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ETHIK/1330: Assistierter Suizid - Diskussion auf der Vollversammlung der Schleswig-Holsteinischen Ärztekammer am 1.9.2021 (SHÄB)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 10, Oktober 2021

Ein Team für Sterbewillige

von Dirk Schnack


KAMMERVERSAMMLUNG. Es war die erste Kammerversammlung seit fast einem Jahr in Präsenz - ein Onlineformat wäre für das diskursive Thema Sterbehilfe auch nicht optimal gewesen. Auf die Diskussion wirkte sich die Präsenz der Kammerdelegierten in der Akademie der Ärztekammer Schleswig-Holstein positiv aus.


Für viele Mitglieder der Kammerversammlung war die Veranstaltung am 1. September ein willkommenes Wiedersehen mit anderen Delegierten, Funktionsträgern und Gästen der Selbstverwaltung. Für Gast Prof. Dr. phil. Claudia Bozzaro dagegen war es eine der ersten größeren Präsenzveranstaltungen im Land überhaupt, nachdem sie im vergangenen Jahr inmitten der Pandemie aus Freiburg an die Kieler Christian-Albrechts-Universität gekommen war, um den Arbeitsbereich Medizinethik am Institut für experimentelle Medizin zu leiten. Bozzaro machte keinen Hehl daraus, wie willkommen ihr auch deshalb die Einladung zum Impulsreferat war. Sie lieferte den Input für eine anschließende Diskussion, die von den Kammerdelegierten mit viel Inbrunst geführt wurde.

Kurz zur jüngsten Vorgeschichte beim Thema assistierter Suizid: Nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes im Februar 2020 umfasst das allgemeine Persönlichkeitsrecht als Ausdruck persönlicher Autonomie auch das Recht auf selbstbestimmtes Sterben. "Dieses Recht schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen, hierbei bei Dritten Hilfe zu suchen und, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen", wie Präsident Prof. Henrik Herrmann einleitend erläuterte. Er stellte auch klar: "Eine Verpflichtung, insbesondere von Ärztinnen und Ärzten, zur Suizidhilfe darf es nicht geben."

Der Deutsche Ärztetag hatte daraufhin die berufsrechtlichen Regelungen für Ärzte zur Suizidhilfe geändert. Der Satz "Sie (Ärztinnen und Ärzte) dürfen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten" wurde aus der Musterberufsordnung gestrichen, weil er mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht mehr aufrecht zu erhalten war. Die vom Ärztetag beschlossenen Eckpunkte sehen vor, dass es keine Verpflichtung zum assistierten Suizid geben dürfe, dass Ärzte keinem Strafbarkeitsrisiko ausgesetzt sein dürften und es keine Tötung auf Verlangen durch Ärzte geben werde.

Viele Folgen für die Gesellschaft sind damit aber noch nicht klar umrissen. Herrmann nannte als Beispiele:

• Wie frei, unbeeinflusst und ernsthaft ist dieser Wille beim Suizidwilligen?

• Sind entscheidungserhebliche Gesichtspunkte und Handlungsalternativen besprochen?

• Wie konkret ist der Weg?
Wie umfangreich die teils grundsätzlichen, teils sehr konkreten noch zu klärenden Themenkomplexe sind, machte anschließend auch Bozzaro mit folgenden Fragen deutlich:

• Welche Medizin wird dem Sterbewilligen verabreicht, müssen Betten für Sterbewillige bereitgehalten werden, wer übernimmt die Suizid-Assistenz, welche Vorgänge müssen wie dokumentiert werden?

• Welche Beratungs- und Begleitungsmöglichkeiten müssen für Ärzte geschaffen werden, an die der Wunsch nach assistiertem Suizid herangetragen wird?

• Wie gehen wir mit Extremfällen um? Erfahrungen aus anderen Ländern zeigen, wie vielfältig dieses Spektrum sein kann, zum Beispiel der Suizidwunsch von Minderjährigen, von psychisch Kranken, von Menschen in Sicherheitsverwahrung oder von Paaren, die sich aufgrund der unheilbaren Krankheit eines Partners beide für den assistierten Suizid entscheiden.

• Wie geht unsere Gesellschaft mit dem Thema Alter und Einsamkeit sowie mit der Annahme um, man falle anderen zur Last? Weil Suizidwünsche zum Teil aus diesen Gründen entstehen, stellt sich aus Sicht Bozzaros die Frage, welche Konsequenzen unsere Gesellschaft daraus für die Versorgung und Betreuung in Alten- und Pflegeeinrichtungen zieht.

Die zahlreichen noch offenen Fragen betrachtet Bozzaro aber auch als Chance, die Weichen für eine "gute Praxis" zu stellen. Dafür sind aus ihrer Sicht Monitoring und Evaluation unerlässlich. Derzeit gebe es in Deutschland nur eine "dünne Datenlage". Um das zu verbessern, appellierte Bozzaro an die Ärzte: "Wir sind auf die Zusammenarbeit mit Ihnen angewiesen."

Eine, die auf jeden Fall mit ihr kooperieren möchte, ist die hausärztliche Internistin Dr. Regina Sternfeldt aus Ahrensburg. Sie beschrieb ihre Gefühle von regelmäßigen Besuchen in Pflegeheimen, bei denen sie Patienten betreut, die aufgrund eines Leidens verzweifelt sind und im assistierten Suizid den einzigen Ausweg sehen. "Da blutet mir das Herz. Diesen Menschen Hilfe zu geben, halte ich auch für unsere Aufgabe", sagte Sternfeldt in der Diskussion über die Rolle der Ärzte beim assistierten Suizid. Auch Dr. Daniel Lohmann aus Preetz stellte fest: "Ich reklamiere das als unser Thema." Ähnlich äußerten sich zum Beispiel Dr. Frank Niebuhr aus Lübeck und Dr. Hanna Stoba aus Kiel. Nach intensivem Austausch herrschte Konsens: Es ist eine ärztliche Aufgabe, sich mit diesem Thema zu beschäftigen, wenn es um kranke Menschen geht.

Wo aber ist die Grenze zu ziehen, ab der Ärzte nicht mehr die Ansprechpartner für den Wunsch nach einem assistierten Suizid sind? Vorstandsmitglied Mark Weinhonig fragte: "Warum sollen wir es uns allein aufbürden, wenn es um Menschen geht, die ihr Leben als nicht mehr lebenswert erachten?" Für diese Gruppe sieht er Fragen des begleiteten Suizids in einem interprofessionellen Team richtig angesiedelt, in das sich Ärzte einbringen. Dr. Joachim Rümmelein aus Flensburg wünschte sich ebenfalls Begleitung. Auch Dr. Norbert Jaeger zog eine Grenze und betonte zugleich die gesellschaftliche Verantwortung, wenn es um nicht kranke Menschen geht. Bozzaro zeigte sich ebenfalls "etwas verwundert, dass es in Deutschland fast ausgemachte Sache zu sein scheint, dass das in den ärztlichen Bereich gehört". Sie verwies darauf, dass sich schließlich auch Juristen, Ethiker und andere Professionen profund mit dem Thema auseinandersetzen und andere Länder zu Lösungen finden, bei denen Ärzte nicht allein in der Verantwortung stehen.

Präsident Prof. Henrik Herrmann sah sich in dem rund 90-minütigen Austausch in seiner Wahrnehmung bestätigt, dass es für den assistierten Suizid nicht eine Lösung geben wird, die alle Fragen beantworten kann, und vor allem, dass die ärztliche Entscheidung zu diesem Thema immer individuell ausfallen wird. Wie unterschiedlich die Auslegungen sein können, zeigte sich auch in der Diskussion über eine Änderung der Berufsordnung zu diesem Thema. Zur Diskussion steht der Paragraf 16 der Berufsordnung. Zum Vorschlag "Ärztinnen und Ärzte haben Sterbenden unter Wahrung ihrer Würde und unter Achtung ihres Willens beizustehen. Es ist ihnen verboten, Patientinnen und Patienten auf deren Verlangen zu töten", gab es bereits intensive Diskussionen. Abgestimmt wird darüber in der Novembersitzung der Kammerversammlung.

Herrmann ging in seinem Bericht zur Lage auf eine Reihe weiterer Themen ein. Eine davon ist die Positionierung der Ärztekammer zu relevanten Handlungsfeldern der Gesundheitsversorgung. Herrmann kündigte an, dass die pandemiebedingten Verzögerungen etwa der Positionierungen zur Primärversorgung, zur Digitalisierung oder zu Antiobiotikaresistenzen überwunden werden sollen und die Kammer ihre Bemühungen, hierzu eine Diskussionsplattform für alle Beteiligten zu stellen, forcieren wird. Herrmann erinnerte in diesem Zusammenhang daran, dass der Vorstand u.a. beschlossen hat, die Ärztekammer sichtbarer und politischer zu machen. Dazu gehöre auch, Themen "transparent und klarer anzusprechen" und Versorgung mitzugestalten. Dass bei heiklen Themen Emotionen und Widerspruch erzeugt werden, ist für Herrmann nachvollziehbar und zeigt, "wie lebendig ärztliche Selbstverwaltung ist". Zu diesem Widerspruch gehört für ihn auch, sich klar von den Kollegen abzugrenzen, die nicht nur eine andere Haltung zur Corona-Pandemie haben, sondern die Ausübung der ärztlichen Profession durch ihre persönliche Meinung beeinflussen, etwa indem sie Schutzmaßnahmen und Infektiosität negieren und damit die Patientensicherheit gefährden. Diese zahlenmäßig eher kleine Gruppe war in den vergangenen Monaten zwar relativ laut und erhielt auch viel mediale Aufmerksamkeit. Die große Mehrheit aber war anderer Meinung, klärte auf und impfte. Herrmann sprach für eine große Mehrheit der Kollegen, als er noch einmal betonte: "Zwar steigen die Inzidenzzahlen wieder an, die Vorteile der Impfung machen sich jetzt jedoch bemerkbar."


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Info

Die Ethikkommissionen bei der Ärztekammer Schleswig-Holstein sollen sich künftig nicht mehr mit Anträgen zu Arzneimittelstudien befassen. In diese Richtung deutet ein in der Kammerversammlung abgefragtes Meinungsbild. Schleswig-Holstein würde damit den Entscheidungen einiger anderer Landeskammern, die sich ebenfalls aus diesem Bereich zurückgezogen haben, folgen. Hintergrund sind neue europarechtliche Bestimmungen, wonach die Verteilung der Anträge zu Arzneimittelstudien an die Kommissionen europaweit erfolgt und damit kein regionaler Bezug mehr besteht. Damit gehen engere Fristen und höhere Anforderungen an die Geschäftsstelle und die Kommission einher. Die Kammerversammlung entschied sich bei drei Enthaltungen dagegen. Die jeweils neunköpfigen interprofessionell besetzten Ethikkommissionen bei der Ärztekammer bestehen seit den 1970er Jahren.
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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 10, Oktober 2021
74. Jahrgang, Seite 14-16
Herausgeber: Ärztekammer Schleswig-Holstein
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
Telefon: 04551/803-0, Fax: 04551/803-101
E-Mail: info@aeksh.de
Internet: www.aeksh.de
 
Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 26. Oktober 2021

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