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GESUNDHEIT/1389: Arztgesundheit - Ursachen für Kränkungen im Berufsleben (SHÄB)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 5, Mai 2023

Belastet in die Kränkung

Ein Beitrag von Prof. Jörg Braun (1. Vorsitzender der Stiftung Arztgesundheit), Dr. Henning Kothe und Dr. Gernot Langs


ARZTGESUNDHEIT. Kritik ohne Kränkung ist möglich und oft davon abhängig, wie man selbst mit Kritik umgeht - aber auch von der jeweiligen Belastungssituation.


"Sei dir dessen bewusst, dass dich derjenige nicht verletzen kann, der dich beschimpft oder schlägt; es ist vielmehr deine Meinung, dass diese Leute dich verletzen. Wenn dich also jemand reizt, dann wisse, dass es deine eigene Auffassung ist, die dich gereizt hat. Deshalb versuche vor allem, dich von deinem ersten Eindruck nicht hinreißen zu lassen. Denn wenn du dir Zeit zum Nachdenken nimmst, dann wirst du die Dinge leichter in den Griff bekommen."
Epiktet, griechischer Philosoph um 50-138 n.Chr.


Eine Aufgabe der Stiftung Arztgesundheit ist es, typische Belastungssituationen für Ärzte zu identifizieren und Lösungsansätze zu erarbeiten. Im Rahmen von Gesprächen mit Kollegen, die unter Erschöpfung und Sinnkrisen litten, wurden immer wieder Situationen deutlich, in denen sich Ärzte gekränkt fühlten. Solche Kränkungen können Ausgangspunkt einer Kränkungsspirale sein, die in Burn-out, Sucht oder sogar Suizid enden kann. Im Folgenden soll beschrieben werden, warum Ärztinnen und Ärzte leicht in Kränkungssituationen kommen, welche negativen Auswirkungen diese haben können und welche Lösungsansätze es gibt, um Kränkungssituationen anders wahrzunehmen und zu verarbeiten.

Zum Thema der ärztlichen Kränkung gibt es kaum Literatur. Lassen Sie uns daher zunächst mit einer Kasuistik beginnen, welche zur Wahrung der Vertraulichkeit etwas modifiziert wurde:

Ein 51-jähriger gynäkologischer Chefarzt übernimmt einen Nachtdienst, da die vorgesehene Kollegin krank ausfällt. Auch nach dem eher anstrengenden Dienst mit zwei Geburten arbeitet der Kollege weiter. In der Chefarztsitzung um 17:00 Uhr stellt der Geschäftsführer die aktuellen Wirtschaftszahlen vor: Nach diesen trägt die Gynäkologie nur zu 1,3 % zum EBITDA (Gewinn vor Steuern) bei. Bei einem Ziel-EBITDA von 14 % ist dies natürlich inakzeptabel und müsse zwingend einen Personalabbau zur Folge haben - die zugesagte Nachbesetzung wird daher gestrichen. Der Chefarzt flippt aus, wirft dem Geschäftsführer menschenverachtenden Zynismus vor und macht ihn direkt verantwortlich für den Tod einer Patientin im Vormonat. Daraufhin wird der Chefarzt des Raumes verwiesen und danach fristlos gekündigt.

Viele von uns werden durchaus Sympathie mit dem "Opfer" Chefarzt haben. Wir werden im Artikel verstehen, dass gerade die Opferzuweisung für die Lösung wenig hilfreich ist.

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Phasenmodell der Kränkungsreaktion

1. Phase: starke Emotion: Wut, Ohnmacht, Herzrasen, Sprachlosigkeit

2. Phase: Verletzung, gekränkt sein (im Sinne einer Selbstkränkung)

3. Phase: Kränkungsbewältigung (die bisweilen nicht gelingt, was zu einer Verbitterungsstörung oder einer querulativen Entwicklung führen kann)
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Ärztinnen und Ärzte sind leicht kränkbar

Dies liegt zum einen an unserem hohen Leistungsethos: Wir stellen oft hohe Ansprüche an uns selbst und wollen die Dinge so gut wie möglich machen. Strenge Selbstkritik gehört daher für viele Ärztinnen und Ärzte zu der angestrebten Optimierung. Daneben erscheint eine Kritik von außen häufig unnötig oder übertrieben. Hinzu kommt das dominierende Auswahlsystem für Medizinstudierende, der Numerus clausus. Viele von uns zählten in der Schule gewissermaßen zu den Top of the Pops. Kritik von außen kam dabei nicht oft vor.

Häufig haben wir auch Kollegen mit einem ausgeprägten "Hochstaplersyndrom" kennengelernt: Bei diesem haben fachlich kompetente und mitunter hoch respektierte Ärztinnen und Ärzte ständig Angst, dass eine Wissenslücke entdeckt und Unwissen entlarvt wird. Hierzu sei gesagt, dass selbst die Besten von uns nur einen Bruchteil des aktuellen medizinischen Wissens überblicken können.

Gerade in unserem Beruf spielen aber auch Verstöße gegen die eigenen Werte eine besondere Rolle. In unserem Beispiel war dies der mittlerweile leider häufige Konflikt zwischen fürsorglicher Patientenversorgung und ökonomischen Vorgaben. Oft sind es auch hierarchische Konflikte mit asymmetrischen Machtverhältnissen, die ein Gefühl der Machtlosigkeit hinterlassen: Ohnmacht kontrastiert gerade bei Ärzten mit den eigenen Ansprüchen, alle Probleme lösen zu können: Geht nicht gibt's eben doch!

Eine besondere Herausforderung für Ärzte besteht auch in der Notwendigkeit, multiple Rollen auszufüllen. Diese bieten entsprechend vielfältige Angriffspunkte, zumal kein Arzt alle notwendigen Rollen mit gleicher Perfektion ausfüllen kann. Häufig kommt es zu kumulativen Kränkungen, die dann irgendwann "das Fass zum Überlaufen bringen". Aus den multiplen Rollen ergeben sich auch die verschiedenen Quellen für potenzielle Kränkungen (siehe Tabelle unten).

Wie bei einem Schlüssel-Schloss-System erfordern diese Kränkungssituationen aber immer auch "passende" Persönlichkeitsfaktoren. Diese sind bei Ärztinnen und Ärzten häufig narzisstische Persönlichkeitszüge, fehlende Gegengewichte durch ein überbordendes berufliches Engagement und ein trotz objektiven Erfolgen brüchiges Selbstbewusstsein (Hochstaplersyndrom, s. o.). Kränkungen erwischen einen typischerweise an einem eigenen "wunden Punkt": Kränkungen sind etwas zutiefst Individuelles. Was für den einen ein lächerliches Ereignis ist, trifft den Nächsten mitunter heftig. Dabei ist es unwichtig, ob die Kränkung vom "Sender" intendiert wurde. Viele Kränkungen dürften unabsichtlich geschehen.

Eine als unberechtigt empfundene Kritik löst unmittelbar Lähmung, Schock, Sprachlosigkeit und Enttäuschung aus. Nachts werden dann die Antworten gefunden, die in der Akutsituation fehlten, weil es einem die Sprache verschlagen hatte. Mitunter entwickeln sich Rachefantasien: Eine besonders plastisch geschilderte Fantasie, deren Detailreichtum auf die Arbeit von vielen Nächten schließen ließ, handelte von einem Geschäftsführer, einem Defibrillator und heißen Ohren.

Verschiedene weitere Reaktionsmuster können folgen: So gibt es Kolleginnen und Kollegen, die nach einer Kränkung noch härter arbeiten, weil der äußere Kritiker ja im Grunde den inneren Kritiker bestätigt hat, dass man einfach nicht gut genug ist. Andere Reaktionen sind Rückzug, innere oder äußere Kündigung, Sucht (vor allem Alkohol: Im Rausch findet man sich nämlich großartig) und leider auch Suizid.

Besonders fatal ist oft das Erleben der eigenen Sprachlosigkeit, die uns in einem professionellen Setting nur sehr selten widerfährt. Dies kann zu einer Verschlechterung der Performance führen (durch Schlafmangel, Sucht, Fehlmotivation) mit der Entstehung einer mitunter fatalen "Kränkungsspirale". Weniger "Erfolgserlebnisse" führen zu einer weiteren Arrondierung des Selbstwertgefühls ("Demütigung", Abwertung). Zusätzliche familiäre Konflikte, Konflikte im Team oder eigene medizinische Fehler verstärken die Dynamik mitunter bis hin zu einer "ausweglosen" Situation.

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"Entmachtung der Kränkung"

- Lufthoheit über das Kränkungsgeschehen gewinnen: z.B. in die Schuhe des "Kränkers" schlüpfen

- Transparenz schaffen (ansprechen)

- Deeskalieren und Entemotionalisieren

- Kränkungsbotschaft analysieren: Kränkungen als Lehren nützen

- Eigene Kränkungsmuster durchbrechen: loslassen, verzeihen
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Lösungsansätze

Ein Grundproblem der Arztgesundheit ist unsere eingeschränkte Fähigkeit, Hilfe von anderen anzunehmen. Da das Kränkungsgefühl häufig auch schambehaftet ist (es wurde ja ein "wunder Punkt" getroffen), wird es nicht gerne geteilt. Professionelle Hilfe z. B. durch einen Coach nehmen nur wenige Ärzte und Ärztinnen in Anspruch. Die meisten vertrauen dagegen auf die eigene Problemlösungskompetenz. Gerade bei Kränkungen wäre ein äußerer Spiegel aber überaus hilfreich: den "Kränkungstatbestand" auch mit anderen Augen betrachten zu lassen, kann hoch effektiv sein, weil sich die fatale Dynamik der Kränkung in einem selbst abspielt. Daher erfordert der Lösungsansatz auch keine großen strukturellen Änderungen und schon gar nicht die Entfernung des "Täters", sondern vielmehr eine Veränderung der eigenen Einstellung. Wir alle sollten eine Kränkungskompetenz (Bärbel Wardetzki) erreichen. Dies erfordert häufig den Wechsel des Blickwinkels (Multiperspektivität). Auch ist es hilfreich, schon die kleinen Kränkungen zu bemerken und zu hinterfragen: was löst die Dissonanz zwischen Fremdbild und Selbstbild aus? Ausgangspunkt ist die Wahrnehmung: "Ich bin gekränkt" (Nicht "Ich wurde gekränkt"). Der nächste Schritt ist die Beantwortung der Frage: Von wem fühlte ich mich gekränkt und welche Rolle hatte diese Person? Vielleicht hilft bei der Vermeidung von Kränkungen ein weiterer Perspektivwechsel - oft sind wir selbst auch potenzielle "Kränker". Wie können wir dies vermeiden?

Als Arzt oder Vorgesetzter besteht regelhaft eine sachliche Notwendigkeit, Kritik zu äußern. Diese Situation sollte vorher durchgespielt werden. Wenn möglich, sollte ein geeignetes Setting gesucht werden: Kritik nach einem Nachtdienst kann häufig kontraproduktiv sein. Auch sollte Kritik nicht als Hinrichtung im großen Kreis inszeniert werden, sondern erfordert ein Vieraugengespräch. Kritik kann häufig als Sandwich präsentiert werden: dies haben Sie gut gemacht, das hat mir nicht so gut gefallen. Dafür war jenes wieder sehr gut. Es ist notwendig, sorgfältige Formulierungen mit dem Ziel einer positiven Kommunikation zu wählen (was einiges an Übung erfordert). Die Botschaft lautet dabei immer: Ich bin O.K., Du bist O.K.!

Wichtig ist es, Raum für spontane Erwiderungen zu geben und wenn möglich ein Folgegespräch zu vereinbaren, damit auch das zunächst Ungesagte ans Licht kommen kann.


Weitere Hilfen

• Humor und Selbstironie: "Wer sich selbst zu ernst nimmt, kommt seiner Karikatur am nächsten". Das Eingestehen eigener Fehler entlastet ungemein.

• Stützen: Freunde, Familie, Hobbies (auch als Resilienzfaktoren wichtig).

• Ableitung negativer Energien (Yoga, Sport, Sandsack).

• Vermeiden von scheinbar einfachen Lösungen (Beruhigungstabletten: mothers little helpers, Alkohol: "Komm doch mit auf den Underberg").

• Vermeiden von Overkill-Situationen (wie in unserem Beispiel).

• Wahrnehmung der eigenen Macht und von Handlungsspielräumen bzw. Alternativen bis hin zum Stellenwechsel.

Die Reaktion des Chefarztes hätte sein können: Ich kann Ihre Perspektive auf die Leistungszahlen nachvollziehen, auch wenn mich Ihre Aussage gerade persönlich trifft. Weil ich heute Nacht arbeiten musste, würde ich jetzt zu emotional reagieren, wofür Sie sicher Verständnis haben. Ich schlage daher vor, dass wir diesen Punkt morgen oder in den nächsten Tagen in Ruhe besprechen.

KRÄNKUNGSQUELLE       
BESONDERHEITEN                                 
   
   
   
   

Patienten



Besonders schwierig sind anonyme Kommentare auf
Bewertungsportalen.


Vorgesetzte



Ein Kommunikationstraining, welches Kritik ohne
Kränkung ermöglicht, haben die wenigsten.


Geschäftsführer





Hier ist der Konflikt zwischen Ökonomie und
Patientenfürsorge durch die asymmetrischen
Machtverhältnisse und das Fehlen eines
Schiedsrichters bisweilen zu ertragen.


KV/Kassen




Auch hier können "Bestrafungen" z.B. bei
Budgetüberschreitungen oder bei
Qualitätsmängeln als kränkend empfunden werden.


Juristen



Eine "Kunstfehlerklage" stellt häufig eine
schwere Belastung dar.


Angehörige




Die Vereinbarkeit zwischen Beruf und Familie
ist für viele Ärzte und Ärztinnen häufig mit
schwierigen Kompromissen verbunden.

*

Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 5, Mai 2023
76. Jahrgang, Seite 8-11
Herausgeber: Ärztekammer Schleswig-Holstein
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
Telefon: 04551/803-0, Fax: 04551/803-101
E-Mail: info@aeksh.de
Internet: www.aeksh.de
 
Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 23. Mai 2023

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