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FORSCHUNG/2474: Epigenetik - An den Schaltern des Erbguts (MaxPlanckForschung)


MaxPlanckForschung - I.2011
Das Wissenschaftsmagazin der Max-Planck-Gesellschaft

An den Schaltern des Erbguts

Von Peter Spork


Das Forschungsfeld Epigenetik wächst rasant. Warum, das verdeutlichte jetzt eine Tagung am Max-Planck-Institut für Immunbiologie in Freiburg. Die neue Wissenschaft erkundet dauerhafte biochemische Schalter für die Genaktivität. Diese Schalter verleihen einer Zelle Identität und Gedächtnis. Dank ihnen können sich Organismen entwickeln und an die Umwelt anpassen.


Ganz schön unterschiedlich sind sie, die Typen, die Shelley Berger da vorstellt: "Die eine ist eine klassische Befehlsempfängerin", erklärt die Zellbiologin, "die zweite sagt ihr, was zu tun ist." Und die dritte ist nicht nur die Chefin, sie lebt auch viel länger als die anderen und ist als Einzige fruchtbar. Solche Unterschiede mögen vorkommen. Erstaunlich ist aber: Die drei Typen haben identische Genome. Die quirlige Referentin von der University of Pennsylvania, USA, stellt indes keine Studie mit eineiigen Drillingen oder geklonten Zuchttieren vor. Sie beschreibt natürliche Vorgänge bei der Florida-Rossameise Camponotus floridanus. Die drei Kasten dieser Insekten besitzen sowohl vom Verhalten her als auch körperlich gravierende Unterschiede. Doch diese sind noch nicht einmal im Ansatz genetisch fixiert.

Aber was sonst kann Körper und Geist so stark verändern? Es sind Strukturen am Erbgut, die zwar die Gene selbst unberührt lassen, aber festlegen, welche von ihnen eine Körperzelle benutzen kann und welche nicht. Diese Strukturen definieren mittels eines Genaktivierungsprogramms Bau und Funktion der Zelle. Berger zeigt, was das bei den Ameisen bewirkt: So gebe es systematische nicht-genetische Unterschiede am Erbgut von Gehirnzellen, die dafür sorgen, dass die untergeordneten Arbeiterinnen sensibler als ihre dominanten Geschwister auf deren unterdrückende Botenstoffe reagieren.


Aufbruchsstimmung in der Epigenetik

Mit der ausgeklügelten Genregulationsmaschinerie, die dahinter steckt, beschäftigt sich das Forschungsgebiet der Epigenetik. Kaum eine Wissenschaft entwickelt sich derzeit so rasant wie dieser neue Zweig der Genetik. Und das aus gutem Grund: Epigenetische Strukturen beeinflussen praktisch jedes Lebewesen, sie sind Gedächtnis und Identitätsstifter jeder Zelle. Und ihr Einfluss reicht auch bei uns Menschen in essenzielle Lebensbereiche hinein.


Auch Erworbenes kann vererbt werden

Noch vor fünf Jahren konnten mit dem Begriff Epigenetik selbst manche Biologen nichts anfangen. Heute kennen ihn sogar Ärzte, Erzieher, Psychologen und Politiker. Die griechische Vorsilbe "Epi" bedeutet so viel wie neben, zusätzlich oder über. Tatsächlich ist die Epigenetik eine Art "Zusatzgenetik", die sich per Definition mit allem beschäftigt, was eine Zelle außer dem Basencode der DNA noch an bleibenden Informationen an ihre Tochterzellen vererbt. Einmal als Reaktion auf einen äußeren Reiz - etwa ein Entwicklungssignal - gesetzt, bestimmen sogenannte epigenetische Schalter zum Beispiel, ob eine Zelle zum Nerven-, Haut- oder Lebergewebe gehört.

Die Gesamtheit der Schalter bildet das Epigenom der Zelle, wobei jeder Zelltyp sein spezifisches Epigenom besitzt und bei Zellteilungen weitergibt. Über eine Veränderung ihres Epigenoms reagieren Zellen aber auch auf die Umwelt. Sie können sich sozusagen an frühere Zustände, die durch Reize von außen erzwungen waren, erinnern und diese speichern. So kann ein frühkindliches Trauma bei Menschen eine bleibende Umprogrammierung von Gehirnzellen auslösen und sie Jahrzehnte später anfällig für Depressionen machen. Oder eine Überernährung im Mutterleib kann Stoffwechselzellen so verändern, dass Menschen im Alter eher als andere zu Typ-2-Diabetes neigen.

Ihren Zuhörern muss Shelley Berger diese Dinge nicht erklären. Sie sind vom Fach. Anfang Dezember 2010 sprach sie auf dem ersten "Max Planck Freiburg Epigenetics Meeting" vor mehr als 100 Zuhörern aus aller Welt. Hier am Max-Planck-Institut für Immunbiologie und Epigenetik fanden in drei Tagen alleine 40 Vorträge statt, nicht wenige davon präsentiert von weltbekannten Fachleuten wie Phil Avner, Geneviève Almouzni, Amanda Fisher, Edith Heard, Barbara Meyer, Steve Henikoff, Gunter Reuter, Wolf Reik, Yang Shi, Brad Bernstein, Martin Vingron, Danny Reinberg, Roland Schüle, Susan Gasser und Meinrad Busslinger. Nach jedem einzelnen Vortrag haben die Experten ungewöhnlich ausgiebig diskutiert. Es waren zumeist Diskussionen über biochemische Details. Auf welch spannende Fragen sich die Epigenetik letztlich zuspitzt, machten eher die Gespräche am Rande klar: Die Forscher überlegten beim Mittagessen, ob der Tofu im vegetarischen Gericht auf epigenetischem Weg vor Krebs schützt. Und sie fragten sich beim Dinner, ob eine Substanz namens Resveratrol im Rotwein eine lebensverlängernde Wirkung hat, weil sie zumindest im Reagenzglas die Zellalterung epigenetisch bremsen kann.


Epigenetik beeinflusst viele Erkrankungen

Dieser Unterschied - knallharte Molekularbiologie auf der einen, mögliche Lösungen für große Menschheitsfragen auf der anderen Seite - beschreibt die Faszination, die von der neuen Disziplin ausgeht. Diese Wissenschaft ist unerhört kompliziert, aber sie ist auch auf dem besten Weg, das Leben der Menschen dereinst einfacher und besser zu machen. "Es besteht eine direkte Verbindung vom Körperstoffwechsel zur Epigenetik der Stoffwechselzellen", weiß Paolo Sassone-Corsi von der University of California in Irvine, USA. Er untersucht ein anschauliches Beispiel für diese Verbindung: die innere Uhr.

In jeder Zelle ticke eine Uhr, sagt er, und diese habe das Erbgut fest im Griff: "Mindestens 15 Prozent der Gene einer Zelle oszillieren in ihrer Aktivität im 24-Stunden-Rhythmus." Er selbst hat mit seinem Team gerade ein epigenetisch aktives Enzym entdeckt, das dieses Zeitgefühl der Zellen in ein Genaktivierungsprogramm übersetzt. Es heißt MLL1, bindet an rhythmisch auftretende Proteine und beeinflusst, zu welcher Tageszeit welche Gene abgelesen werden können und welche nicht. Inzwischen wisse man, so Sassone-Corsi, dass Störungen der inneren Uhr - wie sie etwa durch regelmäßige Schichtarbeit auftreten - Diabetes und viele andere Stoffwechselkrankheiten begünstigen.

So würden genetisch identische und mit der gleichen Nahrung gefütterte Mäuse entweder krank oder blieben gesund, je nachdem, ob sie das Futter zur passenden Zeit bekommen oder nicht. Vieles spreche dafür, dass solche Störungen das "epigenetische Gedächtnis" der Zellen verändern und so den ganzen Körper aus dem Gleichgewicht bringen und krankheitsanfällig machen. "Epigenetik greift in sehr viele Bereiche ein. Das fängt bei der Ernährung an und hört beim Trauma auf", weiß auch Herbert Jäckle vom Göttinger MPI für biophysikalische Chemie.


Neue Therapieansätze für Belastungsstörung

So interessiere sich mittlerweile auch das Verteidigungsministerium für die epigenetische Erklärung einer posttraumatischen Belastungsstörung. "Immer mehr Soldaten kehren mit diesem Leiden aus Auslandseinsätzen zurück." Man brauche dringend neue Behandlungsansätze, und die könne vielleicht die Epigenetik liefern. Nicht zuletzt wegen solcher Erkenntnisse sei die Zeit reif, die Disziplin offensiv zu fördern. Deshalb unterstütze die Max-Planck-Gesellschaft das Freiburger Meeting und habe die Erweiterung und damit verbunden die Umbenennung des dortigen Max-Planck-Instituts für Immunbiologie in eines für Immunbiologie und Epigenetik beschlossen.

Der neue Name wurde am Vortag der Tagung bekannt gegeben - ein Moment, der besser nicht hätte passen können und auf den Ko-Organisator Thomas Jenuwein lange gewartet hatte. Schon 2008, als der Epigenetik-Pionier Direktor am Freiburger Max-Planck-Institut wurde, sagte er: "Wir stehen an der Schwelle zu einem neuen Denken in der Biologie, an der Schwelle zur postgenomischen Gesellschaft." Fünf Jahrzehnte habe das glorreiche Zeitalter der Genetik gedauert: "Es begann 1953 mit der Publikation der DNA-Struktur und endete mit der Veröffentlichung der nahezu vollständigen Sequenz einer menschlichen DNA im Jahr 2003." Dabei möchte Jenuwein nun ganz und gar nicht die herausragende Leistung der Genetiker schmälern, ihm geht es darum, auf deren Ergebnissen aufbauend die Biologie voranzutreiben und zu klären, was jenseits der Gene vererbt wird.

Es gibt unterschiedliche epigenetische Schaltersysteme: Werden zum Beispiel Methylgruppen direkt an die DNA gebunden (DNA-Methylierung), führt das meist zu einer Inaktivierung des betroffenen Gens. Ungleich variabler sind die Veränderungen an den Histonen. Histone sind Proteine, um die herum - ähnlich wie bei einer Kabeltrommel - die DNA gewickelt ist. Wie fest die DNA bindet und welche Enzyme noch Zugang zum abzulesenden Gen bekommen, hängt dabei von der biochemischen Struktur der Histone ab. Indem die Zelle verschiedene chemische Anhängsel - Acetyl-, Methyl-, Ubiquitin- oder Phosphatgruppen - an verschiedenen Stellen der Histone anheftet oder wieder entfernt, entscheidet sie unter anderem darüber, ob die Basensequenz einzelner Gene in Proteine übersetzt wird oder nicht. An die Kabeltrommeln, Nukleosomen genannt, docken zudem, je nach ihrer Beschaffenheit, Proteine mit regulatorischen Funktionen an. Und das gesamte, Chromatin genannte DNA-Protein-Gemisch kann - eine bestimmte Histonmodifikation vorausgesetzt - an die Membran des Zellkerns andocken, was ebenfalls die Aktivierbarkeit einzelner Gene beeinflusst.


Veränderungen an Histonen regulieren Gen-Aktivität

Mittlerweile kenne man mehr als 50 Histonmodifikationen, sagt Robert Schneider, doch "das dürften bei Weitem noch nicht alle sein." Schneider, der schon 2004 eine Epigenetik-Gruppe am Freiburger Max-Planck-Institut übernahm, präsentiert auf der Tagung eine bislang unbekannte chemische Veränderung im Nukleosomen-Zentrum. Bisher galten vor allem die sogenannten Termini der Histone, die wie Schwänze aus dem Nukleosom herausragen, als Hauptansatzpunkt für Veränderungen. Doch anscheinend müssen die Experten umdenken: "Die von uns entdeckte Histonmodifikation öffnet vermutlich ein Fenster, das Enzymen Zugang zu einer DNA-Bindungsstelle bietet", erklärt Schneider. Entdeckungen wie diese könnten sogar im Kampf gegen schwer behandelbare Krankheiten helfen, betont der Epigenetiker.

Längst sei klar, dass Krebs und viele andere Leiden auch mit falsch regulierten Epigenomen zu tun hätten. Mit jedem neu gefundenen epigenetischen Schalter halte man folglich ein potenzielles Angriffsziel für Medikamente der Zukunft in Händen. Denn anders als Genmutationen lassen sich falsch umgelegte epigenetische Schalter theoretisch zurücklegen. Gerade die Krebsforschung setzt deshalb große Hoffnungen auf die neue Wissenschaft - vorausgesetzt, die Epigenetiker klären weitere Grundlagen auf. Dabei dürfte ein neues experimentelles Modellsystem helfen, mit dem Herbert Jäckle die Welt der Histonmodifikationen demnächst systematisieren möchte: "Der Begriff Histon-Code will ja nur sagen, dass bestimmte Markierungen an den Histonen in bestimmten Kombinationen bestimmte Dinge bewirken. Und genau das wollen wir jetzt testen."

In seinem Aufsehen erregenden Hauptvortrag präsentiert Jäckle neueste Resultate an der Fruchtfliege Drosophila. Für die Produktion der Histone sind im Genom etliche, bei höheren Organismen bis zu jeweils Hunderte Genkopien abgelegt. Bislang schien es daher unmöglich, diese Genkopien auszuschalten und durch gentechnisch veränderte Histonvarianten zu ersetzen. Das Team um Jäckle hat sämtliche Histon-Gene der Fliegen entfernt, was dazu führt, dass die Tiere nach der vierzehnten Zellteilung absterben. Nach dem Einführen einer kritischen Zahl von Genkopien sind die Fliegen wieder überlebens- und fortpflanzungsfähig. Im nächsten Schritt möchten die Göttinger den Tieren nun gezielt Histon-Gene zurückgeben, die so modifiziert wurden, dass ihnen beispielsweise Andockstellen für chemische Gruppen fehlen. Bestimmte Modifikationen an den Histonen ließen sich somit verhindern: "Wir können damit den Histon-Code Stück für Stück durcharbeiten, um die Frage zu klären, welchen biologischen Effekt welche Histonmarkierung hat", sagt Jäckle.


RNA-Schnipsel schalten Gene stumm

Ein weiteres wichtiges epigenetisches Schaltersystem sind die nicht-kodierenden RNAs, kurz ncRNAs. Genau jene Abschnitte der DNA, die Genetiker früher für funktionslos hielten und despektierlich als "Müll-DNA" bezeichneten, kodieren für diesen RNA-Schnipsel. Es sind quasi die etwas zu kurz geratenen Geschwister der Boten-RNAs - und eben beileibe kein Müll. Anders als die Boten-RNAs enthalten sie aber keine Baupläne für Proteine. Im Gegenteil: Eine ihrer Aufgaben ist es, jene Boten-RNAs aus dem Verkehr zu ziehen, deren Basencode mit dem ihren übereinstimmt. Das Transkript kann somit nicht mehr in ein Protein umgesetzt werden, die Wirkung eines Gens wird damit abgeschwächt bzw. ganz stumm geschaltet. RNA-Interferenz nennt man dieses Prinzip, dessen Entdeckung 2006 mit dem Medizin-Nobelpreis geehrt wurde. Fast wöchentlich erscheinen mittlerweile neue Studien, die belegen, wie wichtig diese Prozesse zum Beispiel bei der Prävention oder Entstehung von Krebs sind.

Über eine weitere Aufgabe der ncRNAs berichtet in Freiburg Ingrid Grummt vom Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg. Sie entdeckte ncRNAs, die sich in der Nähe eines Gens an einen zu ihrer Basenfolge passenden DNA-Strang anlagern und sich dabei regelrecht in die DNA-Doppelhelix einflechten. Dadurch entsteht eine Dreifachhelix. An diese Struktur binden wiederum Enzyme, die eine Methylgruppe direkt an die DNA heften, was Gene stumm schaltet. Da über die Hälfte des menschlichen Erbguts in ncRNA übersetzt werden kann, vermutet Grummt, einen verbreiteten Mechanismus gefunden zu haben: "Es ist durchaus denkbar, dass für alle Gene, die zeitweise stillgelegt werden, passgenaue ncRNAs vorhanden sind." Keine Frage: Unter den Epigenetikern herrscht Goldgräberstimmung.

"Unser Forschungsgebiet wird im Moment immer unübersichtlicher und komplizierter", sagt deshalb auch Renato Paro vom Department für Biosysteme der ETH Zürich. Sein Kollege Peter Becker von der Ludwig-Maximilians-Universität in München kommentiert ähnlich: "Je mehr ich forsche, desto weniger verstehe ich." Er referiert über ein Problem all jener Lebewesen, die ihr Geschlecht per Geschlechtschromosom festlegen. Sie müssen für eine ausgeglichene Bilanz der Genaktivität sorgen. So haben zum Beispiel bei Menschen Frauen im Vergleich zu Männern zwei X-Chromosomen. Ohne Kompensation wären die dort beheimateten Gene bei den Frauen doppelt so aktiv. Deshalb wird ein X-Chromosom in allen weiblichen Zellen epigenetisch stumm geschaltet.

"Früher dachte man, das machen alle Organismen ähnlich", sagt Asifa Akhtar, Leiterin der Abteilung für Chromatinregulation am Freiburger Max-Planck-Institut. Doch der epigenetische Werkzeugkasten ist viel zu variabel, als dass die Natur nicht auch andere Lösungen gefunden hätte. "Drosophila macht zum Beispiel das Gegenteil: Dort wird die Aktivität des X-Chromosoms beim Männchen annähernd um Faktor zwei verstärkt", erklärt Akhtar. Sie untersucht Proteine, die an dieser Regulation beteiligt sind, aber auch in der menschlichen Epigenetik mitmischen.


Immunbiologie und Epigenetik im Wechsel

Eines ihrer Ziele ist der Vergleich der Epigenetik von Mensch und Fliege. Letztlich geht es ihr wie den meisten Kollegen darum, die Grundlagen dieses komplexen neuen Forschungsgebietes so gut es irgend geht zu ergründen. Dabei dürfte das Freiburger Meeting, das Asifa Akhtar gemeinsam mit Thomas Jenuwein, Monika Lachner und anderen Kollegen auf die Beine gestellt hat, bereits geholfen haben. "Alles ist so gut gelaufen, es war ein wunderbarer Start. Es ist uns gelungen, Freiburg auf die Landkarte der epigenetischen Forschung zu setzen", bilanziert sie: "Und wir werden nun versuchen, das Meeting alle zwei Jahre im Dezember zu wiederholen."

Von der Idee, die Tagung zu wiederholen, ist auch der derzeitige Geschäftsführende Direktor des Freiburger Instituts begeistert, der Immunbiologe Rudolf Grosschedl: "Das würden wir sehr begrüßen, am liebsten alternierend mit einer Tagung zur Immunbiologie." Insgesamt sei man "überaus zufrieden", die Epigenetik hierher geholt zu haben. Dieses Gebiet bereichere zentrale Zukunftsfelder und sei auch für die Immunbiologie unverzichtbar.

Längst ist klar, dass die meisten Epigenetiker gerne wiederkommen. Shelley Berger wird dann womöglich neues aus dem Reich der Ameisen berichten. Dabei könnte die Frage im Mittelpunkt stehen, warum manche Menschen - ähnlich wie Ameisenköniginnen - sehr viel älter werden als andere. Denn Berger weiß: "Die Ameisen sind ein wunderbares Modell zur Erforschung von Alterungsprozessen."


"Wir sind mehr als die Summe unserer Gene"

Thomas Jenuwein gilt als einer der Pioniere der Epigenetik. Er und sein Team entdeckten im Jahr 2000 das erste Enzym, das bei Mensch und Maus Methylgruppen an Histone anlagert und Gene dadurch dauerhaft abschaltet. Seit 2008 ist der Molekularbiologe Direktor am Max-Planck-Institut für Immunbiologie und Epigenetik in Freiburg. Sein Gebiet präge die Biologie unserer Zeit, verrät Jenuwein im Interview. Die verblüffenden und enorm weitreichenden Resultate der Epigenetik verändern die Gesellschaft schon heute.

FRAGE: Herr Jenuwein, Sie behaupten, wir leben in der postgenomischen Gesellschaft. Warum?

THOMAS JENUWEIN: Weil wir das menschliche Genom entschlüsselt haben und erkennen mussten: Wir sind mehr als die Summe unserer Gene. Die alleinige DNA-Sequenz reicht nicht aus, um eine normale oder eine fehlgeleitete Entwicklung vollständig zu erklären. Wir befinden uns im Zeitalter der Epigenetik und des Chromatins - also der Einheit aus DNA und angelagerten Proteinen. Es geht um das funktionelle Verständnis der Zellidentität.

FRAGE: Dann wird Ihre Wissenschaft inzwischen akzeptiert?

THOMAS JENUWEIN: Selbstverständlich. Sie brauchen nur einmal zu zählen, wie viele Studien zur Epigenetik publiziert werden. Waren es früher maximal 400 pro Jahr, so sind es heute rund 8000.

FRAGE: Wie ist es zu dieser Entwicklung gekommen?

THOMAS JENUWEIN: Der wichtigste Durchbruch war die Entdeckung jener Enzyme, die die chemischen Markierungen am Chromatin setzen. Das führte zu einer explosionsartigen Öffnung des Gebiets. Denn damit konnte man die Brücke bilden zur Kontrolle der Genaktivität, zur Zell identität und zu unterschiedlichen Chromatinzuständen. Vor allem aber verstand man endlich auch, wieso sich Veränderungen des Stoffwechsels und des Energieverbrauchs sowie Veränderungen durch Umwelteinflüsse bleibend auf die Zelle auswirken: indem sie sich über Enzyme und ihre Ko-Faktoren auf das Chromatin übertragen lassen.

FRAGE: Man sagt also zu Recht, dass die Epigenome den Zellen ein Gedächtnis verleihen? Werden wir dieses Gedächtnis eines Tages manipulieren können?

THOMAS JENUWEIN: Seit wir die enzymatischen Veränderungen des Chromatins kennen, haben wir Ansatzpunkte, denn die Enzyme können gehemmt werden. Und damit sind wir mitten in der Therapie. Nehmen wir Krebserkrankungen: Dort befinden sich bereits Substanzen in der Klinik, HDAC-Inhibitoren oder DNMT-Hemmer. Für die Krebsforschung ist die epigenetische Therapie schon heute eine Tatsache.

FRAGE: Gibt es andere Beispiele?

THOMAS JENUWEIN: Auch bei der Reprogrammierung von Körperzellen zu Stammzellen hilft die Epigenetik. Ich bin überzeugt, dass man hier dank einer gezielten Beeinflussung der epigenetischen Enzyme in fünf Jahren eine Erfolgsquote von 40 bis 50 Prozent haben wird. Heute sind es nur ein bis zwei Prozent. Der dritte Punkt ist, dass wir immer besser verstehen, wie sich Ernährungsgewohnheiten und Stresssignale auf die Epigenome von Zellen auswirken. Da ergeben sich ganz klare Ansatzpunkte für eine neue Art von Prävention.

FRAGE: Das erinnert ein wenig an die bisher nicht eingelösten Versprechungen aus dem Humangenomprojekt: neue, effektive Therapien gegen die großen Volkskrankheiten. Warum denken Sie, dem Ziel jetzt näher zu sein?

THOMAS JENUWEIN: Weil wir die Zusammenhänge kennen: Wir wissen, was das Chromatin einer Stammzelle von dem einer gealterten Zelle unterscheidet. Aufgrund der epigenetischen Markierungen am Chromatin kann ich heute einer Zelle ansehen, wie alt sie ist, zu welchem Zelltyp sie gehört und ob sie gesund ist. Wir haben die Hand also an den richtigen Schaltern. Damit sind dem Denken eigentlich keine Grenzen mehr gesetzt. Zumindest theoretisch lassen sich Diabeteszellen wieder funktionstüchtig machen, Krebszellen zumindest gutartiger oder Gehirnzellen weniger stressanfällig.

FRAGE: Ist die DNA denn unwichtig?

THOMAS JENUWEIN: Natürlich bleibt die treibende Kraft in der Zelle die DNA-Sequenz. Aber das Entscheidende ist: Die Epigenetik können wir verändern. Adrian Bird hat mal gesagt, selbst wenn die Epigenetik nur 0,1 Prozent der Entwicklung beeinflusst, würde das angesichts der Vielzahl menschlicher Zellen und Zelltypen vollkommen ausreichen, um alle möglichen - gute wie fehlgeleitete - Adaptationen nachzuvollziehen.

FRAGE: Auch die Max-Planck-Gesellschaft hat die Bedeutung der neuen Wissenschaft erkannt und das Freiburger Institut in eines für Immunbiologie und Epigenetik umbenannt. Sind Sie stolz darauf?

THOMAS JENUWEIN: Natürlich. Aber es war auch eine logische Entwicklung, die schon lange vor meiner Freiburger Zeit begann. Immunbiologie und Epigenetik sind miteinander eng verzahnt. Eine erste Epigenetik-Forschungsgruppe gibt es hier seit fünf Jahren. Entscheidend war, dass die Freiburger schon sehr früh erkannten, wie innovativ die Epigenetik ist. Es folgten eine Ausschreibung, der Neubau und die Gründung einer neuen Abteilung, deren Leitung ich übernehmen durfte. Zudem wurde die Nachfolge von Davor Solter - selbst als Mitentdecker des Imprintings einer der Wegbereiter der modernen Epigenetik - mit Asifa Akhtar, einer herausragenden Epigenetikerin, besetzt. Und nun - sozusagen als Leuchtturm - kam die Umbenennung des Instituts.

Interview: Peter Spork


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Histone sind wichtige Proteine für die Epigenetik. Folgerichtig werden die Besucher der Epigenetik-Tagung mit dem Aminosäure-Code des Histon-Proteins H3 begrüßt.

Wissenschaft lebt vom Gedankenaustausch, besonders in einem so expandierenden Forschungsgebiet wie der Epigenetik: Teilnehmer der Freiburger Tagung diskutieren über die neuesten Ergebnisse - manchmal sogar bei einem Gläschen Rotwein.

Die Organisatoren der Tagung: Asifa Akhtar hält ein Chrosomen-Modell, Thomas Jenuwein trägt eine Nachbildung des Chromatins mit epigenetischen Veränderungen um den Hals.

Epigenetik sorgt für Gesprächsstoff: Herbert Jäckle vom Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie in Göttingen (oben), Danny Reinberg (New York University, Mitte) und Peter Becker (Ludwig-Maximilians-Universität München, unten).

Damit der zwei Meter lange DNA-Faden im Zellkern untergebracht werden kann, muss er platzsparend verpackt werden. Dazu wird die DNA (gelb) um Komplexe aus jeweils acht Histonen (blau) herumgewickelt. Diese werden dann perlschnurartig aneinandergereiht (links). Ein Chromosom hat dann nur noch den Durchmesser von einem Tausendstel Millimeter (rechts).


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Quelle:
MaxPlanckForschung - Das Wissenschaftmagazin
der Max-Planck-Gesellschaft, I.2011, S. 57-63
Hrsg.: Referat für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der
Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. August 2011