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ETHIK/975: Präimplantationsdiagnostik - Die blinden Flecken der PID-Debatte (ALfA LebensForum)


ALfA LebensForum Nr. 98 - 2. Quartal 2011
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)

Die blinden Flecken der PID-Debatte

Von Professor Dr. phil. Manfred Spieker


Die Präimplantationsdiagnostik (PID) ist kein bioethisches Nischenthema, das nur wenige Menschen beträfe, sondern eines, das die Grundlagen des Zusammenlebens von Menschen fundamental in Frage stellt. Denn die PID widerspricht dem jeder freiheitlichen Gesellschaft zugrundeliegenden Prinzip gegenseitiger Anerkennung des anderen als mir Gleichem.


Ausgangslage

Ende der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts wurde in der Reproduktionsmedizin ein Verfahren entwickelt, mit dem im Labor erzeugte Embryonen vor der Übertragung in eine Gebärmutter auf bestimmte genetische Merkmale oder Chromosomenstörungen untersucht werden können. Zweck dieses Verfahrens, der sogenannten Präimplantationsdiagnostik (PID), ist es, Embryonen mit bestimmten Krankheitsdispositionen oder Behinderungen zu erkennen und von einer Übertragung in die Gebärmutter auszuschließen. Eltern, die auf Grund ihrer genetischen Anlagen mit dem Risiko belastet sind, eine Erbkrankheit auf ihr Kind zu übertragen, hoffen, mit diesem Verfahren gesunden Kindern das Leben schenken zu können. Sie unterziehen sich, obwohl sie zeugungsfähig sind, der belastenden und risikoreichen Prozedur einer künstlichen Befruchtung und verwerfen im Falle eines positiven Befundes bei der PID alle Embryonen, die Träger der getesteten Merkmale sind. Der verständliche Wunsch nach einem gesunden Kind lässt sich mithin nur realisieren, wenn die Unterscheidung zwischen lebenswertem und lebensunwertem Leben stillschweigend akzeptiert und das lebensunwerte Leben im frühesten Stadium seiner Existenz getötet wird.

Bis zum Urteil des Bundesgerichtshofes vom 6. Juli 2010 war es herrschende Ansicht in Politik, Medizin und Jurisprudenz, dass das Embryonenschutzgesetz vom 13. Dezember 1990 die PID verbietet. Das Gesetz untersagt in § 1 Abs. 1 Nr. 2, »eine Eizelle zu einem anderen Zweck künstlich zu befruchten, als eine Schwangerschaft der Frau herbeizuführen, von der die Eizelle stammt«. Es sanktioniert darüber hinaus in § 2 Abs. 1 mit Freiheits- oder Geldstrafe denjenigen, der einen extrakorporal erzeugten menschlichen Embryo »zu einem nicht seiner Erhaltung dienenden Zweck (...) verwendet«. So war es um die Stellungnahme der Bundesärztekammer zur PID vom 3. März 2000, in der die Legalisierung der PID nach »äußerst strenger« Indikation befürwortet wurde, schnell wieder still geworden. Die Behauptung von Herrmann Hepp, dem Vorsitzenden des Arbeitskreises, der die Stellungnahme ausgearbeitet hatte, die PID verstoße »bei Entnahme und Diagnostik an einer nicht mehr totipotenten Zelle« nicht gegen § 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG, fand keine Zustimmung. Die »nicht mehr totipotente Zelle« verstellte seinen Blick auf den Embryo, von dem diese Zelle stammt und um dessen tödliche Selektion bei positivem Ergebnis der Diagnose es geht. Der Deutsche Ärztetag wies die Stellungnahme 2002 in Rostock zurück und plädierte für ein striktes Verbot der PID. Auch die Enquete-Kommission Recht und Ethik der modernen Medizin des 14. Deutschen Bundestages war mit einer Mehrheit von 16 zu 3 Stimmen der Überzeugung, »dass die PID nach geltendem Recht verboten ist«.

Um einen Vorschlag der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) zur Änderung des Embryonenschutzgesetzes war es 2005 ebenfalls schnell wieder still geworden. Die Gesellschaft verlangte unter ihrem Präsidenten Klaus Diedrich eine Änderung des § 1 Abs. 1 Nr. 3 und Nr. 5 ESchG. Um der Vermeidung von Mehrlingsgeburten und der Verbesserung der Erfolgschancen einer künstlichen Befruchtung willen sollten so viele Eizellen befruchtet werden können, wie zum Zweck einer erfolgreichen IVF- oder ICSI-Behandlung erforderlich seien. Für dieses Ziel, mit dem sich die Erfolgsraten der assistierten Reproduktion verdoppeln ließen, streitet Diedrich schon seit vielen Jahren. Den Preis für dieses Ziel, die tödliche Selektion zahlreicher Embryonen, versuchte der Gesetzesvorschlag der DGGG dadurch zu relativieren, dass er behauptete, »befruchtete Eizellen, denen die Entwicklungsfähigkeit fehlt, fallen (...) nicht in den Schutzbereich des ESchG«. Er ignorierte die verfassungsrechtliche Vorgabe, dass jedem Embryo Würdeanspruch und Lebensrecht unabhängig von seiner Lebensfähigkeit und Lebenstüchtigkeit zustehen, die voraussichtliche Dauer des individuellen Lebens also für sein Lebensrecht irrelevant ist. Der Vorschlag der DGGG hätte sich erübrigt, wenn sie nicht davon ausgegangen wäre, dass das Embryonenschutzgesetz die PID verbietet. Festgehalten zu werden verdient schließlich auch die Bemerkung der DGGG, dass die PID bei der Verabschiedung des ESchG bereits bekannt war, wird doch in den gegenwärtigen Forderungen nach ihrer Legalisierung immer wieder behauptet, sie sei damals noch nicht bekannt gewesen. Von einem Verbot der PID war schließlich auch die Erörterung und Verabschiedung des Gendiagnostikgesetzes vom 31. Juli 2009 ausgegangen. Die PID war von den gesetzlichen Regelungen der Gendiagnostik ausgespart worden, weil die Ansicht vorherrschte, ihr Verbot sei durch das ESchG bereits hinreichend geregelt.


Das Urteil des Bundesgerichtshofes

Der 5. Strafsenat des BGH entschied dagegen am 6. Juli 2010, dass die PID nicht gegen das Embryonenschutzgesetz verstoße. Das Urteil lautete: »Die nach extrakorporaler Befruchtung beabsichtigte Präimplantationsdiagnostik mittels Blastozystenbiopsie und anschließender Untersuchung der entnommenen pluripotenten Trophoblastzellen auf schwere genetische Schäden hin begründet keine Strafbarkeit nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG. Deren Durchführung ist keine nach § 2 Abs. 1 ESchG strafbare Verwendung menschlicher Embryonen.« Der angeklagte Berliner Frauenarzt Matthias Bloechle, der an drei Paaren mit unterschiedlichen Voraussetzungen eine PID vorgenommen und sich selbst angezeigt hatte, wurde freigesprochen. Sein Handeln sei von dem Willen getragen gewesen, bei seinen Patientinnen »eine Schwangerschaft herbeizuführen«. Aus der PID machte das Gericht ein »unselbstständiges Zwischenziel«. Dass das Endziel der PID bei positivem Befund aber nicht die Schwangerschaft, sondern die Selektion und Tötung des Embryos ist, das zu reflektieren weigerte sich das Gericht. Es hielt an der Fiktion »Endziel Schwangerschaft« fest. Offenkundig war dem Gericht bei dieser Fiktion aber nicht ganz wohl, denn es bediente sich noch eines zweiten Argumentationsstranges, den es sogar als »ausschlaggebend« bezeichnete. Es behauptete, auch das Embryonenschutzgesetz erlaube eine Selektion. Zur Begründung dieser Behauptung verwies das Gericht auf § 3 Satz 2 ESchG. Darin erlaubt der Gesetzgeber dem Arzt bei einer künstlichen Befruchtung die »Auswahl der Samenzelle«, wenn diese Auswahl dazu dient, das Kind vor schwerwiegenden geschlechtsgebundenen Erbkrankheiten zu bewahren. Unabhängig davon, ob die künstliche Befruchtung akzeptiert oder, wie von der katholischen Kirche, abgelehnt wird, die Auswahl und Verwerfung einer getesteten Samenzelle in der Reproduktionsmedizin ist etwas anderes als die Auswahl und Tötung eines Embryos. Eine Samenzelle ist kein Mensch im frühesten Stadium seiner Existenz. Ein Embryo ist ein Mensch im frühesten Stadium seiner Existenz. Dass das Gericht diesen Unterschied nicht beachtete, dass es bei der Spermienselektion und bei der tödlichen Embryonenselektion von einer »gleichgelagerten Konfliktsituation« spricht, legt die Vermutung nahe, dass das Urteil feststand, bevor die Fakten geprüft wurden.


Das Gutachten der Leopoldina

Dies gilt auch für das Gutachten zur PID, das die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina zusammen mit der Deutschen Akademie für Technikwissenschaften und der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften am 18. Januar 2011 vorgelegt hat. Das Gutachten plädiert für eine begrenzte Zulassung der PID. Die Autoren - Reproduktionsmediziner, Genetiker und Juristen, die seit Jahren als Befürworter der Reproduktionsmedizin, der embryonalen Stammzellforschung und der PID bekannt sind und die von der Leopoldina offenkundig interessenbedingt und gegen die internen Verfahrensregeln für die Auswahl solcher Gutachterkommissionen bestellt wurden - betrachteten es nicht »als ihre Aufgabe (...), die Entscheidung des BGH zu hinterfragen«. Mit verschiedenen Anläufen versuchten sie vielmehr, das BGH-Urteil zu bekräftigen. Da die PID sich nicht mehr totipotenter, sondern pluripotenter Zellen bediene, verstoße sie nicht gegen § 2 Abs. 2 ESchG. Pluripotente Zellen unterlägen »keinem gesetzlichen oder ethischen Verwendungsverbot«. Die PID wird auf eine »Untersuchungsmethode« reduziert. Der tödliche Selektionsaspekt wird, wie schon von Hepp in der Verteidigung der Stellungnahme der Bundesärztekammer im Jahr 2000, ausgeblendet. Dann wird die Diagnostik auf ein »Zwischenziel« im Gesamtvorgang »Herbeiführung einer Schwangerschaft« reduziert, das im Übrigen »dem Informationsrecht der Eltern« diene. Da sich der Selektionsaspekt aber nicht vollkommen ignorieren lässt, wird auch in dieser Stellungnahme § 3 Satz 2 ESchG bemüht, der bei der In-vitro-Fertilisation die Auswahl einer Samenzelle ermöglicht. Die Gutachter - überwiegend Naturwissenschaftler - halten immerhin fest: »Samenzellen stellen noch kein individuell festgelegtes Leben dar.« Aber diese Feststellung bleibt für das Ergebnis ihres Gutachtens folgenlos. Ebenso wie der Gesetzgeber in § 218 StGB wertende Entscheidungen und in § 3 ESchG ausnahmsweise eine Geschlechtswahl zugelassen habe, müsse er auch für die Regelung der PID eine Wahl durch eine »persönliche Gewissensentscheidung« erlauben. An zahlreichen Stellen des Gutachtens greifen die Gutachter auf das Gewissen zurück. Im Konflikt zwischen den sozialen und gesundheitlichen Lebensinteressen der Frau und dem Lebensrecht des Embryos komme »der Gewissensentscheidung der Frau eine überragende Bedeutung zu«. Eine solche Gewissensentscheidung zu achten, sei »eine Errungenschaft des freiheitlich demokratischen Verfassungsstaates«. Starke Worte, die allerdings die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Abtreibungsstrafrecht vom 28. Mai 1993 ignorieren. Darin war genau dieser Rückgriff auf das Gewissen ausgeschlossen worden: Eine Frau, die sich für eine Abtreibung entschieden habe, so erklärte das Gericht, könne »für die damit einhergehende Tötung des Ungeborenen nicht etwa eine grundrechtlich in Art. 4 Abs. 1 GG geschützte Rechtsposition in Anspruch nehmen«. Die Gewissensfreiheit hat ihre Grenze mithin am Lebensrecht.

Das Gutachten unterstellt schließlich - wie auch der Gesetzentwurf der Abgeordneten Ulrike Flach, Peter Hintze u.a. zur Legalisierung der PID - einen »Wertungswiderspruch« zwischen dem strikten Embryonenschutz im ESchG und den Regelungen des Abtreibungsstrafrechts, die eine Abtreibung nach einer Pränataldiagnostik (PND) »sogar bis zum Einsetzen der Eröffnungswehen« erlauben. Der Embryo in vitro sei viel besser geschützt als der Embryo in utero. Die PID solle deshalb als eine vorgezogene PND, die die Frau viel weniger belaste als eine Abtreibung, ermöglicht werden. Von einem »Wertungswiderspruch« zwischen dem Verbot der PID und der Erlaubnis einer Abtreibung nach § 218a Abs. 2 StGB lässt sich aber nur sprechen, wenn unterstellt wird, das Strafgesetzbuch erlaube eine Abtreibung auf Grund einer Behinderung des Kindes. Das aber wollte die Reform des § 218 StGB 1995 gerade ausschließen, indem sie auf eine eugenische oder embryopathische Indikation verzichtete. Sie hätte ganz offenkundig dem 1994 in Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG eingefügten Diskriminierungsverbot Behinderter widersprochen. Nach § 218a Abs. 2 StGB sollte nur jene Abtreibung »nicht rechtswidrig« sein, die eine Gefahr für das Leben oder den körperlichen oder seelischen Gesundheitszustand der Schwangeren abwenden will und die auf eine andere für die Schwangere zumutbare Weise nicht abgewendet werden kann. Wenn realistischerweise unterstellt wird, dass sich in der weiten medizinischen Indikation des § 218a Abs. 2 jedwede Abtreibung aus embryopathischen Gründen verstecken lässt, dann ließe sich ein solcher »Widerspruch« logischerweise auch dadurch auflösen, dass die weite medizinische Indikation durch eine enge ersetzt wird, die eine Abtreibung nur dann straflos stellt, wenn das Leben der Frau bedroht ist.

Die Auflösung eines solchen Wertungswiderspruchs, wenn er denn vorläge, hätte sich am Grundgesetz, also am Verfassungsrecht, und nicht am untergeordneten und überaus problematischen Abtreibungsstrafrecht zu orientieren. Gegen die Unterstellung eines »Wertungswiderspruchs« spricht schließlich auch noch die Vorschrift in § 218a Abs. 2, dass die Gefahr für die Schwangere »nicht auf eine andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann«. Für eine Frau oder ein Paar, das sich auf Grund einer erblichen Belastung in einem Konflikt sieht und deshalb eine PID in Erwägung zieht, ist die Gefahr durch einen Verzicht auf die assistierte Reproduktion vermeidbar. Der existentielle Konflikt einer Schwangeren ist von anderer Qualität als der Konflikt eines solchen Paares. Kinderlosigkeit ist keine Notlage. Die Frau oder das Paar haben kein Recht auf ein Kind um den Preis einer tödlichen Selektion. Das Recht auf reproduktive Freiheit hat wie das Recht auf Gewissensfreiheit seine Grenze an den Grundrechten Dritter. »Noch so verständliche Wünsche und Sehnsüchte sind keine Rechte. Es gibt kein Recht auf Kinder. Aber es gibt sehr wohl ein Recht der Kinder auf liebende Eltern - und vor allem das Recht darauf, um ihrer selbst willen auf die Welt zu kommen und geliebt zu werden.« (Johannes Rau)

Was schließlich die Unterstellung eines »Wertungswiderspruchs« zwischen dem Verbot der PID und der Tolerierung von Nidationshemmern betrifft, so ist festzuhalten, dass sich das Strafgesetzbuch mit Straftaten beschäftigt, die als solche erkennbar sein müssen. Die Wirkungen nidationshemmender Mittel aber sind als solche nicht erkennbar. Sie können logischerweise kein Gegenstand des Strafgesetzbuches sein. § 218 Abs. 1 Satz 2 (»Handlungen, deren Wirkung vor Abschluss der Einnistung des befruchteten Eies in die Gebärmutter eintritt, gelten nicht als Schwangerschaftsabbruch im Sinne dieses Gesetzes«) lässt sich deshalb nicht als Beleg für die Behauptung gebrauchen, die deutsche Rechtsordnung vertrete unterschiedliche Definitionen des Lebensbeginns. Unbenommen bliebe es dem Gesetzgeber aber auch hier, Besorgnissen wegen der Abtreibungswirkung nidationshemmender Mittel durch ein Verbot ihres Vertriebs zu begegnen. Ein aufgeklärter Lebensschutz würde ein solches Verbot rechtfertigen.


Die ESHRE-Daten

Zu den vom Gericht und auch von der Stellungnahme der Leopoldina nicht hinreichend beachteten Fakten, die die mit der PID verbundene Selektion belegen, gehören die von der Europäischen Gesellschaft für Humanreproduktion und Embryologie jährlich publizierten Daten. Die European Society of Human Reproduction and Embryology (ESHRE) ist keine Lebensschutzorganisation, sondern die Berufsvereinigung der Reproduktionsmediziner. Sie sammelt die Daten der PID-Zentren über die behandelten Zyklen, die Biopsien, die Diagnosen, auch die Fehldiagnosen, die Implantationen, die Schwangerschaften und die geborenen Kinder. Ein internationales Team von Reproduktionsmedizinern und Genetikern wertet die Daten aus und berichtet seit 2001 jährlich in der in Oxford erscheinenden Zeitschrift Human Reproduction über die Ergebnisse.

In den Jahren 2009 und 2010 wurden die Daten von jeweils 57 Zentren ausgewertet. Die Zentren verteilen sich über den ganzen Globus von Argentinien über Taiwan bis Finnland und von der Ukraine über die Türkei und Israel bis in die USA. Auch sechs deutsche Zentren sind dabei. Die Volksrepublik China und Afrika fehlen und von den USA hat vermutlich die Mehrheit der PID-Zentren ihre Daten nicht gemeldet. Dennoch sind die Daten repräsentativ für das Ausmaß der Selektion, die mit der PID verbunden ist. Sie zeigen, dass auf einen Embryo, der es 2007 nach einer PID bis zur Geburt schaffte, mehr als 33 Embryonen kamen, die der PID zum Opfer fielen. Die einzelnen Schritte dieser Selektion werden in den Daten minutiös dokumentiert (siehe Grafik).


Hoher Verschleiß - von der Eizelle zum Kind
gewonnene Eizellen
befruchtete Eizellen
entstandene Embryonen
Einstufung als transferierbar
Transfer in Gebärmutter
Schwangerschaften
Geburten
68.568
56.325
40.713
10.084
7.183
1.609
1.206

Quelle: Bericht der Berufsvereinigung der Reproduktionsmediziner, 2007


In 5.887 Zyklen wurden 68.568 Eizellen gewonnen, von denen 56.325 einer Insemination zugeführt wurden. Daraus entstanden 40.713 Embryonen. Eine erfolgreiche Zellentnahme zur Biopsie fand bei 31.520 Embryonen statt. Davon wurden 28.998 einer Diagnose unterzogen und 10.084, also knapp 35 Prozent, als transferierbar eingestuft. In eine Gebärmutter transferiert wurden 7.183 Embryonen, 1.386 wurden kryokonserviert. Erfolgreich war die Implantation aber nur in rund 22 Prozent der Fälle, das heißt, sie führte zu 1.609 Schwangerschaften. Diese wiederum endeten in 977 Geburten mit 1.206 Kindern. Bei 40.713 Embryonen und 1.206 geborenen Kindern bedeutet PID somit: auf ein Kind kommen 33,7 selektierte und verworfene Embryonen. Die Daten der ESHRE zeigen das dramatische Ausmaß der Selektion. Die Diagnostik hat nie den Zweck einer üblichen medizinischen Diagnostik, nämlich dem diagnostizierten Patienten eine angemessene Therapie zukommen zu lassen, sondern immer den Zweck einer Fahndung nach Embryonen mit bestimmten Krankheitsdispositionen zum Zweck der Selektion und Tötung. Mit dem ärztlichen Heilauftrag hat die PID nichts zu tun. Darüber hinaus informieren die Daten der ESHRE auch über die Geschlechtsselektion, das sogenannte Social Sexing, über den Fetozid und die Pränataldiagnostik, die 2007 in 25 Prozent der PID-Fälle während der Schwangerschaft zur Absicherung der PID durchgeführt wurde. Damit wird auch die Behauptung relativiert, die PID sei eine Art vorverlagerte Pränataldiagnose. Die 2010 veröffentlichte Statistik enthält auch eine Zusammenfassung der von 2001 bis 2009 präsentierten Daten. Danach wurden in den neun Jahren 161.644 Embryonen zum Zweck einer PID hergestellt. Davon wurden 28.761 in eine Gebärmutter übertragen. Sie führten zu 5.135 Geburten. Im Vergleich mit diesen Zahlen zeigen die Daten von 2010 auch die rasante Ausbreitung der PID. Sie bestätigen Regine Kolleks These, dass die Durchführung reproduktionsmedizinischer und genetischer Dienstleistungen »in hohem Maße angebotsgesteuert« ist. Nicht die Nachfrage nach PID führt zur Vermehrung der PID-Zentren, sondern die Vermehrung der PID-Zentren führt zur Zunahme der PID.


Konsequenzen für Staat und Gesellschaft

Die Legalisierung der PID hat erhebliche Konsequenzen für den Rechtsstaat, seine Verfassung und seine Rechtsordnung. Sie konterkariert das Embryonenschutzgesetz. Sie widerspricht den ersten drei Artikeln des Grundgesetzes, der Gewährleistung der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1), dem Lebensrecht (Art. 2 Abs. 2) sowie dem Diskriminierungsverbot Behinderter (Art. 3 Abs. 3). Nicht zuletzt gefährdet sie mit dem Gleichheitsprinzip einen Pfeiler des Demokratieverständnisses.


Das Embryonenschutzgesetz

Das ESchG von 1990 hatte das Ziel, die assistierte Reproduktion, die 1982 in Deutschland zur Geburt des ersten im Labor erzeugten Kindes führte, zu regulieren, um den künstlich erzeugten Embryo zu schützen. Das ESchG war ein Instrument des Lebensrechts von Embryonen, nicht der Fortpflanzungsfreiheit von Eltern. Es verbot den Reproduktionsmedizinern deshalb, »mehr Eizellen einer Frau zu befruchten, als ihr innerhalb eines Zyklus übertragen werden sollen« (§ 1 Abs. 1 Nr. 5) und es verbot zugleich, »innerhalb eines Zyklus mehr als drei Embryonen auf eine Frau zu übertragen« (§ 1 Abs. 1 Nr. 3). Mit diesen Verboten sollte verhindert werden, dass im Labor Embryonen erzeugt werden, die keine Chance mehr auf einen Transfer in eine Gebärmutter haben, denen also noch vor der Implantation das Lebensrecht abgesprochen wird. Die Anwälte einer Zulassung der PID, wie die Gutachter der Leopoldina, versuchen, ihr Plädoyer für eine Legalisierung dadurch zu stützen, dass sie der Frau ein Recht zugestehen, sich auch im Rahmen einer künstlichen Befruchtung für oder gegen den Embryo zu entscheiden. Auch ohne eine PID könne die Frau den Transfer des im Labor erzeugten Embryos ablehnen. Deshalb sei es ihr Recht, die Übertragung eines Embryos auch nach einer PID abzulehnen. Die Gutachter ignorieren die Logik der assistierten Reproduktion. Sie setzen sich darüber hinweg, dass zwischen einer künstlichen Befruchtung und der Implantation des im Labor erzeugten Embryos ein »strenges Konnexitätsverhältnis« besteht. Eltern, die sich zu einer assistierten Reproduktion entschließen, haben mit der Spende der Eizelle und der Samenzelle bei erfolgreicher Befruchtung bereits die Elternverantwortung im Sinne von Art. 6 Abs. 2 GG übernommen, der sie sich nicht nachträglich und willkürlich wieder entziehen dürfen. »Elternschaft kann man nicht wie Erbschaft beliebig annehmen oder ausschlagen.« (Christian Hillgruber) Wer sich auf eine künstliche Befruchtung einlässt, ist demnach moralisch verpflichtet, sich den erzeugten Embryo auch implantieren zu lassen. Deshalb schrieb das ESchG vor, nur so viele Embryonen zu erzeugen, wie in einem Zyklus implantiert werden können. Für die PID aber würden nach dem Papier der DGGG von 2005 »mindestens 4 bis 6 Embryonen (in Schweden 10)« benötigt. Letztlich würde bei einer Legalisierung der PID aber jede Begrenzung der Zahl der Embryonen hinfällig. Wenn nämlich die »erfolgreiche Behandlung« zum Maßstab der künstlichen Befruchtung mit PID wird, können so viele Embryonen erzeugt werden, wie zum Zweck des Transfers eines gewünschten Embryos notwendig sind. Unter der Hand hätten mit der Legalisierung der PID auch die Reproduktionsmediziner ihr Ziel erreicht, mehr Eizellen befruchten zu können, um die Erfolgsquote der künstlichen Befruchtung zu erhöhen. Das ESchG würde von einem Instrument des Lebensrechtes des Embryos zu einem Instrument der Fortpflanzungsfreiheit der Frau.


Die Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 GG)

Die Anerkennung einer unantastbaren Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG beinhaltet das Verbot, den Menschen wie eine Sache zu behandeln. Würde ist Anspruch auf Achtung allein auf Grund des Menschseins. Mensch sein heißt Person sein und Person sein heißt, ein »Jemand« und nicht ein »Etwas« zu sein. Aus einem »Etwas« kann nie ein »Jemand« werden. Das Personsein des Menschen beginnt deshalb mit dem Menschsein, also mit der Zeugung. Jeder spätere Beginn des Personseins wäre willkürlich und würde den Embryo der Macht derjenigen ausliefern, die die Zäsur - Nidation, Hirntätigkeit, Empfindungsoder Kommunikationsfähigkeit, extrauterine Lebensfähigkeit, Geburt oder was auch immer - definieren. Nicht das Vorliegen bestimmter Eigenschaften oder Fähigkeiten verleiht die Menschenwürde, sondern allein das Menschsein, das heißt die Zugehörigkeit zur Spezies Mensch. Das Bundesverfassungsgericht stellte deshalb in seinem ersten Urteil zum Abtreibungsstrafrecht vom 25. Februar 1975 fest: »Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu; es ist nicht entscheidend, ob der Träger sich dieser Würde bewusst ist und sie selbst zu wahren weiß. Die von Anfang an im menschlichen Sein angelegten potentiellen Fähigkeiten genügen, um die Menschenwürde zu begründen.« Über Jahrzehnte galt das Verdinglichungsverbot in der Interpretation des Grundgesetzes wie auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als Kern der Menschenwürdegarantie. Dieses Verdinglichungsverbot gilt für jeden Menschen und in allen Phasen seiner Existenz, mithin auch in der frühesten Phase. Alles, was mit einem Menschen in dieser frühesten Phase seiner Existenz im Labor oder in der Gebärmutter getan wird, muss deshalb »nicht nur im Interesse der Eltern, sondern vor allem in seinem eigenen Interesse liegen. Der menschliche Embryo ist bereits >Selbstzweck<, propter seipsum existens, um seiner selbst willen existierend, wie Thomas von Aquin sagt und worin Kant mit ihm einig ist.« Aus dem Verdinglichungsverbot ergibt sich die Verfassungswidrigkeit der PID. In der diagnostischen Selektion liegt eine Instrumentalisierung des menschlichen Embryos vor, die ihn nicht mehr als Subjekt, sondern ausschließlich als Objekt behandelt. Dies gilt nicht nur bei der Erzeugung von sogenannten Rettungsgeschwistern, die unter einer Vielzahl von Embryonen nach bestimmten genetischen Merkmalen als passende Zell-, Knochenmarks- oder Blutspender ausgewählt werden, sondern bei jedem Embryo, der nach PID selektiert wird. Die PID verletzt deshalb die Würde des Embryos ebenso wie sein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Sie widerspricht dem Grundgesetz und dem ESchG. Darin stimmen zahlreiche Medizinrechtler und Verfassungsrechtler, aber auch Philosophen und Theologen überein.


Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG)

Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit in Art. 2 Abs. 2 GG kommt »jedem« Menschen vom Anfang seiner Existenz an zu. Auch hier hat das Bundesverfassungsgericht in seinem ersten Urteil zum Abtreibungsstrafrecht 1975 klare Worte gefunden. Weil der Entwicklungsprozess des Menschen »ein kontinuierlicher Vorgang« sei, der keine scharfen Einschnitte aufweise und eine genaue Abgrenzung der verschiedenen Entwicklungsstufen nicht zulasse, sei er auch nicht mit der Geburt beendet. Deshalb könne »der Schutz des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG weder auf den 'fertigen' Menschen nach der Geburt noch auf den selbständig lebensfähigen nasciturus beschränkt werden«. Die PID missachtet dieses Recht, indem sie es auf das gewünschte gesunde oder unbelastete Kind beschränkt. Dem kranken oder belasteten Kind wird dieses Recht verwehrt. Die PID verletzt das den Rechtsstaat konstituierende Verbot, Unschuldige zu töten. Die Legalisierung der tödlichen Selektion erkrankter oder belasteter Embryonen wäre gleichbedeutend mit der Legalisierung privater Gewaltanwendung, die ebenfalls gegen eine Konstitutionsbedingung des Rechtsstaates verstößt. So kam auch die Enquete-Kommission Recht und Ethik der modernen Medizin 2002 mit 16 zu 3 Stimmen zu dem Ergebnis, »dass die PID die Menschenwürde gemäß Art. 1 Abs. 1 und das Recht auf Leben gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verletzt«. Nur mit einem gehörigen Maß an Betriebsblindheit oder Chuzpe lässt sich diese Logik leugnen. Klaus Diedrich besitzt dieses Maß an Chuzpe, wenn er behauptet, die PID bedeute »keine Entscheidung gegen ein Kind mit einer bestimmten Erkrankung, sondern für die Gesundheit des betroffenen Paares, wenn dieses die Erkrankung des zu erwartenden kranken Kindes nicht in die zukünftige Lebensplanung zu integrieren imstande ist.« Diese Chuzpe erinnert an die Antwort der Regierung Kohl vom 29. Juni 1996 auf eine Kleine Anfrage zur Problematik der Spätabtreibungen und der weiten medizinischen Indikation, in der die Fiktion verbreitet wurde, Ziel des Schwangerschaftsabbruches sei die »Beendigung der Schwangerschaft«, nicht jedoch »die Tötung des Kindes«. Die PID stellt das Lebensrecht des Embryos zur Disposition der Eltern. Sie macht es vom Bestehen eines Eignungstests abhängig. Sie beinhaltet den Anspruch der Mutter und der Reproduktionsmediziner, eine Lizenz zum Leben zu erteilen oder zu verweigern. Der Preis für ein gesundes Kind nach PID ist der Tod von weit über 30 Embryonen, wie die Daten der ESHRE jährlich zeigen. Aber selbst wenn nur ein Embryo der tödlichen Selektion zum Opfer fallen würde, wäre die PID eine Verletzung des Rechts auf Leben, mithin verfassungswidrig.


Das Diskriminierungsverbot Behinderter (Art. 3 Abs. 3 GG)

»Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.« Diese 1994 beschlossene Ergänzung des Gleichheitsgrundsatzes in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG veranlasste den Bundestag bei der Reform des Abtreibungsstrafrechts in § 218a StGB ein Jahr später auf die noch 1992 eingeführte embryopathische Indikation, die eine Abtreibung rechtfertigen sollte und vom Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil 1993 auch noch als grundgesetzkonform eingeschätzt wurde, wieder zu verzichten. Eine Abtreibung auf Grund einer Behinderung des Embryos wäre ein offenkundiger Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG. Genauso ist aber auch die PID eine Verletzung dieses Diskriminierungsverbots. Sie sucht gezielt nach behinderten oder genetisch belasteten Embryonen, um sie von einer Übertragung in eine Gebärmutter auszuschließen. Sie setzt die stillschweigende oder auch katalogisierte Unterscheidung von lebenswertem und lebensunwertem Leben voraus. Sie dient nicht der Verhinderung, sondern der Vernichtung von erkrankten oder belasteten Embryonen.

Die Legalisierung der PID wäre auch ein Verstoß gegen die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung, die von Deutschland am 30. März 2007 unterzeichnet wurde und die am 3. Mai 2008 völkerrechtlich in Kraft trat. In Art. 7 verpflichteten sich die Unterzeichnerstaaten, »alle erforderlichen Maßnahmen« zu treffen, »um zu gewährleisten, dass Kinder mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen Kindern alle Menschenrechte und Grundfreiheiten genießen können« (Abs. 1), und dass »bei allen Maßnahmen, die Kinder mit Behinderungen betreffen, ... das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt (ist), der vorrangig zu berücksichtigen ist« (Abs. 2). Dieses vorrangige Wohl des Kindes, das als gleichberechtigtes Grundrechtssubjekt gesehen wird, schließt eine Legalisierung der PID aus.

Die PID öffnet das Tor zur vorgeburtlichen Qualitätskontrolle. Sie erzeugt gesellschaftliche Erwartungen, dass behindertes Leben vermeidbar sei. Sie verstärkt den bereits durch die Praxis der Pränataldiagnostik auf die Mütter ausgeübten Druck, gesunde Kinder zu gebären. Sie fördert die Vorstellung, die Reproduktionsmedizin erfülle Optimierungswünsche. Eine solche Entwicklung entspräche dem, was der Pionier der assistierten Reproduktion und Träger des Medizinnobelpreises 2010 Robert Edwards schon in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts mit seinen Forschungen verband, nämlich den Eltern zu ermöglichen, die Verantwortung für die Gesundheit ihrer künftigen Kinder zu übernehmen. Eine solche Entwicklung würde dazu führen, dass »eine ungetestete Elternschaft im Ruf der Verantwortungslosigkeit« steht. Auch der Pionier der Genetik und Träger des Medizinnobelpreises 1962 James D. Watson forderte, Kinder, »deren Gene kein sinnvolles Leben zulassen, (...) sollten gar nicht erst geboren werden«. Keine Mutter soll »unter einem Kind mit furchtbaren Entwicklungsfehlern leiden«. Deshalb solle man »bis zwei Tage nach der Geburt warten, bevor man etwas als Leben deklariert, als ein Kind mit Zukunft«. Den IVF-Patientinnen würde »der Qualitätscheck per Embryonenauswahl (...) potenzielles Leiden ersparen - und den Krankenkassen Kosten. Routinemäßig durchgeführt, dürfte die Selektionstechnik viel preiswerter sein als ein weiterer IVF-Zyklus.« Die Legalisierung der PID führt »zur gesellschaftlichen Legitimierung einer zunehmenden Diskriminierung, Stigmatisierung und Entsolidarisierung von chronisch Kranken, Behinderten und deren Familien«. Die Stellungnahme der Leopoldina behauptet zwar, dass von der Zulassung der PID »negative Auswirkungen auf Integration und Unterstützung geborener Menschen mit erblichen Krankheiten (...) ebenso wenig zu erwarten« seien, »wie sie bisher durch die PND-Praxis eingetreten« sind. Den gesellschaftlichen Auswirkungen der PND-Praxis wird diese Behauptung wohl kaum gerecht, gibt es doch genügend Erfahrungen von Eltern behinderter Kinder, die immer wieder implizit oder explizit zu hören bekamen, dass »so etwas« doch heute nicht mehr sein müsse. Die Gutachter, denen solche Erfahrungen offenkundig nicht ganz verborgen blieben, wissen dem nur einen moralischen Appell entgegenzusetzen: »Einem respektlosen Verhalten gegen Menschen mit Behinderungen oder ihre Eltern ist jedenfalls entgegenzuwirken.« Mit der Legalisierung der PID werden aber die Verschiebung gesellschaftlicher Erwartungen und der Druck auf die Eltern gefördert. Das Diskriminierungsverbot Behinderter kann deshalb nur durch ein Verbot der PID aufrechterhalten werden.


Das Demokratieverständnis

Der demokratische Rechtsstaat setzt die Gleichheit der Bürger voraus - nicht die soziale Gleichheit oder die Gleichheit der Anlagen, der Fähigkeiten oder des Vermögens, aber die Gleichheit »vor dem Gesetz«, wie es in Art. 3 GG heißt, das heißt die Gleichheit im Menschsein oder im »naturwüchsigen Ursprung«. Dass die Menschen gezeugt und nicht erzeugt werden, ist die Voraussetzung der prinzipiellen Gleichheit, mithin die Grundlage einer Demokratie. Werden Menschen dagegen einer PID unterzogen, bevor sie die Lizenz zum Leben erhalten, hängt ihr Leben vom Urteil und vom Willen des Reproduktionsmediziners ab, dem die Eltern die Ressourcen geliefert haben. Durch die PID gewöhnt sich die Gesellschaft nicht nur »an eine Einkaufsmentalität bei der Fortpflanzung«, sie öffnet vielmehr das Tor zu einer eugenischen Gesellschaft. Eine Reproduktionsmedizin, die den Menschen nicht mehr als empfangenes Geschöpf, sondern als bestelltes Produkt betrachtet, verändert die gesellschaftlichen Beziehungen. Der Mensch, der »gemacht« wird, kann auch zerstört werden. Die Gemachten sind die Geschöpfe der Macher. Dies zerstört die Symmetrie der Beziehungen, auf die jede Zivilgesellschaft und jede Demokratie angewiesen sind.

In der Warnung vor dieser Gefahr sind sich die katholische Kirche und Jürgen Habermas einig. Für Habermas verletzt die PID die »Reziprozitätsbedingungen der kommunikativen Verständigung«, die bei allen gentechnischen und medizinischen Eingriffen die Möglichkeit einer Konsensunterstellung des betroffenen Embryos verlangen. Menschenwürde sei an die »Symmetrie der Beziehungen« gebunden. »Sie ist nicht eine Eigenschaft, die man von Natur aus 'besitzen' kann wie Intelligenz oder blaue Augen; sie markiert vielmehr diejenige 'Unantastbarkeit', die allein in den interpersonalen Beziehungen reziproker Anerkennung, im egalitären Umgang der Personen miteinander eine Bedeutung haben kann«. Die katholische Kirche stellte bereits 1987 in der Instruktion »Donum Vitae« über die Achtung vor dem beginnenden menschlichen Leben und die Würde der Fortpflanzung und dann erneut 2008 in »Dignitas Personae«, der Fortschreibung von »Donum Vitae«, fest, die künstliche Befruchtung vertraue »das Leben und die Identität des Embryos der Macht der Mediziner und Biologen an« und errichte »dadurch eine Herrschaft der Technik über Ursprung und Bestimmung der menschlichen Person«. Eine derartige »Herrschaftsbeziehung« aber widerspreche »in sich selbst der Würde und der Gleichheit, die Eltern und Kindern gemeinsam sein muss«. Künstliche Befruchtung und PID widersprechen dem jeder freiheitlichen Gesellschaft und somit auch jeder rechtsstaatlichen Demokratie zugrundeliegenden Prinzip gegenseitiger Anerkennung des jeweils anderen als mir Gleichem, und eben nicht als von mir Gewolltem bzw. Ausgewähltem.


IM PORTRAIT

Prof. Dr. phil. Manfred Spieker
Geboren 1943 in München. Studium der Politikwissenschaft, Philosophie und Geschichte an den Universitäten Freiburg, Berlin und München. 1968 Diplom in Politologie. 1973 Promotion zum Dr. phil. 1982 Habilitation im Fach Politische Wissenschaft. Ab 1983 Professor für Christliche Sozialwissenschaften am Institut für Katholische Theologie an der Universität Osnabrück. Verschiedene Gastprofessuren im Ausland.


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Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Vor dem BGH-Urteil waren selbst Befürworter der Ansicht, PID sei gesetzlich verboten.

- Rechtlose Objekte oder Subjekte mit Rechten? Der Mensch kurz nach seiner Zeugung.

- »Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden«, so das Grundgesetz.

- »Wer seinen Eltern Leid verursacht, darf beseitigt werden«, so müsste es künftig heißen.

- Das Prüfsiegel verletzt auch die Würde derer, die den Gen-Check überlebt haben.


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Quelle:
LEBENSFORUM Ausgabe Nr. 98, 2. Quartal 2011, S. 4 -10
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)
Herausgeber: Aktion Lebensrecht für Alle e.V.
Bundesvorsitzende Dr. med. Claudia Kaminsky (V.i.S.d.P.)
Verlag: Ottmarsgäßchen 8, 86152 Augsburg
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. August 2011