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UMWELT/708: Evakuierungs-Empfehlungen nach Atomunfall - IPPNW kritisiert Strahlenschutzkommission (IPPNW)


Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW), Sektion Deutschland
Presseinformation vom 6.11.2013

Evakuierungs-Empfehlungen nach Atomunfall

IPPNW kritisiert Strahlenschutzkommission



Die atomkritische Ärzteorganisation IPPNW begrüßt, dass die Strahlenschutzkommission bereit ist, den Katastrophenschutz um Atomkraftwerke auszubauen, kritisiert jedoch gravierende Mängel. So ist es inakzeptabel, dass dauerhafte Evakuierungen nur aus Gebieten durchgeführt werden sollen, in denen die Menschen nach einem Atomunfall mit einer jährlichen Strahlendosis von mindestens 50 Millisievert belastet sind. "Damit nimmt man billigend in Kauf, dass es nach einem Super-GAU zu großen Opferzahlen kommt", so IPPNW-Arzt Reinhold Thiel.

In Japan gelten Gebiete mit einer Belastung von 20 Millisievert pro Jahr als unbewohnbar. Selbst diesen Grenzwert sehen viele Strahlenschützer noch als zu gefährlich an. Inzwischen wird auch von der Weltgesundheitsorganisation WHO anerkannt, dass es keinen Schwellenwert gibt, unterhalb dessen Strahlung medizinisch unbedenklich wäre. Laut IPPNW ist daher auch in Gebieten mit Strahlendosen deutlich unter 20 Millisievert pro Jahr mit erhöhten Erkrankungsraten für Leukämie, Krebs und Nicht-Krebserkrankungen zu rechnen. "Es ist für uns unverständlich, warum die Strahlenschutzkommission nach einem Super-GAU im dicht besiedelten Deutschland auf notwendige Evakuierungen verzichten möchte", kritisiert die IPPNW-Ärztin Angelika Claußen.

Die Folgen eines Super-GAU in Deutschland wären immens. So kam eine Studie des Öko-Instituts 2007 zu dem Ergebnis, dass je nach Wettersituation in Gebieten bis in eine Entfernung von etwa 600 km und einer Breite von bis zu 50 km eine Evakuierung erforderlich werden kann. Auch das Bundesamt für Strahlenschutz hielt es in seiner "Analyse der Vorkehrungen für den anlagenexternen Notfallschutz für deutsche Kernkraftwerke" vom April 2012 für angemessen, mit 'Umsiedlungen' noch in 100 bis 170 km Entfernung vom Unfallort zu rechnen.

Die Ausweitung der kurzfristigen Evakuierungszonen von 10 auf lediglich 20 km ist nach Auffassung der IPPNW fragwürdig. In Bayern war schon vor der atomaren Katastrophe von Fukushima ein 25-km Radius vorgeschrieben. Auch im Saarland bestehen bereits "planerische Vorbereitungen" für eine mögliche Evakuierung für die Bevölkerung in einem 25-km-Radius um das französische Kernkraftwerk Cattenom.

Die von der Strahlenschutzkommission empfohlene Ausweitung der Bevorratung von Jodtabletten für Kinder, Jugendliche und Schwangere von einem 100-Kilometer-Umkreis auf das gesamte Bundesgebiet ist laut IPPNW ein Schritt in die richtige Richtung. Nach Auffassung der Ärzteorganisation sollte sie aber auch für Erwachse erfolgen. Zudem fordert die IPPNW, die Jodtabletten nicht zentral zu lagern, sondern nach österreichischem Vorbild jedem Haushalt vorab zur Verfügung zu stellen. "Die hochdosierten Jodtabletten sollten nämlich schon eingenommen werden, bevor die radioaktive Belastung die Menschen erreicht, um wenigstens vor Schilddrüsenkrebs zu schützen", so Thiel.

Für die IPPNW bleiben noch viele weitere Fragen offen: Wo und wie sollen mehrere 100.000 betroffene Menschen innerhalb kürzester Zeit dekontaminiert und anschließend untergebracht werden? Wie können sich die Katastrophenschutzbehörden organisatorisch wirksam auf wechselnde Windrichtungen vorbereiten? Wie soll der gesundheitliche Schutz sowohl der zu Evakuierenden als auch der Rettungskräfte gewährleistet werden, wenn auf Grund einer zu hohen Zahl von betroffenen Menschen die Evakuierungen zeitlich verzögert und in mehreren Wellen aus den hochkontaminierten Regionen erfolgen müssen?

Ferner stellt sich auch die Frage, wer in Anbetracht der begrenzten Haftpflichtversicherungen der Betreiber die erforderlichen Katastrophenschutz-Maßnahmen bezahlen soll. Dabei muss man sich vor Augen führen, dass die Deckungsvorsorge für einen Super-GAU in Deutschland 2,5 Milliarden Euro beträgt, die Atomkatastrophe in Japan aber bereits einen dreistelligen Milliardenbetrag verschlungen hat. Für diese immensen Kosten müssen die Steuerzahler aufkommen.


Hintergrundpapier zum Katastrophenschutz:
www.ippnw.de/commonFiles/pdfs/Atomenergie/20121130_Hintergrundpapier_Katatrophenschutz.pdf

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Quelle:
Pressemitteilung vom 6. November 2013
Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW), Sektion Deutschland
Körtestr. 10, 10967 Berlin
Tel. 030/69 80 74-0, Fax: 030/69 38 166
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. November 2013