger Parameter von der realen Untersuchung (wie etwa Motivation des Probanden, Persönlichkeitsmerkmale der Untersuchungsstichprobe, oder Belohnungs-/Bestrafungswert der zu erwartenden Konsequenzen). Obwohl die fMRT-basierte Lügendetektion gegenüber der Polygrafie sicherlich eine technische Verbesserung darstellt und ein erhebliches Entwicklungspotenzial besitzt, stehen zur Bewährung dieser Technik unter realistischen Einsatzbedingungen noch Untersuchungen aus. Die Anfälligkeit für gezielte Verfälschungen ist bei hirnbasierten Verfahren als geringer einzuschätzen als bei konventioneller Polygrafie, da dies eine gezielte Erzeugung eines spezifischen Aktitivätsmusters der Hirnaktivität erfordern würde. Zudem wird eine Verlagerung von Lügendetektion auf die Aufdeckung verborgenen Wissens, die keine Antwort des Probanden erfordert, die Möglichkeit der Manipulation weiter verringern (etwa das verdeckte Wiedererkennen von Merkmalen eines Tatortes, ähnlich dem Tatwissenstest). Allerdings ist auch hier eine Kooperation des Probanden erforderlich, da selbst kleinste Bewegungen des Probanden im Scanner die Messergebnisse unbrauchbar machen. Die fMRT-basierte Lügendetektion scheint also vielversprechend, befindet sich aber noch im Entwicklungsstadium. Deshalb ist es als sehr problematisch anzusehen, dass bereits heute einige Firmen fMRT-Lügendetektion anbieten[4], obwohl die Verfahren noch nicht wissenschaftlich abgesichert sind.


Neuromarketing
Ein weiteres zukünftiges Einsatzgebiet der Neurotechnologie ist das sogenannte Neuromarketing. Dazu zählt zum Beispiel die Vorhersage von Konsumentenverhalten auf der Basis der Hirnaktivität oder die Optimierung von Produkten und von Werbung. In den letzten Jahren hat dieser Bereich ein enormes Interesse gefunden und es gab wiederholt Versuche, Marketingkonzepte durch Hinzunahme von Informationen über die Reaktionen des Gehirns auf Produktdarbietung zu optimieren. Eine zentrale Rolle spielen hierbei die Reaktionen der Belohnungszentren des Gehirns. So wird etwa eine höhere Antwort im sogenannten Nucleus accumbens als Indikator einer Belohnungswirkung des Produkts angesehen, die im Extremfall ein starkes Verlangen (craving) nach dem Produkt auslösen könnte. Obwohl diese Interpretation sehr plausibel ist, muss in der Forschung noch ausgeschlossen werden, dass diese Reaktionen womöglich durch andere Produkteigenschaften hervorgerufen werden (etwa durch die Auffälligkeit oder "Salienz" der Produkte). Aus mehreren Gründen ist jedoch davon auszugehen, dass das Neuromarketing sich schnell entwickeln könnte. Dies liegt daran, dass es nicht erforderlich ist, komplexe produktbezogene Gedankeninhalte in allen Details auszulesen. Stattdessen ist eine einfache Entscheidung über die Valenz des Produkts ausreichend (das heißt, ob es von den Probanden als positiv und angenehm erlebt wird). Es kommt vereinfachend hinzu, dass die Belohnungszentren des Gehirns an anatomisch klar vorhersagbaren Hirnpositionen liegen. Damit lässt sich eine Technik an einer Gruppe von Probanden entwickeln und an einer anderen Gruppe von Probanden anwenden. In unserer Forschung konnten wir zeigen, dass man in Laborsituationen Kaufentscheidungen sehr gut aus der Hirnaktivität vorhersagen kann. Allerdings stehen auch hierzu Kenntnisse über Anwendungssituationen noch aus.


Usability

Neben der prinzipiellen Machbarkeit ist die usability ein wichtiger Faktor, der über den Einsatz neurowissenschaftlicher Techniken in Alltagsanwendungen entscheiden wird. Hier geht es um die Frage, wie einfach (oder umständlich) die Technik zu verwenden ist und wie viel Freude (oder Frustration) bei ihrer Verwendung aufkommt. Es sind noch zahlreiche Entwicklungen und Anpassungen erforderlich, bis das brain reading zu breiten Anwendungen führen kann. Ein wichtiger usability-Faktor ist die Mobilität der Techniken. So sind die derzeit verwendeten Messtechniken nur begrenzt für mobilen Einsatz geeignet. Insbesondere die MRT wird hier auf absehbare Zeit noch ein stationäres Verfahren bleiben, da die Tomografen mehrere Tonnen wiegen und hohe Sicherheitsanforderungen stellen. Trotzdem gibt es Anwendungen, wie etwa die Lügendetektion, bei denen der Proband zum Scanner kommen kann, statt den Scanner zum Probanden zu bringen.

Darüber hinaus ist zurzeit die Verwendung von EEG und fMRT noch sehr umständlich. Beim EEG müssen Ableitelektroden mit einer speziellen Elektrodenpaste versehen und mit der Kopfhaut in Kontakt gebracht werden. Dies erfordert eine erhebliche Aufbauzeit (je nach Elektrodenzahl bis zu einer Stunde). Außerdem sind nach der Messung die Rückstände der Paste durch eine Haarwäsche zu entfernen. Für einzelne Anwendungen wie beim Neuromarketing oder der Lügendetektion sind solche Zeiten eventuell in Kauf zu nehmen, für Alltagsanwendungen (zum Beispiel die Fernsteuerung des Fernsehers oder Computers mittels EEG) sicherlich nicht. Hier muss die Weiterentwicklung gelfreier Elektroden abgewartet werden. Im Gegensatz dazu ist die MRT kontaktfrei, allerdings ist hier die Vorbereitung der Probanden in anderer Hinsicht aufwendig, weil zunächst eine Reihe von Sicherheits- und Ausschlusskriterien berücksichtigt werden muss, da bei dieser Methode starke Magnetfelder eingesetzt werden. Auszuschließen sind Probanden, die etwa unter Klaustrophobie leiden, ma gnetisierbares Metall im Körper haben[5], einen Herzschrittmacher oder einen Hirnstimulator besitzen. Außerdem darf sich der Proband während der Messung über einen Zeitraum von bis zu einer Stunde nicht bewegen.


Ethische Aspekte

Sollte man überhaupt eine Technik entwickeln, die die Gedanken einer Person auslesen kann? Wie in vielen Bereichen biomedizinischer Forschung steht man vor einem Dilemma. Auf der einen Seite lassen die Ergebnisse auf eine Verbesserung klinischer und technischer Anwendungen hoffen. So gibt es heute schon erste Ansätze, mit computergestützten Prothesen oder brain-computer interfaces schwerstgelähmten Patienten das Leben zu erleichtern. Auf der anderen Seite stehen Anwendungen, die von vielen Menschen kritisch gesehen würden. Dazu zählen vor allem kommerzielle Anwendungen, wie das Auslesen einer Produktpräferenz zu Marketingzwecken oder das Messen der gefühlsmäßigen Einstellung eines Jobkandidaten zu einem Unternehmen. Aus diesen Gründen fordern wir seit einiger Zeit eine breitere gesellschaftliche Debatte darüber, welche dieser Techniken von einer breiten Öffentlichkeit unterstützt werden. Zum Abschluss werden hier im Überblick die wichtigsten ethischen Aspekte dieser Forschung dargestellt:

Mentale Privatsphäre: Es ist eine wesentliche menschliche Grunderfahrung, dass die Gedanken eines Menschen privat sind und nicht von außen ausgelesen werden sollen. Deshalb muss mit besonderer Sensibilität mit Techniken umgegangen werden, die diese klassische Grenze durchbrechen und das vermeintlich Private technisch zugänglich machen.

Datensicherheit: Die meiste neuroimaging-Forschung findet zurzeit in universitären Kontexten statt, wo strenge Datenschutzrichtlinien gelten. Bei dem fortschreitenden Einsatz solcher Techniken für kommerzielle Anwendungen ist absehbar, dass große Mengen sensibler Informationen anfallen, aus denen private Firmen potenziell wichtige personenbezogene Information extrahieren könnten, auch jenseits der Informationen, für die ein Test ursprünglich vorgesehen war. So ist denkbar, dass ein Proband für eine Lügendetektionsuntersuchung zu einer privaten Firma kommt, jedoch die Daten auch in anderer Hinsicht, zum Beispiel in Bezug auf Krankheitsrisiken oder die Persönlichkeit, ausgewertet werden ("Kollateral-Information").

Qualitätsstandards: Zurzeit liegen noch keine genauen Richtlinien vor, die Qualitätsstandards für erfolgreiches "Auslesen" von mentalen Zuständen definieren würden. Dies ist problematisch, da - wie oben ausgeführt - bereits einige Firmen mit brain-reading-Anwendungen auf den Markt drängen, ohne dass eine wissenschaftliche Bewertung des Erfolges dieser Methoden vorliegen würde. Zwar liegen einige Untersuchungen zur Zuverlässigkeit von MRT-Lügendetektoren vor, diese beziehen sich jedoch auf artifizielle Laborsituationen, die keine Aussagen auf Einsätze in realen Szenarien erlauben. Es ist jedoch für die nächste Zeit zu erwarten, dass Wissenschaftler aus diesem Gebiet damit beginnen, Richtlinien und Qualitätsstandards beginnen zu definieren.


John-Dylan Haynes, geb. 1971, Prof. Dr. rer. nat., Dipl.-Psychologe, Leiter der Arbeitsgruppe "Aufmerksamkeit und Bewusstsein" am Max-Planck-Institut in Leipzig, seit 2006 Professor für "Theory and Analysis of Large Scale Brain Systems" am Bernstein Center Berlin, Forschung im Bereich der Neurobiologie an der Berliner Charité.


Anmerkungen

[1] In der Wissenschaft wird solches "Gedankenlesen" üblicherweise nicht thematisiert, vermutlich um eine Assoziation mit Esoterik und Parapsychologie zu vermeiden. Dabei wird leicht vergessen, dass rudimentäres Gedankenlesen eine wichtige kognitive Fähigkeit darstellt. Aus dem "Rotwerden" einer Person schließt man darauf, dass sie verlegen ist, oder man schließt aus ihrer zittrigen Stimme auf ihre Nervosität. Das Forschungsgebiet "Theory of Mind" ist ein Teilgebiet der Sozialpsychologie und befasst sich mit der Frage, wie Menschen Repräsentationen der mentalen Zustände anderer Menschen erwerben. Allerdings sind die Möglichkeiten, aus der Mimik und Gestik zu schließen, was eine Person gerade denkt, sehr begrenzt.

[2] Ein wichtiger Forschungstrend in diesem Bereich ist die Integration beider Verfahren, um eine gleichermaßen hohe zeitliche und räumliche Auflösung zu erlauben, allerdings sind die Möglichkeiten der Integration der Signale begrenzt. Es gibt neben den hier erwähnten Verfahren noch weitere neurowissenschaftliche Messtechniken, die sich allerdings für brain reading eher ungeeignet sind. Dazu zählen:
(1) die Messung radioaktiv markierter Substanzen mittels Positronenemissionstomografie (PET), die aufgrund der radioaktiven Belastung nicht für technische Anwendungen geeignet ist;
(2) die Messung der Hirnaktivität mittels Nah-Infrarot-Spektroskopie (NIRS), die die Messung der Hirnaktivität nur mit schlechter räumlicher und zeitlicher Auflösung erlaubt (allerdings ist NIRS sehr leicht mobil einzusetzen);
(3) die Messung der elektrischen Hirnaktivität mittels implantierter Tiefenelektroden und Elektrodengrids: Diese erlaubt zwar eine wesentlich präzisere Messung der lokalen Nervenzellaktivität, allerdings ist dieses Verfahren invasiv und insofern für nicht klinische Anwendungen ungeeignet;
(4) Ebenfalls erwähnt werden sollte auch die Transkranielle Magnetstimulation (TMS), mit deren Hilfe sich die Hirnaktivität zwar nicht messen, aber beeinflussen lässt. Allerdings ist dieses Verfahren zurzeit noch sehr unspezifisch und erlaubt es nicht, die Aktivität einzelner Nervenzellen gezielt zu verändern.

[3] Die Manipulierbarkeit von Polygrafie-Ergebnissen ist sowohl für klassische Kontrollfragentests als auch für die vermeintlich sichereren Tatwissenstests wissenschaftlich belegt.

[4] Siehe zum Beispiel die US-amerikanischen Firmen Noliemri (http://noliemri.com) und Cephos (http://www.cephoscorp.com).

[5] Im Einzelfall kann geprüft werden, inwiefern implantierte Metalle magnetisierbar sind. Von Zahnfüllungen geht in der Regel keine Gefahr aus.


Literatur

Bles, Mart; Haynes, John-Dylan (2008): Detecting Concealed Information Using Brain-Imaging Technology. In: Neurocase, 14 (1), S. 82-92.

Haynes, John-Dylan; Rees, Geraint (2006): Decoding Mental States from Brain Activity in Humans. In: Nature Reviews Neuroscience, 7 (7), S. 523-534.

Haynes, John-Dylan et al. (2007): Reading Hidden Intentions in the Human Brain. In: Current Biology, 17 (4), S. 323-328.

Schnabel, Ulrich; Uehlecke, Jens (2009): Sind die Gedanken noch frei? In: Die Zeit, vom 2.7.2009.

Soon, Chun S. et al. (2008): Unconscious Determinants of Free Decisions in the Human Brain. In: Nature Neuroscience, 11 (5), S. 543-545.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. 1: Hirnregionen, aus denen menschliche Absichten "ausgelesen" werden können. Feinkörnige Hirnaktivierungsmuster (rechts) sind unterschiedlich, wenn ein Proband eine Addition oder eine Subtraktion verdeckt vorbereitet. Aus Aktivierungsmustern in den weiß markierten Regionen können verborgene Absichten ausgelesen werden, bevor sie vom Probanden ausgeführt werden. Aus den schwarz markierten Regionen können die Absichten ausgelesen werden, wenn der Proband begonnen hat, die Absicht in die Tat umzusetzen (Haynes et al. 2007).

Abb. 2: Ein Experiment zu unbewussten neuronalen Mechanismen der Entscheidungsfindung. Ein Proband wird gebeten, sich zu einem frei wählbaren Zeitpunkt "frei" auszusuchen, ob er einen Knopfdruck mit links oder rechts durchführen möchte. Parallel dazu läuft eine Buchstabenfolge über den Bildschirm und der Proband soll sich merken, wann er sich bewusst entschieden hat, den Knopf zu drücken. Die Hirnaktivität zeigt bereits bis zu zehn Sekunden vor der bewussten Entscheidung zu einem gewissen Grad an, welche Auswahl der Proband gleich treffen wird (Soon et al. 2008).


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INHALT

Vorwort von Christiane Woopen
Barbara Wild - Hirnforschung gestern und heute
John-Dylan Haynes - Bilder des Gehirns als Bilder des Denkens und Fühlens
Tade Matthias Spranger - Das gläserne Gehirn? Rechtliche Probleme bildgebender Verfahren
Isabella Heuser - Psychopharmaka zur Leistungsverbesserung
Thomas E. Schläpfer - Schnittstelle Mensch/Maschine: Tiefe Hirnstimulation
Henning Rosenau - Steuerung des zentralen Steuerungsorgans - Rechtsfragen bei Eingriffen in das Gehirn
Ludger Honnefelder - Die ethische Dimension moderner Hirnforschung
Dietmar Mieth - Der (gehirnlich) steuerbare Mensch - Ethische Aspekte
Wolfgang van den Daele - Thesen zur ethischen Debatte um das Neuro-Enhancement


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Quelle:
Dokumentation der Jahrestagung des Deutschen Ethikrates 2009
Der steuerbare Mensch? - Über Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn
© 2009 - Seite 21 - 33
Herausgeber: Geschäftsstelle des Deutschen Ethikrates
Vorsitzender: Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Sitz: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
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Redaktion: Dr. Joachim Vetter (V.i.S.d.P.)
Telefon: 030/203 70-242, Telefax: 030/203 70-252
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Internet: www.ethikrat.org


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Mai 2011