Schattenblick →INFOPOOL →MEDIZIN → FAKTEN

ETHIK/923: Der steuerbare Mensch? (6) Schnittstelle Mensch-Maschine - Tiefe Hirnstimulation (Dt. Ethikrat)


Dokumentation der Jahrestagung des Deutschen Ethikrates 2009
Der steuerbare Mensch? - Über Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn

Schnittstelle Mensch/Maschine: Tiefe Hirnstimulation

Von Thomas E. Schläpfer


"If there would be a way to get rid of negative emotions by implanting electrodes in the brain - on condition that neither intelligence nor critical reasoning would be impaired - I would bet the first patient."

Dalai Lama,
Meeting der Society of Neuroscience, Washington DC, 2005



Das Verfahren der tiefen Hirnstimulation

Es gibt in der modernen klinischen Medizin kaum etwas, über das so viele Missverständnisse verbreitet werden und das so viel Angst macht wie die Methode der tiefen Hirnstimulation (THS). In diesem Beitrag soll versucht werden, am Beispiel der Depressionsbehandlung über THS zu informieren, Vorurteile abzubauen und einige ethische Überlegungen zu diskutieren. Die THS ist ein an sich einfaches Verfahren, das seit zwölf Jahren[1] klinisch zur Behandlung einiger neurologischer Krankheiten wie Tremor bei der Parkinsonschen Erkrankung und anderen Bewegungsstörungen verwendet wird. Mehr als 50.000 Patienten sind weltweit schon mit THS behandelt worden. Es ist ein Verfahren, bei dem Elektroden in gewisse Hirnregionen eingebracht werden[2], wo sie dann elektrisch reizen und modulatorisch auf Dysfunktionen in diesen Regionen einwirken können (Abb. 1).

Ein wichtiger Aspekt bei der THS ist die Planung der genauen Elektrodenpositionierung. Dazu werden mit einer hochauflösenden strukturellen Magnetresonanztomografie (MRT) die Zielgebiete dargestellt und mit einem Computerprogramm die genauen Zielkoordinaten für die Elektroden bestimmt. Die gefundenen Zielkoordinaten werden an einem stereotaktischen Rahmen eingestellt, der am Kopf des Patienten befestigt ist. Danach werden zwei kleine Löcher in den Schädel gebohrt und die Elektroden, die einen Durchmesser von etwa 1,2 Millimeter haben, implantiert. Während der Operation sind die Patienten bei vollem Bewusstsein und können mit dem Operationsteam kommunizieren und subjektive Wahrnehmungen mitteilen. Das Verfahren ist relativ wenig invasiv: Es gibt eine geringe Wahrscheinlichkeit von etwa 0,5 Prozent, dass eine Hirnblutung verursacht wird. Das Verfahren ist sehr selektiv: Mit großer Präzision können dysfunktionelle Hirngebiete stimuliert und damit beeinflusst werden. Ein wichtiger Aspekt ist die Reversibilität der Methode: Wenn unerwünschte Nebenwirkungen auftreten, können die Stimulationsparameter so verändert werden, dass sie vermindert werden. Bis heute sind auch keine Daten zu Zellschädigungen durch die THS im Hirn bekannt.


Anwendung der tiefen Hirnstimulation bei neurologischen Erkrankungen

Bei welchen Erkrankungen wird dieses Verfahren heute klinisch angewendet? Die wichtigste Indikation ist heute die Parkinsonsche Erkrankung[3], wobei es darum geht, den sozial sehr schwierig zu ertragenden Tremor der Patienten zu beeinflussen, der in vielen Fällen fast vollständig zum Verschwinden gebracht werden kann. Weiterhin wird THS eingesetzt bei anderen schweren Tremorformen, Bewegungsstörungen, Dystonie und bei zentralen Schmerzsymptomen, bei denen Patienten jahrelang an Schmerzen gelitten hatten, die man mit Medikamenten nicht behandeln konnte.

Die eindrücklichen Erfolge der Anwendung von THS bei neurologischen Erkrankungen haben dazu geführt, dass seit etwa fünf Jahren die THS bezüglich ihrer Wirkung bei psychiatrischen Erkrankungen untersucht wird. Bei psychiatrischen Erkrankungen haben wir in der Regel weniger gut ausgebaute Hypothesen über die zugrunde liegenden Dysfunktionen von neuronalen Netzwerken. Allerdings haben die modernen funktionellen bildgebenden Verfahren in den letzten zehn Jahren sehr viel dazu beigetragen, dass wir mehr über diese grundlegenden Dysfunktionen wissen.


Tiefe Hirnstimulation bei therapieresistenter Depression

Es gibt eine amerikanische Studie, die die Wirksamkeit von THS bei der Zwangsstörung nachgewiesen hat.[4] Die bisher umfangreichste und sehr gut geplante Studie läuft im Moment an den Kölner Kliniken für Psychiatrie und Stereotaktische Neurochirurgie. Beim Gilles-de-la-Tourette-Syndrom, einer Krankheit, die mit Zwangsstörungen verwandt ist, gibt es erste positive Befunde. Seit einem Jahr gibt es zur therapieresistenten unipolaren Depression Daten aus drei unkontrollierten Studien mit insgesamt etwa 50 Patienten. Darüber hinaus gibt es erste Untersuchungen bei Patienten mit Alkoholabhängigkeit, und angedacht sind Untersuchungen im Bereich der Demenz.

Unipolare Depression ist das Thema dieses Beitrages, an dem einerseits die Möglichkeiten der THS in der Psychiatrie und andererseits die spezifischen ethischen Fragestellungen aufgezeigt werden sollen.

Depression ist eine traurige Krankheit. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist es die für die Menschheit bedeutungsvollste Erkrankung. Das ist nicht meine persönliche Einschätzung, sondern die der Weltgesundheitsorganisation, die in einer großen Studie die Belastungen von Krankheiten in Bezug auf die Verringerung der Lebensqualität und die Verkürzung der Lebenszeit untersucht hat.[5] Es ist eine Krankheit mit einer enorm hohen Lebenszeitprävalenz von bis zu 17 Prozent, sie ist weltweit nur bei fünf Prozent der Patienten diagnostiziert und bei drei Prozent der Patienten behandelt. Es ist eine Krankheit, die eine sehr hohe spezifische Mortalität durch Suizid hat, 20 Prozent der Patienten mit rezidivierenden depressiven Episoden bringen sich um. Es ist eine Krankheit, die sowohl Mortalität und Morbidität bei gewissen körperlichen Erkrankungen erhöht. Gut nachgewiesen ist dies für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes und Krebserkrankungen.

Depressionen können mit Medikamenten mit recht gutem Erfolg behandelt werden[6], allerdings nicht mit so gutem Erfolg, wie uns jahrelang von der Pharmaindustrie versprochen wurde. Heute wissen wir, dass etwa ein Drittel der Patienten auch nach vielen medikamentösen und psychotherapeutischen Behandlungsversuchen immer noch an einer klinischen Depression leiden.[7]

Was sehr viel dazu beigetragen hat, dass wir mehr über die Depression verstehen, sind funktionelle bildgebende Verfahren. In einer Übersichtsstudie haben Olivier Berton und Eric Nestler die bisherigen Befunde über Dysfunktionen eines Netzwerks, das affektive Reize verarbeitet, zusammengefasst (Abb. 2).[8]

Der frontale Kortex ist sicher eine Region, die für die kognitiven Aspekte der Depression - wie Gedächtnisstörungen, Gefühl der Wertlosigkeit, Suizidalität - verantwortlich sein kann. Die Amygdala und der Nucleus accumbens sind tiefere Hirnstrukturen, die belohnende und bestrafende Reizantworten auf emotionale Stimuli vermitteln und die vermutlich auch für das Symptom der Anhedonie verantwortlich sein können. Anhedonie ist die Unfähigkeit, Freude in Situationen zu erleben, die früher Freude gemacht haben. Patienten können die gleiche Tätigkeit wie früher ausüben, aber sie bereitet keine Freude mehr. Dann gibt es den Hypothalamus, eine Region, die mit dem neurovegetativen Symptom der Depression assoziiert werden kann.

Diese modellhafte Darstellung zeigt auch, dass es keine Depression gibt, sondern Hunderte oder vielleicht Tausende von Depressionsformen, die durch unterschiedlich stark ausgeprägte Dysfunktionen einzelner Teile dieses ganzen Netzwerkes charakterisiert sind. Das neurobiologische Konzept der Depression hat sich dank dieser neuen Befunde von einer Störung der Neurotransmission von Synapsen wegbewegt in Richtung einer Störung eines Netzwerks, das an ganz verschiedenen Punkten dysfunktional sein kann.

Wenn Sie dieses Modell sehen, stellt sich natürlich die Frage: Können wir hier nicht - auf spezifische Stellen fokussiert - die Neurotransmission beeinflussen? In der Tat wird das zurzeit erforscht. Es gibt die Vagusnerv-Stimulation: ein Verfahren, das den Vagusnerv stimuliert und Vagusnervkerne im Hirn erreicht, die intensive und reziproke Projektionen zum limbischen System haben; in der Tat hat dieses Verfahren antidepressive Wirkungen. Es gibt die repetitive transkranielle Magnetstimulation: ein Verfahren, bei dem mit Magnetfeldern frontal kortikale Aspekte dieses Netzwerks erreicht werden können, das auch bei gewissen Patienten antidepressiv wirkt. Dann - vielleicht sowohl klinisch wie auch wissenschaftlich am interessantesten - die tiefe Hirnstimulation: ein Verfahren, mit dem, wie erwähnt, gezielt reversibel tiefere Hirnstrukturen erreicht und moduliert werden können. Wir haben in einer Studie die Wirkung der THS des Nucleus accumbens bei schwersten, therapieresistenten Depressionen untersucht. Der Nucleus accumbens ist eine Struktur, die bei Depression dysfunktional ist und mit anderen Teilen des beschriebenen affektiven Netzwerkes eng verknüpft ist.[9] Wir haben dies bis heute an 13 Patienten untersucht und Daten von den ersten zehn Patienten publiziert. Diese Patienten empfanden absolut keine Lebensfreude und Lebensqualität mehr. Ihre letzte depressive Episode dauerte im Mittel elf Jahre ohne jegliche Remission; sie hatten im Mittel 20 erfolglose Medikamentenbehandlungsversuche, Psychotherapien und Elektrokrampf-Therapien hinter sich.

Den ersten Patienten haben wir unmittelbar nach dem Einschalten der Stimulation gefragt: "Was spüren Sie?" Er hat gesagt: "Die Depression verändert sich nicht", hat aber dann spontan beim Hinausschauen aus dem Fenster bemerkt: "Ich sehe den Kölner Dom, hier war ich noch nie. Den möchte ich gerne besichtigen." Ich habe ihm dann gesagt, dass das ein wenig seltsam wäre für einen schwerst Depressiven (der Patient ist selber Psychiater). Darauf bemerkte er: "Ja schon, aber ich glaube, das würde mir gefallen." Die zweite Patientin zeigte auch keine akute Stimmungsverbesserung, aber sie hat ganz spontan gesagt: "Einmal möchte ich doch wieder mal kegeln gehen." Wir haben sie gefragt, warum, was für eine seltsame Idee das sei. Sie sagte: "Ich glaube, es könnte mir Spaß machen." Und die im Raum anwesende, sehr erstaunte Tochter der 69-jährigen Patientin sagte, dass die Mutter als Jugendliche gerne gekegelt habe. Diese anekdotischen Befunde können im Sinne akuter antianhedoner Effekte der THS im Nucleus accumbens interpretiert werden.

Viel wichtiger sind natürlich die Langzeiteffekte. Die gerade publizierten Resultate von zehn Patienten zeigen, dass 50 Prozent auf die Therapie angesprochen haben, wobei mit "Ansprechen" die 50-prozentige Reduktion der Depressivität im Vergleich zur Situation vor der Stimulationstherapie gemeint ist. Die Resultate entsprechen denen der bisher von anderen Gruppen, die etwas andere Zielgebiete für die THS untersucht haben, publizierten Daten. Spezifisch für die THS im Nucleus accumbens scheint eine Reduktion von Angstsymptomen zu sein.


Spezifische ethische Aspekte der Anwendung der tiefen Hirnstimulation bei psychiatrischen Patienten

Nun, wenn wir diese vielversprechenden Resultate sehen, müssen wir uns überlegen: Was bedeutet das in einem größeren Kontext? Schon einmal hatte die Psychiatrie eine Annäherung an die Neurochirurgie - damals Psychochirurgie genannt - vollzogen. Das war eine Zeit, die Spuren hinterlassen hat, Spuren bei Ärzten, aber auch in der Gesellschaft, und das sind bedenkliche und tiefe Spuren, mit denen wir uns beschäftigen müssen und die uns vorsichtig stimmen müssen. In den 50er-Jahren wurden vor allem bei schizophrenen Patienten sogenannte transorbitale Lobotomien durchführt, Verfahren, bei denen ein Eispickel durch das Orbitadach eingeführt wurde und frontal kortikale Gebiete des Hirns zerstört wurden. Danach waren die Patienten besser zu führen, impulsive Durchbrüche und explosionsartige Aggressivität verschwanden. Dieses unwissenschaftliche und unmedizinische Verfahren wurde ohne Zustimmung der Patienten durchgeführt und ist heute natürlich zu Recht verfemt.

Unter dem Eindruck dieser Erfahrungen sind Ängste, exemplifiziert durch eine Artikelserie in der Wochenzeitung Die Zeit unter dem Titel "Der Griff in die Seele"[10], gut verständlich. Es macht uns Angst, wenn mit neurochirurgischen Verfahren unsere seelischen oder psychischen Abläufe beeinflusst werden können. Ich finde es ganz wichtig, dass wir uns früh Gedanken zu ethischen Aspekten dieses Verfahrens machen. Ich finde es ebenso wichtig, dass der Anstoß für diese ethische Richtungsfindung von der Psychiatrie oder der Medizin ausgeht, lange bevor es andere Kreise machen, die nicht so eng damit verbunden sind und denen Kenntnisse sowohl zur Lebenssituation von psychiatrischen Patienten wie auch den chirurgischen Methoden fehlen. Die Verantwortung für die verantwortungsvolle Entwicklung dieser faszinierenden neuen Therapiemöglichkeit müssen wir Mediziner mit allen Konsequenzen übernehmen.

Einige spezifische ethische Fragestellungen sind:

Ist ein wirklicher informed consent möglich? Es geht hier um Patienten, die jahre- oder jahrzehntelang unter einer sehr schlechten Lebensqualität gelitten haben und die nur für die geringste Hoffnung auf Besserung wirklich alles tun würden.
Es ist möglich, dass wir Wirkungen jenseits der Zielsymptomatik hervorrufen. Vielleicht könnte das Verfahren die freie Willensentscheidung beeinflussen - das ist eine Überlegung, die wir anstellen müssen.
Darüber hinaus gibt es die Möglichkeit des Neuro-Enhancements, die potenzielle, im Moment zugegebenermaßen spekulative Möglichkeit, Hirnfunktionen über ein normales Maß hinaus zu steigern.

Zum freien Willen möchte ich nur einen ganz wichtigen Aspekt nennen: Es gibt nichts, was die Ausübung des freien Willens mehr einschränkt als gewisse psychiatrische Erkrankungen wie Zwangserkrankungen und Depressionen. Patienten können ihren freien Willen mit Sicherheit nicht mehr ausüben, wenn sie an diesen Krankheiten leiden. Der Grundgedanke der genannten neuromodulatorischen Verfahren ist die Stabilisierung der fehlregulierten Regelkreise durch Neuromodulation, durch die gezielte Anwendung elektrischer Stimulation. Das Ziel ist die Wiederherstellung genau dieser Bedingungen, die eine Ausübung des freien Willens ermöglichen.

Welche grundsätzlich möglichen Optionen gibt es, durch THS Hirnfunktionen zu verbessern? Wir können den Hippocampus stimulieren und so vielleicht Gedächtnisfunktionen verbessern; ebenso können wir exekutive kognitive Funktionen verbessern, wenn wir dorsolaterale präfrontale Areale des Gehirns stimulieren. Wir können vielleicht die Aufmerksamkeit verbessern und Müdigkeit vermeiden, durch die Stimulation aktivierender Areale. Wir können vielleicht die sprachlichen Fähigkeiten beeinflussen, durch die Modulation von Spracharealen. Was wir sicher bewirken können - das ist gut belegt -, ist die Verbesserung von motorischen Fähigkeiten durch die Stimulation von prämotorischen oder cerebellären Regionen im Hirn. Diese Möglichkeiten bestehen zum einen Teil schon jetzt, zum anderen Teil sind sie spekulativ.

Neuro-Enhancement ist eigentlich eine lang andauernde Steigerung der Leistungsfähigkeit spezifischer, nicht erkrankter oder nicht dysfunktionaler Hirnregionen. Wir können mit elektrischer Hirnstimulation synaptische Funktionen verbessern, durch long term potentiation oder kindling. Das kann die synaptische Leistungsfähigkeit - die Geschwindigkeit der Neurotransmission - verbessern. Das könnte aber ohne Weiteres auch zu einer irreversiblen Synchronisation von Hirnarealen führen, und das wiederum könnte mit Krankheiten wie Epilepsie vergesellschaftet sein.

Aus der wissenschaftlichen Literatur und der klinischen Erfahrung sind eindrückliche Inselbegabungen bekannt. So gibt es das Beispiel eines jungen Mannes, der kaum zu einer sprachlichen Kommunikation fähig ist und der nach einem einzigen Flug über Paris einen detaillierten und absolut korrekten Stadtplan gemalt hat. Solche savants zeigen die eindrückliche, an sich mögliche Leistungsfähigkeit des Gehirns. Aber bei all diesen Patienten gibt es gravierende Defekte von kognitiven, kommunikativen und vor allem emotionalen Funktionen. Genauso könnte es sein, dass, wenn wir künstlich spezifische Hirnfunktionen mit Elektromodulation verbessern, es zu gravierenden Defiziten bei anderen Funktionen kommt. Selbstverständlich müssen wir uns auch überlegen, welche gesellschaftlichen Standards Neuro-Enhancement verändert, ob und in welchen Situationen es gut ist oder nicht.

Ein Beispiel aus einem Bericht der FAZ vom Dezember 2008[11]: "Die tiefe Hirnstimulation ist bei Depressionen und Schizophrenie umstritten." Klar ist sie das; sie ist bisher nicht ausreichend untersucht, deshalb kann sie auch klinisch nicht empfohlen werden. Weiter "Die Nutzen-Risiko-Abwägungen sind extrem individuell zu treffen, da wir nicht nur von Eingriffen in einzelne körperliche Funktionen sprechen, sondern von Eingriffen in die Persönlichkeit." Das ist ein Argument, das man sehr viel hört und das, oberflächlich betrachtet, sicher einleuchtend ist. Einige Autoren werten die Beeinflussung der Persönlichkeit durch tiefe Hirnstimulation als extrem negatives Kriterium.

Ich glaube, dass diese Argumentationslinie nicht hilfreich ist; ich möchte die provokative These aufstellen, dass die Beeinflussung der Persönlichkeit durch THS nicht ein ungewollter zufälliger Nebeneffekt, sondern deren Hauptwirkung ist. Genauso wie Psychotherapie und medikamentöse Therapie verändert THS Stimmung und Kognition positiv, und sowohl Stimmung wie auch Kognition sind zentrale Aspekte der Persönlichkeit[12]. Kommt es nicht zu diesen spezifizierten Veränderungen, ist die Therapie nutzlos. Selbstverständlich sind darüber hinausgehende Veränderungen von Persönlichkeitsaspekten nicht intendiert und zu vermeiden.

Ist es nicht auch so, dass alle unsere täglichen Erfahrungen wie Reisen, Konzert-, Kinobesuche zumindest auch die Kapazität haben, Aspekte unserer Persönlichkeit nachhaltig zu beeinflussen und zu verändern, und das nicht nur in beabsichtigter, sondern zum Teil auch in unbeabsichtigter Art und Weise? Wir glauben, dass die ganz zentrale Frage ist, ob diese Beeinflussung der Persönlichkeit eine gute oder eine schlechte ist, und zwar sowohl aus Sicht des betroffenen Patienten als auch aus Sicht der Gesellschaft.

Ein Beispiel für die Beeinflussung von Persönlichkeitsaspekten zeigt ein Resultat der gezeigten Bonn-Kölner Depressionsstudie: Wir haben neuropsychologische Leistungen in den Bereichen Aufmerksamkeit, Lernen und Gedächtnis, Sprachfunktionen, exekutive Funktionen und visuelle Perzeption gemessen. Zu Beginn der Therapie zeigten die Patienten eine deutliche Normabweichung, eine Dysfunktion dieser Leistungsbereiche.

Nach zwölf Monaten Stimulation kam es zu einer deutlichen positiven Veränderung im Sinne einer Normalisierung. Diese Patienten erreichen in vier dieser Funktionen eine statistisch signifikante Verbesserung, sind wieder im Normbereich, und das absolut Interessanteste an diesen Daten ist, dass das Erreichen dieser Verbesserung unabhängig von der Verbesserung der Depressivität ist, die Verbesserung der depressiven Symptome trägt nicht dazu bei, diesen Effekt zu erklären. Es ist ein also spezifischer Effekt der THS, unabhängig vom Depressionseffekt, das ist eindrücklich. Ich überlasse es Ihnen zu entscheiden, ob dieser Effekt zur Verbesserung von Aspekten der Persönlichkeit bei diesen Patienten ein guter oder schlechter ist.

Ich habe gesagt, dass ich es wichtig finde, dass diese ethischen Aspekte von der Psychiatrie mitgetragen und die Diskussion von der Medizin angestoßen wird. Zusammen mit Thorsten Galert von der europäischen Akademie zur Erforschung von Folgen wissenschaftlich-technischer Entwicklungen in Bad Neuenahr-Ahrweiler haben wir ein von der Volkswagenstiftung finanziertes Projekt begonnen - Deep Brain Stimulation in Psychiatry. Guidance for Responsible Research and Application -, um ethische Fragen umfassend zu bearbeiten, und (hoffentlich) zu beantworten.[13] Eine solche Arbeit kann nur interdisziplinär und international sein. Wir haben eine kleine Gruppe von Philosophen, Neurologen, Bioethikern, Neuropsychologen, Juristen und Neurochirurgen zusammengestellt, die sich Gedanken machen und aus den Erfahrungen ihrer jeweiligen Bereiche etwas zu der Diskussion auf den Tisch bringen.

Nur mit sorgfältigen ethischen Überlegungen und der Übernahme einer weitreichenden Verantwortung können wir diesem vielleicht vielversprechendsten Therapieverfahren der klinischen Psychiatrie der letzten 20 Jahre zu einer ethisch verantwortlichen und gesellschaftlich breit abgestützten Anwendung verhelfen.


Thomas Schläpfer, geb. 1959, Prof. Dr. med., Psychiater, seit 2003 stellvertretender Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Bonn.


Anmerkungen

[1] Zulassung für essenziellen Tremor durch die amerikanische FDA im Jahre 1997.
[2] Üblicherweise auf beiden Seiten des Gehirns.
[3] Deuschl et al. 2006.
[4] Greenberg et al. 2006.
[5] Murray/Lopez 1996.
[6] Vgl. Hegerl 2007.
[7] Rush et al. 2006.
[8] Berton/Nestler 2006.
[9] Schläpfer et al. 2007.
[10] Die Zeit, vom 16.8.2007, S. 29-31.
[11] Wahl 2008.
[12] Synofzyk/Schläpfer 2008.
[13] Online im Internet:
http://www.ea-aw.de/en/project-groups/overview-of-project-groups/deep-brain-stimulation-in-psychiatry/s/dbs.html [5.11.2009]


Literatur

Berton, Olivier; Nestler, Eric J. (2006): New Approaches to Antidepressant Drug Discovery: Beyond Monoamines. In: Nature Reviews Neuroscience, 7 (2), S. 137-151.

Deuschl, Günther et al. (2006): A Randomized Trial of Deep-Brain Stimulation for Parkinson's Disease. In: New England Journal of Medicine, 355 (9), S. 896-908.

Greenberg, Benjamin D. et al. (2006): Three-Year Outcomes in Deep Brain Stimulation for Highly Resistant Obsessive-Compulsive Disorder. In: Neuropsychopharmacology, 31 (11), S. 2384-2393.

Hegerl, Ulrich (2007): Warum die Depression gut behandelbar ist. In: Nationaler Ethikrat (Hrsg.): Pillen fürs Glück? Über den Umgang mit Depression und Hyperaktivität. Berlin, S. 29-38.

Murray, Christopher L.; Lopez, Alan D. (1996): The Global Burden of Disease: A Comprehensive Assessment of Mortality and Disability from Diseases, Injuries, and Risk Factors in 1990 Projected to 2020. Cambridge.

Rush, A. John et al. (2006): Acute and Longer-Term Outcomes in Depressed Outpatients Requiring One or Several Treatment Steps: A STAR*D Report. In: American Journal of Psychiatry, 163 (11), S. 1905-1917.

Schläpfer, Thomas E. et al. (2007): Deep Brain Stimulation to Reward Circuitry Alleviates Anhedonia in Refractory Major Depression. In: Neuropsychopharmacology, 33 (2), S. 368-377.

Synofzyk, Matthis; Schläpfer, Thomas E. (2008): Stimulating Personality: Ethical Criteria for Deep Brain Stimulation in Psychiatric Patients and for Enhancement Purposes. In: Biotechnology Journal, 3 (12), S. 1511-1520.

Wahl, Inka (2008): Ein heilsamer Stachel fürs kranke Gehirn? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, vom 3.12.2008, S. N6.


*


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abbildung 1: Lage von zwei Elektroden, die bei einem Patienten in der Abteilung für stereotaktische Neurochirurgie der Universität zu Köln von Herrn Professor Volker Sturm implantiert wurden.

Abbildung 2: Frontalkortex (FC) und Hippokampus (HP): Kognitive Aspekte (Gedächtnisstörungen, Gefühl der Wertlosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Suizidalität); Nucleus Accumbens (NAc) und Amygdala (Amy): Vermittlung aversiver und belohnender Reizantworten auf emotionale Stimuli (Angst, Anhedonie und Initiativlosigkeit); Hypothalamus (Hyp): Neurovegetative Symptome (Appetitlosigkeit, Schlafstörung, Energielosigkeit)


*


INHALT

Vorwort von Christiane Woopen
Barbara Wild - Hirnforschung gestern und heute
John-Dylan Haynes - Bilder des Gehirns als Bilder des Denkens und Fühlens
Tade Matthias Spranger - Das gläserne Gehirn? Rechtliche Probleme bildgebender Verfahren
Isabella Heuser - Psychopharmaka zur Leistungsverbesserung
Thomas E. Schläpfer - Schnittstelle Mensch/Maschine: Tiefe Hirnstimulation
Henning Rosenau - Steuerung des zentralen Steuerungsorgans - Rechtsfragen bei Eingriffen in das Gehirn
Ludger Honnefelder - Die ethische Dimension moderner Hirnforschung
Dietmar Mieth - Der (gehirnlich) steuerbare Mensch - Ethische Aspekte
Wolfgang van den Daele - Thesen zur ethischen Debatte um das Neuro-Enhancement


*


Quelle:
Dokumentation der Jahrestagung des Deutschen Ethikrates 2009
Der steuerbare Mensch? - Über Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn
© 2009 - Seite 57 - 67
Herausgeber: Geschäftsstelle des Deutschen Ethikrates
Vorsitzender: Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Sitz: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
Jägerstr. 22/23, 10117 Berlin
Redaktion: Dr. Joachim Vetter (V.i.S.d.P.)
Telefon: 030/203 70-242, Telefax: 030/203 70-252
E-Mail: kontakt@ethikrat.org
Internet: www.ethikrat.org


veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Mai 2011