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ETHIK/1225: Fremdnützige Forschung an Nichteinwilligungsfähigen (Arbeitskreis Christen und Bioethik)


Arbeitskreis Christen und Bioethik - 13. September 2016

Fremdnützige Forschung an Nichteinwilligungsfähigen

Zur Debatte um eine geplante Änderung des Arzneimittelgesetzes


Bei der Debatte um die geplante Änderung des Arzneimittelgesetzes geht es um die Zulassung fremdnütziger Forschung an Nichteinwilligungsfähigen, speziell Demenzpatienten. Hintergrund ist die Anpassung im Zuge einer EU-Verordnung. Der Deutsche Bundestag berät voraussichtlich Ende September 2016 abschließend über eine Änderung des Arzneimittelgetzes AMG. Nachfolgend die Stellungnahme des ACB zu dieser Debatte.


Stellungnahme zur Änderung des AMG § 40b Absatz 4 (DS 18/8034)

Der Arbeitskreis Christen und Bioethik (ACB) setzt sich entschieden dafür ein, die geltende Gesetzgebung beizubehalten, die den Schutz nichteinwilligungsfähiger Menschen vor fremdnütziger Forschung in Deutschland sicherstellt.

A. Es besteht keine Notwendigkeit, den bestehenden Schutzstandard zu senken:

1. Die EU-Verordnung gestattet den Mitgliedstaaten, an höheren Schutzstandards festzuhalten.

2. Der Verband forschender Arzneimittelhersteller (vfa) hat den Gesetzentwurf in seinen zwei Stellungnahmen vom 15.1.16 und 22.3.16 (1) und vor dem Ausschusses für Gesundheit, Anhörung am 9.5.16 (2), als zielführend begrüßt, gleichwohl aber laut Frankfurter Rundschau vom 3.6.16 (3) eindeutig klargestellt, dass die forschenden Pharma-Unternehmen für ihre Entwicklungsarbeit keine Gesetzesänderung benötigten und die Bedingungen für Medikamententests auch für die Demenzforschung nicht erweitert werden müssten.

(1) http://www.vfa.de/de/wirtschaft-politik/stellungnahmen#

(2) Wortprotokoll S.13
http://www.bundestag.de/blob/427014/b703b88b9f5a4c04c6113947cf5e2c6a/protokoll-data.pdf

(3) Wanka verteidigt Arzneitests an Dementen, FR vom 3.6.16
http://www.fr-online.de/wirtschaft/medikamententests-wanka-verteidigt-arzneitests-an-dementen,1472780,34322440.html

3. In ihren 'ethischen Leitsätzen' und in ihrer Stellungnahme zum Gesetzentwurf vom 6.6.16 lehnt die Deutsche Alzheimer-Gesellschaft fremdnützige Forschung, also Forschung, die den Betroffenen selbst nichts nützt, an Demenzkranken ab.
https//www.deutsche-alzheimer.de/ueber-uns/stellungnahmen/stellungnahme-zum-gesetzentwurf-der-4.amg-novelle.html

4. An Demenzkranken wird heute schon geforscht - mit der Einwilligung der Erkrankten nach verständlicher Information zu jedem einzelnen Forschungsvorhaben, solange sie noch einwilligungsfähig sind (1). Da die Demenzerkrankung ein schleichender Prozess ist, kann man die Ursachen und die Wirkung von Medikamenten sehr wohl in einem frühen Stadium erforschen, solange die Kranken das Vorhaben noch verstehen und ihre Einwilligung geben können. (1) Vgl. Anhörung am 9.5.16, Wortprotokoll, S.22, Quelle wie 2.(2)

5. Von Befürwortern (insbesondere den Koordinationszentren Klinische Studien, KKS-Netzwerk) wird argumentiert, gruppennützige Forschung an nichteinwilligungsfähigen Patienten sei für diese von "höchster Relevanz" (1). Dagegen erklärt die frühere Gesundheitsministerin Ulla Schmidt, dass bislang kein Forschungsvorhaben bekannt sei, das an der bisherigen Rechtslage gescheitert wäre. Auch die pharmazeutische Industrie habe erklärt, dass sie keinen Bedarf für eine solche Forschung sieht, weshalb kein Grund bestehe, etwas an der bisherigen Rechtslage zu ändern. (2)

(1) Diskussion um gruppennützige Forschung, Deutsches Ärzteblatt vom 17.6.16, Jg.113, H.24, S.303,
http://www.aerzteblatt.de/pdf.asp?id=180093

(2) Gruppennützige Forschung an Demenzkranken gestatten? Pro und Kontra, transkript Standpunkt 1.9.16
http://www.transkript.de/menschen/pro-kontra/gruppennuetzige-forschung-an-demenzkranken-gestatten/pos/5.html

6. Es geht keineswegs nur um "Patienten mit fortgeschrittenen Formen dementieller Erkrankungen", sondern um Nichteinwilligungsfähige insgesamt, besonders auch um "Patienten mit schweren akuten psychotischen Erkrankungen, aber auch Menschen mit geistiger Behinderung." (1) "Aber auch Patienten mit besonders schweren und akuten Erkrankungen - beispielsweise im Bereich der Intensivmedizin - fallen in diese Gruppe". (2)

(1) DGPPN, Stellungnahme vom 29.6.16
http://www.dgppn.de/presse/stellungnahmen/detailansicht/article//forschung-in.html

(2) Stellungnahme vom 25.11.15, S. 1:

http://www.kks-netzwerk.de/Studien/Stellungnahmen.html

7. Nach Auffassung des KKS-Netzwerkes (1) sollte die "Absicherung der Patienten / Probanden durch die öffentliche Hand erfolgen." Im Gesetzentwurf ist nicht festgelegt, wer die Versicherungskosten tragen soll "für den Fall, dass bei der Durchführung der klinischen Prüfung ein Mensch getötet oder der Körper oder die Gesundheit eines Menschen verletzt wird (Gesetzentwurf § 40a.3)." Daraus geht hervor, dass es sich keineswegs um harmlose Versuche handelt - und dass nach Auffassung des KKS-Netzwerkes die Öffentlichkeit für Folge-Schäden zahlen soll.

(1) Quelle wie 6.(2)

8. Es ist jetzt schon zu erkennen, dass die beabsichtigte Neuregelung als Türöffner dienen kann, fremdnützige Forschung auch auf Menschen mit geistiger Behinderung auszudehnen, die niemals einwilligungsfähig waren.

B. Die beabsichtigte Neuregelung des AMG § 40 b Abs. 4 steht im Widerspruch zur UN-Menschenrechts-Charta und zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland:

1. Forschung an Probanden, die ihnen selbst nichts nützt und zu der sie ihre Zustimmung nicht gegeben haben, bedeutet eine Instrumentalisierung von Menschen, die sich nicht wehren können. Damit wird gegen das Grundrecht auf Unantastbarkeit der Menschenwürde jedes Menschen ohne Ausnahme verstoßen.

2. Die Zustimmung von Angehörigen oder gesetzlichen Betreuern anstelle von Nichteinwilligungsfähigen, den ihnen anvertrauten Menschen in ein Forschungsvorhaben einzubeziehen, das ihm selbst nichts nützt, bedeutet eine Fremdverfügung und missachtet das Recht auf Selbstbestimmung. - Eine eigene Vorausverfügung in gesunden Tagen ist kein Ausweg aus dem Dilemma der Fremdbestimmung, weil niemand voraussehen kann, wie er sich im Stadium späterer Hilfslosigkeit befindet, und weil die Art zukünftiger Forschung bei Abfassung der Verfügung nicht bekannt ist und auch nicht sein kann.

3. Fremdnützige Forschung an Nichteinwilligungsfähigen verletzt das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit. Ein Außenstehender kann unmöglich beurteilen, was ein nichteinwilligungsfähiger Proband als "geringfügige Belastung" oder "minimales Risiko" empfindet.

Es ist nicht nachzuvollziehen, warum die deutsche Gesetzgebung, die den Schutz nichteinwilligungsfähiger Menschen garantiert, geändert werden soll. Darum ist der vorliegende Gesetzentwurf abzulehnen.

Auch die Änderungsanträge von Prof. Lauterbach u.a. und von Hilde Mattheis u.a. befürworten gruppennützige Forschung an nichteinwilligungsfähigen Probanden in Deutschland; sie stellen den Schutz dieser besonders vulnerablen und daher schutzbedürftigen Patientengruppe hintan und sind deshalb abzulehnen.

Dagegen begrüßen wir sehr den von Ulla Schmidt u.a. eingebrachten interfraktionellen Änderungsantrag, die bisherige Gesetzgebung beizubehalten; denn er will den heutigen Schutzstandard für Menschen in ihrer schwächsten Phase sichern. Der behindertenpolitische Sprecher der CDU-Bundestagsfraktion Uwe Schummer: "Je schwächer der Mensch, desto stärker muss die Schutzfunktion des Staates sein." Debatte um Forschung an Nichteinwilligungsfähigen geht weiter, Deutsches Ärzteblatt vom 6.9.16
http://www.aerzteblatt.de/nachrichten/70367/

Der eigene Umgang mit Menschen mit dementieller Erkrankung zeigt, wie wichtig die Empathie ist. Wir beanstanden, dass die ausschließlich medikamentös ausgerichtete Forschung die ganz entscheidende anthropologische Komponente der empathischen Zuwendung nicht genügend würdigt. Für die Prävention und Begleitung innerhalb der Erkrankung müsste forschungsmäßig mehr investiert werden.

Darum bitten wir unsere gewählten Vertreter/innen im Deutschen Bundestag, den Schutz der schwächsten Mitglieder unserer Gesellschaft höher zu bewerten als Wünsche zur Liberalisierung der Forschung.

Im Auftrag des Arbeitskreises Christen und Bioethik
Bonn, den 13.9.2016

Ilse Maresch

*

Quelle:
Arbeitskreis Christen und Bioethik (ACB)
c/o Ilse Maresch
Giselherstr. 49, 53179 Bonn
Telefon: 0228 / 33 46 04
E-Mail: info(at)bioethik-nrw.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. November 2016

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