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ETHIK/763: Helsinki-Deklaration - Ethikkodex in der Kritik (Thieme)


Thieme Verlag / FZMedNews - Freitag, 4. Dezember 2009

Helsinki-Deklaration - Ethikkodex in der Kritik


fzm - Mit der Erklärung von Helsinki hatte der Weltärztebund 1964 einen allgemein anerkannten Ethikkodex zum Schutz von Menschen geschaffen, die an klinischen Studien zur Erprobung neuer Therapien teilnehmen. Eine Revision im Jahr 2000 löste jedoch eine heftige Kontroverse aus. Die Probleme sind nach Ansicht einer Medizinethikerin in der Fachzeitschrift "DMW Deutsche Medizinische Wochenschrift" (Georg Thieme Verlag, Stuttgart. 2009) auch nach einer 2008 erfolgten erneuten Überarbeitung nicht gelöst worden.

Die US-amerikanische Zulassungsbehörde FDA (Food and Drug Administration), aber auch die europäische Kommission, haben die Revision der Helsinki-Deklaration aus dem Jahr 2000 nicht anerkannt. Für sie gelten weiterhin die früheren Versionen. Der Streit entzündete sich vor allem an zwei Änderungen. Eine betraf die Verwendung von Scheinmedikamenten - sogenannten Plazebos - in klinischen Studien, die andere die freie Verfügbarkeit von nutzbringenden Therapien nach dem Ende der klinischen Studie.

Nach der Revision der Helsinki-Deklaration aus dem Jahr 2000 sollten Plazebos in Studien nur noch erlaubt sein, wenn es keine erprobte wirksame Behandlung gibt. Damit sollte verhindert werden, dass Patienten in den klinischen Studien schlechter gestellt sind als bei einer normalen ärztlichen Behandlung. "Diese Ausrichtung der Forschungsethik führt jedoch zu ungerechtfertigten Einschränkungen der klinischen Forschung", schreibt die Medizinethikerin Dr. med. Annette Rid von der Universität Zürich, die derzeit an den US-National Institutes of Health in Bethesda/Maryland tätig ist. Nach Ansicht der Forscherin müssen an klinische Studien und an die normale ärztliche Behandlung "fundamental verschiedene" ethische Anforderungen gestellt werden. Denn die klinische Forschung sei "primär auf die Erzeugung verallgemeinerbaren Wissens angelegt mit dem Ziel, zukünftigen Patienten zu helfen". Bei der ärztlichen Behandlung stehe allein das aktuelle medizinische Interesse des Patienten im Vordergrund. Natürlich müsse in den Studien das "zentrale ethische Prinzip in der Forschung gelten, dass Studienteilnehmer nicht zugunsten zukünftiger Patienten übermäßig hohen Risiken ausgesetzt werden". Ein "minimales" Risiko ist nach Ansicht von Dr. Rid jedoch vertretbar. Obwohl der Weltärztebund die Forderung zur Einschränkung der Plazebos in der neuen Fassung abgeschwächt hat, stifte die Deklaration weiter Verwirrung. "Die Deklaration sollte den grundsätzlichen Unterschied zwischen ärztlicher Behandlung und Forschung anerkennen und ihre Grundsätze für die klinische Forschung entsprechend anpassen", schreibt Dr. Rid.

Auch die Aspekte zur internationalen Forschung, der zweite Kritikpunkt an der Revision aus 2000, sind nach Ansicht der Ethikerin nicht ausreichend berücksichtigt. Die Kriterien, wie Patienten in den Entwicklungsländern vor einer Ausbeutung geschützt werden könnten, seien zum einen sehr vage formuliert. Zum anderen werde eine relativ neue Idee aus der internationalen Forschungsethik aufgenommen. Danach dürfen in Entwicklungsländern nur noch Studien durchgeführt werden, die eine "lokale Relevanz" haben. Angemessen wäre beispielsweise eine Studie zur Immunschwäche HIV in Afrika, nicht aber Studien zu Erkrankungen, die nur in wohlhabenderen Ländern auftreten. Dr. Rid gibt auch zu bedenken, dass Einschränkungen in der klinischen Forschung zur Folge haben können, dass in den Entwicklungsländern der Aufbau einer wissenschaftlichen Forschungslandschaft verzögert werde. Dr. Rid: "Da die relative neue Bedingung lokaler Relevanz aus ethischer Sicht bisher nur schlecht verstanden ist, hätte die Deklaration sie vielleicht besser noch nicht aufgenommen."

Nach Ansicht der Ethikerin nimmt die Helsinki-Deklaration Positionen ein, die unter vernünftigen - im Sinne von: moralisch motivierten - Leuten umstritten sind. Einige Forderungen der Deklaration seien in sich widersprüchlich, andere zu unbestimmt. In einigen Punkten erlaube die Deklaration auch zu wenige Ausnahmen. Ihre strikte Befolgung könne deshalb ethisch bedenklich sein. Dr. Rid stört auch, dass der Weltärztebund trotz der vielen Unsicherheiten den normativen Status der Deklaration erhöht hat. Sie soll nicht nur wie bisher über nationalen Vorschriften stehen, sondern künftig auch nicht durch internationale ethische, rechtliche und regulatorische Vorschriften gemindert oder aufgehoben werden können. Dadurch würden die Chancen auf eine allgemeine Anerkennung, etwa durch FDA oder Europäische Kommission geschwächt. Dr. Rid: "Es ist daher nicht übertrieben festzustellen, dass die Deklaration an einem Scheideweg steht, und eine grundsätzliche Neubestimmung ihres normativen Status und Inhalts erforderlich ist. Dabei muss mehr Bescheidenheit keineswegs bedeuten, dass die Deklaration an Gewicht verlieren wird - im Gegenteil."


A. Rid, H. Schmidt:
Die erneut überarbeitete Deklaration von Helsinki
Wie sind die Änderungen aus ethischer Sicht zu beurteilen?
DMW Deutsche Medizinische Wochenschrift 2009; 134 (49): S. 2525-2528


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Quelle:
FZMedNews - Freitag, 4. Dezember 2009
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Dezember 2009