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ETHIK/1323: Herbsttagung 2019 "Meinen - Glauben - Wissen: Klimawandel und die Ethik der Wissenschaften" (Infobrief - Dt. Ethikrat)


Infobrief des Deutschen Ethikrates Nr. 26 - April 2020 - 01/20

Herbsttagung
Meinen - Glauben - Wissen: Klimawandel und die Ethik der Wissenschaften

von Steffen Hering und Stephanie Siewert


Am 23. Oktober 2019 begrüßte der Deutsche Ethikrat zahlreiche interessierte Gäste zu seiner Herbsttagung an der ehrwürdigen Georg-August-Universität Göttingen. Die Tagung stand unter dem Motto "Meinen - Glauben - Wissen: Klimawandel und die Ethik der Wissenschaften".


Weltweite Proteste haben den Klimawandel ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt. Zahlreiche Stimmen aus der Wissenschaft fordern eine aktive Klimapolitik. Über die Wege zu einer klimafreundlichen Ressourcennutzung wird gleichwohl heftig gestritten - auch unter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern.

Der Deutsche Ethikrat wandte sich mit der Wahl des Themas einer weltweiten Debatte zu, die von großen Erwartungen an die Wissenschaft, aber auch von einem gewissen Zweifel an wissenschaftlichen Prognosen geprägt ist.

In seiner Begrüßung appellierte Peter Dabrock, der Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, an die Gäste: "Die Unterscheidung von Meinen, Glauben, Wissen hilft einer Gesellschaft, die die Klimakrise bewältigen muss, und den Wissenschaften, die dazu unverzichtbare Beiträge leisten will, zumindest zwei grundsätzliche Abwege zu identifizieren. Der eine ist eine äußere Gefahr, der andere eine innere Gefahr für die Wissenschaft." Damit skizzierte Peter Dabrock zwei Konfliktlinien, die es im Umgang mit wissenschaftlichen Erkenntnissen zu bedenken gelte. Zum einen müsse das auf wissenschaftliche Weise gewonnene Wissen gegenüber Meinen und Glauben als ein Fundament der demokratischen Verfasstheit unserer Gesellschaft verteidigt werden. Zum anderen habe sich auch die Wissenschaft gegen eine dogmatisch-ideologische Verengung zu wappnen, die aus Erklärungen universelle Sinndeutungen ableitet oder bestimmte Ansätze bereits im Voraus abtut. Die Glaubwürdigkeit von Wissenschaft sei nicht zuletzt auch ein kommunikativ anspruchsvolles Ziel. Konkret gehe es dabei um die Frage, wie eine verantwortliche und zugleich vertrauenswürdige Vermittlung wissenschaftlicher Inhalte für die verschiedenen gesellschaftlichen Adressaten aussehen kann und soll. Wenn die Wissenschaft ein wichtiger Orientierungspunkt in gesellschaftlich drängenden Fragen bleiben wolle, sei besonders angesichts der Präsenz der sozialen Medien eine an Transparenz, Partizipation und wissenschaftlicher Qualität ausgerichtete Kommunikation unverzichtbar.

Um jenes Selbstverständnis und die gesellschaftliche Funktion der Wissenschaft zu diskutieren, sind in Göttingen Vertreterinnen und Vertreter der Klimawissenschaft, Philosophie, Politikwissenschaft, Soziologie, Kommunikationswissenschaft, Rechtswissenschaft sowie Klimaaktivisten zusammengekommen.

Begleitend zur Tagung präsentierte die Künstlerin Barbara Dombrowski die Foto-Ausstellung "Tropic Ice_Dialog Between Places Affected by Climate Change". Die Fotografin hat weltweit verschiedene Orte bereist, an denen die Folgen des Klimawandels schon jetzt spürbar sind. In ihren Arbeiten lässt sie verschiedene Regionen und Menschen aufeinandertreffen, um die wechselseitigen Auswirkungen des Klimawandels aufzuzeigen und eine Brücke zwischen den Kulturen zu bauen.

Klimawissenschaften und Verantwortung
In der ersten, von Ratsmitglied Ursula Klingmüller moderierten Sektion des Tages wurden die verschiedenen wissenschaftlichen Positionen zur Verantwortung der Klimawissenschaften diskutiert. Im Mittelpunkt standen das Verhältnis von Wissenschaft und Politik sowie die Rolle von Werten und Wertungen, die der Klimaforschung und deren Rezeption zugrunde liegen. Die Mikrobiologin Antje Boetius wies zunächst darauf hin, dass sowohl die Wissenschaft als auch die Politik schon vor Jahrzehnten wichtige Anhaltspunkte für die heute evidente Tatsache hatte, dass ein hoher CO2-Gehalt in der Atmosphäre negative Folgen für den Menschen habe. Dennoch stiegen die CO2-Emissionen weiter an. Aktuellen Vorhersagen zufolge sei inzwischen mit einer jährlichen Emission von 40 Gigatonnen CO2 zu rechnen. Zudem lasse sich mit modernen Messmethoden feststellen, dass es stetig weniger Meereis gebe und das Eis immer später zurückgefriere, wodurch es dünner und brüchiger werde. Dies wiederum führe in eine "positive Rückkopplungsschleife", da sich so die Meeresoberfläche verdunkle und der Ozean mehr Wärme aufnehme, die das Eis weiter abschmelzen lasse. Damit schrumpfe der Lebensraum für viele Tiere und es drohe ein erheblicher Verlust an Lebensvielfalt. Genaue Hochrechnungen seien zwar nicht möglich, aber angesichts der indizierten Dringlichkeit könne nicht gewartet werden, bis noch bessere Zahlen oder gar vollständig sicheres Wissen vorlägen, um politisch zu handeln. Für die Wissenschaft bedeute dies, ihre Ergebnisse in möglichst verständlicher Form zu kommunizieren.

Dabei bestehe die Aufgabe der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dem Klimaforscher Hans von Storch zufolge allerdings keinesfalls darin, dem politischen Prozess Ergebnisse vorzugeben. Vielmehr sei Wissenschaft ein sozialer Prozess, der auf einem "Markt von Wissensansprüchen" Angebote machen könne, dessen Stärke aber auch in der Bereitschaft zum Irrtum liege. Trotz der Dringlichkeit zu handeln sei die Klimaforschung zu methodischer Sorgfalt und gedanklicher Offenheit verpflichtet. Auch Nachhaltigkeitsforschung müsse nachhaltig agieren und den Risiken unangemessenen Handelns im Falle eines Scheiterns der Begrenzung des Klimawandels die Opportunitätskosten gegenüberstellen, die sich durch die Vernachlässigung anderer Problemfelder ergeben könnten. Eine wechselseitige Beeinflussung von Wissenschaft und Politik, bei der sich die Wissenschaft unter den Zweckvorbehalt stellt, die Politik zu unterstützen, und die Politik sich als bloße Exekutive der Wissenschaft versteht, schade zudem der Glaubwürdigkeit beider Akteure. Die Politik verliere ihre Stärke als "demokratischer Marktplatz" politischer Auseinandersetzung und die Wissenschaft ihre Offenheit gegenüber anderen Erklärungen und Ansätzen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sollten daher ihre Rolle auf die des "ehrlichen Maklers" reduzieren und in den wissenschaftlichen Prozess eingeflossene Werte transparent machen.

Wie die Philosophin Wendy Parker in ihrem anschließenden Vortrag verdeutlichte, können Werturteile in manchen wissenschaftlichen Kontexten sogar geboten sein. Bereits die Entscheidung für ein Forschungsthema sei ein Werturteil, das sowohl notwendig als auch geduldet sei. Doch auch bei der Auswahl und Interpretation von Daten können Werturteile gefordert sein. Dies liege daran, dass verschiedene wissenschaftliche Methoden oft für verschiedene Arten von Fehlern anfällig seien und nicht immer genügend Ressourcen für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zur Verfügung stünden, alle Methoden zur Untersuchung eines Sachverhaltes parallel zu nutzen. In solchen Fällen gehöre es daher zu verantwortlicher Forschung, die praktischen Konsequenzen der verschiedenen möglichen Fehler in die Entscheidung einzubeziehen. Manche Fehler führten beispielsweise eher dazu, das Risiko bestimmter Konsequenzen zu überschätzen, während andere eher das Gegenteil bewirkten. Würden solche Wertsetzungen transparent gemacht und erklärt, würde dies der Glaubwürdigkeit von Wissenschaft keinen Abbruch tun, so Parker.

In der anschließenden Diskussion waren sich die Referierenden darin einig, dass die wissenschaftlichen Ergebnissen notwendig anhaftende Unsicherheit und Fehleranfälligkeit kein grundsätzliches Problem für den ohnehin regelmäßig auf unsicherem Wissen basierenden politischen Entscheidungsprozess sei. Es müsse jedoch darauf geachtet werden, die Unsicherheit weder herunterzuspielen, wodurch der Gesellschaft Wahlmöglichkeiten genommen würden, noch überzubetonen, was der Glaubhaftigkeit der Wissenschaft schaden könnte. Eine Erschwernis dabei sei, dass sich viele der Unsicherheiten in der Klimadebatte nicht in Wahrscheinlichkeiten ausdrücken ließen. Hier könnten jedoch alternative Sprachregelungen wie die des Weltklimarates (IPCC) beispielhaft sein.

Öffentlichkeit, Kommunikation und Regulierung
Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit sowie Fragen zu Regulierungen im Umgang mit Emissionen standen im Fokus der zweiten Tagessektion, die Volker Lipp, stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Ethikrates moderierte. Zu Beginn verdeutlichte die Kommunikationswissenschaftlerin Senja Post, wie stark die gesellschaftliche Rezeption wissenschaftlicher Ergebnisse von der jeweiligen Medienberichterstattung abhängig sei. Im Hinblick auf den Klimawandel sei etwa festzustellen, dass vor allem von Protesten mit großer Beteiligung berichtet wird. Die vermehrte Berichterstattung führe wiederum zu größerer Beteiligung und damit zu noch größerem medialen Interesse. Zudem zeigten Schlagwortrecherchen in den Archiven der meinungsführenden deutschen Printmedien, dass stärker auf Personen und Ereignisse als auf Klimapolitik und Klimawissenschaft fokussiert werde. Die Kritik, dass oft klimaskeptische Positionen zu Wort kämen, sei für die deutsche Medienlandschaft jedoch nicht haltbar. Klimaforscher, die in hohem Maße auf die Berechnung des Klimawandels vertrauten, seien in den Medien tendenziell überrepräsentiert. Zudem werde die wissenschaftliche Ungewissheit der Klimaforschung in der Berichterstattung oft nicht transparent gemacht. Es sei zudem festzustellen, dass die Transparenz mit steigender Ungewissheit eher abnimmt. Insbesondere in diesem Punkt - aber auch bei anderen Themen - müsse die Berichterstattung laut Post durchlässiger werden und stärker auf sachpolitische Fragen als auf Emotionen setzen.

Wie der Soziologe Stefan Cihan Aykut von der Universität Hamburg anschließend aufzeigte, sei die Thematik des Klimawandels jedoch von vielen anderen gesellschaftlich relevanten Themen insofern zu unterscheiden, als sie nicht in die üblichen Modelle von Aufmerksamkeitswellen öffentlicher Probleme passe. Zwar gebe es auch in Bezug auf den Klimawandel Aufmerksamkeitszyklen, jedoch bleibe die Berichterstattung konstant hoch und nehme tendenziell sogar weiter zu, während ein Thema in der Medienberichterstattung üblicherweise nach Phasen der Latenz und des Hypes auch eine Phase des relativen Declines (Nachlassens - Anm. d. A.) durchlaufe. Zudem lasse sich eine Diversifizierung in Bezug auf die öffentliche Wahrnehmung feststellen. Während die mediale Darstellung des Klimawandels als menschengemachte Umweltkatastrophe zunächst ausschließlich einem klassischen Problem-Aufriss entsprochen habe, sei vor allem die Perspektive der Emissionsminderung seit dem Protokoll von Kyoto zum Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen von 1997 sowie die Fokussierung auf die konkreten Auswirkungen des Klimawandels in der Debatte erstarkt. Auch ökonomische und gesellschaftspolitische Überlegungen seien seitdem dazugekommen. Da zukünftige Transformationen schwer zu prognostizieren seien, bedürfe es eines umfangreicheren Wissens darüber, wie gesellschaftlicher Wandel funktioniert und wie politische Instrumente angesichts seiner Dynamik interagieren.

Aus Sicht des Juristen Peter-Tobias Stoll ist die schon lange bestehende enge Verflechtung zwischen Wissenschaft und Politik hierfür unverzichtbar. Zudem gebe es ein gesellschaftliches Interesse an wissenschaftsbasierter Politik. Wissenschaftler hätten sich dabei mit der Frage zu befassen, was bewiesen oder widerlegt werden müsse, während Politik zu beantworten habe, was legitimiert und verantwortet werden müsse. "Politik kann und muss viel mehr, als sich im Bereich des wissenschaftlich Gesicherten zu bewegen", konstatierte Stoll. So sei es etwa eine politische und keine wissenschaftliche Frage, ob eine für die Politik genügende Sachgrundlage gegeben sei. Die Wissenschaft liefere jedoch nicht nur Regulierungswissen, sondern auch Regulierungsinstrumente. Das aktuelle Klimapaket schöpfe zwar nicht hinreichend aus diesem Potenzial, weise jedoch angesichts des relativ großen Anteils jener in diesem Bereich vorgesehenen Projekte, die sich mit "Lösungswissen" befassten, die diese Richtung. Nichtsdestotrotz gelte die besondere Rechtfertigungspflicht der Forschungspolitik bei der Hinwendung zu bestimmten Themen und dem Einsatz knapper Mittel auch für den Klimaschutz. Wenn die Politik in bestimmte Forschung investiert, habe dies zur Folge, dass andere Bereiche weniger beforscht werden.

Die anschließende Diskussion zeigte, dass dies auch auf Bereiche des Klimawandels zutreffe, die eigentlich für Entscheidungsprozesse relevant seien, wie etwa die schon heute sichtbaren Auswirkungen in Bezug auf Altersletalität an Hitzetagen, Extremwetterereignisse oder die Situation der Land- und Forstwirtschaft. Auch die verschiedenen Regelungsmodelle zur CO2-Reduzierung wurden diskutiert. Hierbei bestand weitgehend Einigkeit darüber, dass der Emissionshandel ein geeignetes Instrument sein kann, jedoch auch auf weitere Bereiche wie etwa Verkehr, Haushalte, Verbraucher, Landwirtschaft und Müllhalden ausgeweitet werden müsse. Eine Steuer könne zwar eventuell sogar schneller wirken, allerdings gebe es dafür weder eine globale noch eine europäische Kompetenz. Bei allen politischen Maßnahmen müssten gesellschaftliche Auswirkungen antizipiert und mitbedacht werden. Auch eine Änderung hin zu einem drastischeren Sprachgebrauch wurde diskutiert, wobei eine solche Dramatisierungsspirale jedoch nicht endlos hochgedreht werden könne. Positive Anreize zur Investition in klimaschonende Technologien nach dem Beispiel der EEG-Umlage könnten ebenso erwogen werden. Hier bestand jedoch Uneinigkeit, ob dies ein geeignetes Mittel sei, da es zwar positive Trends setzen, aber auch Ungerechtigkeiten schaffen könnte. Zudem wurde in der Diskussion deutlich, dass der Diskurs zum Klimawandel international sehr unterschiedlich geführt wird und je nach politischer Kultur, Interessenstruktur und Diskurshistorie des Landes unterschiedliche Aspekte in den Vordergrund stellt. Schon die jeweils innerhalb einer Debatte verwendeten Begriffe enthielten unterschiedliche Werte. Hieran hätten auch die Medien Anteil. Gerade klassische Medien hätten dabei weiterhin eine meinungsführende Rolle und würden trotz des Rückgriffs jüngerer Generation auf moderne Medien weiterhin intensiv genutzt. Allerdings hätten sich die Rezeptionsmodalitäten in den letzten Jahren verändert. Viele Berichte seien bereits durch Kommentarfunktion und Link-Button bewertet, wodurch die Meinung der Leser mit beeinflusst würde.

Ethische Debatte
In der dritten, von Ratsmitglied Elisabeth Gräb-Schmidt moderierten Sektion der Tagung wurde die Rolle der Ethik für die Klimadebatte diskutiert. Wie Konrad Ott von der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel in seinem Vortrag gleich zu Beginn konstatierte, könne diese nur verstanden werden, wenn man sich bewusst mache, dass es keine rein wissenschaftlichen Einsichten in politisch ausgegebene Ziele geben könne. Es gebe nur Gründe, die für oder gegen bestimmte Ziele und die Instrumente zu ihrer Erreichung sprächen. Jeder sei aufgefordert, sich mit moralisch respektablen Gründen ein Klima-Portfolio zusammenzustellen, das verschiedene Maßnahmen und Strategien enthalten kann. Dabei müsse auch die jeweilige Besorgnis konkretisiert werden. Auch müsse man sich darüber im Klaren sein, dass Modelle der Klimaökonomik viele verdeckte Werturteile enthalten. Ott sprach sich hier dafür aus, dem Standard-Preisansatz zu folgen und die Ökonomen mit der Aufgabe zu betrauen, herauszuarbeiten, wie die von der Gesellschaft gesteckten Ziele mit geringstmöglichen Opportunitätskosten erreicht werden können. Zu berücksichtigen seien dabei auch Fragen der Verteilung und der moralischen Verantwortung für die Emissionen vorangegangener Generationen. Otts persönliches Portfolio sehe die Verringerung der Treibhausgasemissionen vor, eine faire Verteilung des globalen Budgets, eine großzügige Anpassungsfinanzierung und natürliche Lösungen beim Abbau der CO2-Konzentration in der Atmosphäre (Carbon Dioxide Removal), ohne die einfallende Sonnenstrahlung technisch zu reduzieren (Solar Radiation Management).

Das theoretische Kernproblem ist laut Carl Friedrich Gethmann, Mitglied des Ethikrates, jedoch die Beantwortung der Fragen nach der Langzeitverantwortung: Können wir Verantwortung für zukünftige Menschen tragen, deren Präferenzen wir nicht kennen? Wie weit in die Zukunft reicht die Verantwortung? Haben Nahverpflichtungen Vorrang vor Fernverpflichtungen? In praktischer Hinsicht problematisch sei zudem die Mobilisierung großer Gruppen. Ein rechtlicher Ansatz sei auf internationaler Ebene schwerer zu gestalten als Marktlösungen, bei denen jedoch die Einhaltung der ausgegebenen Ziele nicht im gleichen Maße garantiert werden könne. Einen politischen Determinismus verneinte Gethmann. Nicht nur der Wissensstand sei immer unsicher, auch sei nicht klar, dass die anthropogene Erwärmung der Atmosphäre die einzige oder auch nur die größte gesellschaftliche globale Herausforderung ist, vor der die Menschheit steht. So scheine es etwa in Bezug auf Erdbeben, Meteoritenabwehr, Versorgungs- und Entsorgungsprobleme einen ebenso dringlichen Handlungsbedarf zu geben. Die Mortalitätsraten in manchen dieser Problemfelder überstiegen jene des Klimawandels aktuell sogar deutlich. Die Politik müsse viele Probleme im Weltmaßstab behandeln und dabei viele Aspekte wie etwa Gesundheit, Wohlstand und Verteilung berücksichtigen. Aus der wissenschaftlichen Erkenntnis auf einem dieser Gebiete könne somit noch kein politischer Appell folgen.

Wie die Sozialwissenschaftlerin Ulrike Felt in ihrem anschließenden Vortrag ergänzte, werde politisches Handeln, das mit Blick auf die jeweils nächste Wahl vor allem auf kurzfristige Maßnahmen setze, zudem dadurch erschwert, dass der Klimawandel erfordere, in Zeithorizonten handeln, in denen zu denken wir nicht geübt seien. Sie stellte die Frage, wie gut wir unsere Wertvorstellungen in eine mögliche Zukunft meinen transportieren zu können. Viele Abschätzungsmechanismen der letzten 30 bis 40 Jahre hätten sich als nicht haltbar herausgestellt, weil bestimmte Dimensionen nicht berücksichtigt worden waren. So sollte Plastik einst die Naturstoffe schonen, durch die es heute ersetzt werden soll, weil es zu viel Plastik in der Natur gibt. Es müsse deshalb unbedingt immer auch über die Folgen der Folgen nachgedacht werden. Dabei habe sich die Art des Nicht-Wissens durch die Methoden des Forschens verändert. Heute liege es oft im Rückübersetzungsprozess von den Labor-Computern in realweltliche Zusammenhänge. Es gehe daher neben der Verlässlichkeit von Daten auch um die Umwandlung dieser Daten in Evidenz, die bewertet und in politisches und gesellschaftliches Handeln umgesetzt werden können.

In der darauffolgenden Diskussion zeigten sich die Referenten einig darüber, dass wissenschaftliche Ergebnisse nicht zu politischem Determinismus führten und plädierten dafür, demokratische Prozesse stark zu machen. Demokratie dürfe nicht zugunsten einzelner Ziele auf bestimmten Politikfeldern riskiert werden. Eine Vorreiterrolle Deutschlands in klimapolitischen Fragen sei zu begrüßen, Deutschland könne sich eine solche Rolle aber nicht selbst zuschreiben. Das aktuelle Klimapaket der Bunderegierung sei für diese Rolle zudem nicht konsequent genug. Allerdings könne es im Optimalfall das Signal setzen, jetzt zu den Förderinstrumenten zu greifen, bevor auf negative Anreize gesetzt werde. Disruptivere politische Entscheidungen seien nur in Verbindung mit Massenprotesten vorstellbar. Dies müsse schon im Prozess der Entscheidungsfindung mit berücksichtigt werden. Des Weiteren wurden einige konkrete Maßnahmen, insbesondere das Solar Radiation Management diskutiert, das zusammen mit einem langen Dekarbonisierungsprozess eine legitime Übergangstechnik sein könnte. Kommunikationsstrategisch müsste dann jedoch berücksichtigt werden, dass dies nicht als Versprechen darauf zu verstehen sei, dass alles andere gleichbleiben könne.

Podiumsdiskussion
Diesen Gedanken schloss sich auch der Nachhaltigkeitsforscher Reinhard Loske auf dem von Ratsmitglied Stephan Kruip moderierten Abschlusspodium an. In seinem Eingangsstatement wies Loske darauf hin, dass es immer noch ein Bevölkerungs- und Lifestyletabu und die damit verbundene Hoffnung gebe, alle Probleme könnten unter Zuhilfenahme neuer Techniken gelöst werden. Der Einfluss des Menschen auf das Klima bzw. die Umwelt werde jedoch nicht nur von der Technologie, sondern vor allem von der Größe der Bevölkerung, dem Lebensstil und der sozialen Praxis determiniert. Zudem stellte Loske infrage, dass Demokratie in gleicher Weise dafür geeignet sei, langfristige Ziele in Gegenwartshandeln einzubeziehen, wie kurzfristige Interessen abzugleichen. "Demokratie, so wie sie jetzt ist, mit ihrer immanenten Zukunftsvergessenheit", sei "in hohem Maße renovierungsbedürftig".

Der Ökonom Nils aus dem Moore berichtete, dass er innerhalb der klimapolitischen Debatte eine Schwerpunktverschiebung beobachte, die sozialwissenschaftliche und damit auch ökonomische Komponenten stärker betone. Dies verdeutliche, dass schon genug Wissen akkumuliert sei, um zu verstehen, dass gehandelt werden muss. Ökonomen könnten dabei helfen, das mögliche Handlungsspektrum und die damit verbundenen ökonomischen Effekte aufzuzeigen. So könnten etwa intergenerationale Verteilungseffekte berechnet werden. Die Höhe der CO2-Bepreisung führte zu sehr unterschiedlichen Verteilungen, wobei ein hoher CO2-Preis keineswegs notwendig eine soziale Schieflage befördern müsse, da die über Steuern und Emissionshandel eigenommenen Gelder vom Staat rückverteilt werden könnten, wodurch nur der Einkommens-, nicht aber der Substitutionseffekt aufgehoben würde. Welches Preisniveau schließlich gewählt wird, sei jedoch eine politische Entscheidung.

Die Hauptorganisatorin der deutschen "Fridays for Future"-Bewegung, Luisa Neubauer, betonte in ihrem Eingangsstatement, dass wir uns nicht in einer Erkenntniskrise befänden. Vielmehr liege das Problem darin, dass wir uns die Folgen individuellen und kollektiven Handelns nicht mehr vorstellen könnten. Wir seien verpflichtet, uns vorzustellen, was fast unvorstellbar ist, "dass wir den Planeten gerade in einer solchen Weise terrorisieren, auch die Ökosysteme und die menschlichen Grundlagen, dass wir langfristig nicht mehr von der Frage des Lebens der Menschen sprechen, sondern vom Überleben der Menschen und der Arten, die gerade in einer nie dagewesenen Geschwindigkeit aussterben". Deshalb sei es eine Minimalanforderung, dass die Politik auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse, konkret des Paris-Abkommens und IPCCs zu gestalten sei und im Rahmen demokratischer Aushandlungsprozesse die geeigneten Instrumente zur Erreichung der festgelegten Ziele diskutiert werden könnten.

In der für das Publikum geöffneten Diskussion auf dem Abschlusspodium warb vor allem aus dem Moore für das Instrument der CO2-Bepreisung und wies darauf hin, dass die Atmosphäre nur einen Preis habe, wenn man ihr einen solchen zuweise. Selbstregulierungsprozesse könnten nicht erwartet werden. Dass die bereits bestehende Bepreisung nicht die gewünschten Effekte hat, liege am derzeit negativen Preisniveau. Es sei jedoch eine große politische Herausforderung, die Methoden der CO2-Bepreisung nicht nur zu verstehen, sondern auch der Wählerschaft verständlich zu machen, der in Deutschland oft die ökonomischen Kenntnisse fehlten. Letzteres führe schließlich oft dazu, dass möglicherweise weniger wirksame Instrumente wie das Ordnungsrecht oder Verbote bevorzugt würden, die zudem mit höheren Durchsetzungshürden verbunden wären. Loske und Neubauer hielten jedoch dagegen, dass die gesellschaftliche Akzeptanz von Verboten in Bezug auf den Klimawandel besonders groß sei, weil sie zum einen ein wachsendes Bewusstsein für deren Notwendigkeit erzeugten und zum anderen eine damit verbundene Entlastungswirkung für die Menschen zu erwarten sei.

Die im angrenzenden Ausland praktizierte Nutzung von Kernkraftwerken als Übergangslösung wurde kritisch bewertet. Aus dem Moore wies in diesem Zusammenhang noch einmal darauf hin, dass ökonomische Effizienz keineswegs bereits ein hinreichendes Kriterium für die Wahl eines geeigneten Instruments sei, aber sehr wohl eines, das in politische Entscheidungen einbezogen werden müsse. Neubauer bemängelte, dass es aktuell nicht selbstverständlich sei, dass wissenschaftliche Erkenntnisse in Entscheidungsprozesse einflössen. Dies liege vor allem auch an der politikinhärenten Diskontierung zukünftiger Entwicklungen. Politik müsse vorausschauender agieren und auch zu erwartende soziale Entwicklungen mit einbeziehen, forderte Loske. Die Etablierung direktdemokratischer partizipativer Elemente und langzeitorientierter Institutionen als Ergänzung zum parlamentarischen System könne hier Abhilfe schaffen. Allen Podiumsteilnehmern ist bewusst, dass man mit Klimaschutzmaßnahmen nicht allen Ungerechtigkeiten begegnen könne. Dies dürfe jedoch nicht als Ausrede verwendet werden. Politik müsse wieder lernen, mutige Entscheidungen zu treffen, forderte Loske. Dies sei auch durch die Schutzpflicht des Staates qua Legitimation durch Wahlen abgedeckt. Inkrementalismus (Politikstil zurückhaltenden Reformierens - Anm. d. A.) und Gradualismus (ein auf allmähliche Änderung gerichtetes Handeln - Anm. d. A.) führten in Fragen des Klimawandels nicht weiter. Neubauer verwies hier auch auf die Verantwortung für Menschen außerhalb der Landesgrenzen. Wenn ein wohlhabendes Land wie Deutschland, dessen Wohlstand auch auf der Ausbeutung des globalen Südens beruhe, die internationalen Klimaabkommen nicht einhält, könnten andere Länder dies als Ausrede nutzen, dies ebenfalls nicht zu tun. Dies gelte es zu vermeiden. Zudem müsse darauf geachtet werden, dass Lösungen für das Klimaproblem auch für weniger wohlhabende Länder anschlussfähig sind. Die Berücksichtigung all dieser Faktoren stelle die Politik zwar auch vor Kommunikationsherausforderungen, aber Loske zufolge könne die Politik auch hoch komplexe Themen ansprechen, ohne Nachteile zu befürchten, sofern sie gute Argumente liefere. Eine wissenschaftsbasierte, moralisch motivierte und gleichsam ökonomisch sinnvolle politische Entscheidung habe aus sich heraus eine große Strahlkraft.

Im Schlusswort betonte der Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, Peter Dabrock, schließlich noch einmal die wechselseitige Bestärkung von Wissenschaft und Engagement. Die Veranstaltung habe gezeigt, dass das Wissen zwar vorläufig, aber dennoch hinreichend sei, um handlungswirksam zu werden. Man müsse "Fragen der großen Vision kombinieren und verbinden mit sehr detailliertem Wissen" und "einen Weg finden, in dem Freiheit und Wahrheitssuche keinen Gegensatz bilden". Die Wissenschaft könne Wege zu einer klimafreundlichen Politik aufzeigen, aber die Rahmenbedingungen zu schaffen, sei Aufgabe der Politik. Die Gesellschaft stehe wiederum in der Verantwortung, die politische Kultur zum Thema Klimawandel mitzugestalten und Umsetzungsstrategien zu befördern. Dabrock riet insgesamt zu einer Versachlichung der Debatte. Die Wissenschaft sei zweifelsohne ein wichtiger Multiplikator in gesellschaftspolitischen Fragen, zugleich müsse aber der Freiheit und Komplexität wissenschaftlicher Forschung sowie der Revidierbarkeit der Forschungsergebnisse Rechnung getragen werden. Erst die grundsätzliche Offenheit und Diskursfähigkeit der Wissenschaft ermögliche eine glaubwürdige wissenschaftliche Beratung von Politik und Gesellschaft.

INFO
Ausführliche Informationen zur Herbsttagung 2019 finden sich unter
https://www.ethikrat.org/weitere-veranstaltungen/meinen-glauben-wissen-klimawandel-und-die-ethik-der-wissenschaften/.

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Quelle:
Infobrief Nr. 26 - April 2020 - 01/20, Seite 6 - 11
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Mai 2020

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