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ETHIK/850: Public-Health-Ethik - Public-Health-Praxis braucht Berufsethik (umg)


umwelt · medizin · gesellschaft - 2/2010
Humanökologie - soziale Verantwortung - globales Überleben

Public-Health-Praxis braucht Berufsethik - Plädoyer für eine verantwortungsethische Perspektive

Von Wolfgang Hien


Die Frage nach einer Public-Health-Ethik wird erst seit kurzem diskutiert. Eine Mehrheit der akademischen Public-Health-Vertreter/innen scheint sich auf eine "Bereichsethik" festlegen zu wollen, die sich am Prinzip der "Maximierung des gesundheitlichen Gesamtnutzens" orientiert. Dies wird jedoch die in der Prävention tätigen Mediziner/innen und Gesundheitswissenschaftler/innen nicht davor schützen, in Handlungsdilemmata hineinzugeraten, insbesondere dann, wenn es sich um "schwierige" Minderheiten handelt, der unsere Sorge genauso zu gelten hat wie der Mehrheit. Der vorliegende Beitrag versucht zu zeigen, dass eine Bereichsethik dringend der Erweiterung um eine Berufsethik und eine persönliche Verantwortungsethik bedarf, welche sich die Sorge um den anderen Menschen, auch den schwächsten, zueigen macht.



Einleitung

Der Königsweg von Umwelthygiene und Umweltmedizin ist die Prävention. Darüber hinaus wollen wir die betroffenen Menschen in ihrer Gesundheitskompetenz stärken und sie darin unterstützen, für ihre Gesundheitsinteressen einzutreten. Damit gehören Umwelthygiene und Umweltmedizin zum großen Bereich "Public Health". Angesichts der allgemeinen politischen und gesundheitspolitischen Entwicklung ist Public Health mit einer Vielzahl von ethischen Problemen konfrontiert. Dies hat dazu geführt, dass nun verstärkt über eine Public-Health-Ethik diskutiert wird, die als "Bereichsethik" definiert wird (SCHRÖDER 2007). Bereichsethik heißt, dass alle Bemühungen unter ein generelles Motto gefasst werden, das Schröder (ebenda) folgendermaßen fasst: "Maximierung des gesundheitlichen Gesamtnutzens in der Gesellschaft". Darin sollen Kriterien wie Menschenwürde, Freiheit und Gerechtigkeit enthalten sein. Die definitorische Zuschreibung als Bereichsethik blendet das Problem aus, dass der oder die professionelle Akteur/in in der konkreten Handlungssituation mit Handlungsspielräumen und nicht selten mit massiven Handlungsdilemmata konfrontiert ist, die das handelnde Subjekt in die "Einsamkeit einer existenziellen Verantwortung" zwingt (DÖRNER 2002). Eine Berufsethik könnte helfen, diese Einsamkeit ein wenig zu mildern. Es geht hier nicht um die Funktionsverantwortung im Rahmen einer von der Organisation oder Institution hergeleiteten Arbeitsrolle, sondern um eine existenzielle Verantwortung, in die nicht nur das persönliche Gewissen, sondern auch ein von Wissen und Erfahrung geprägtes berufsethisches Verständnis eingehen. Solche Dilemmata ergeben sich beispielsweise, wenn sich Prävention einer Marketing-Logik unterzuordnen hat oder wegen klammer Kassen ganz unterbleibt, wenn gesundheitsschädigende Verhältnisse de-thematisiert und Konzepte der Eigenverantwortung zur Ideologie werden, wenn sich Rationalisierung und Rationierung auf Kosten oder zu Lasten der Schwächsten durchsetzen. Eine Bereichsethik kann helfen, derartige Problemlagen durch legislative, exekutive und organisationale Regelsetzung zu minimieren oder hinsichtlich konkreter Handlungsoptionen zu antizipieren. Eine Bereichsethik reicht aber nicht, um die vielfältigen Situationen in der "verschmutzten Wirklichkeit" (NEUBERGER 2006) mit ihren Zwängen, Unklarheiten, Ambivalenzen und Zumutungen moralisch zu bewältigen. Wie soll nun die hier gefragte, vom Berufsethos getragene Ethik bezeichnet werden? Nennen wir sie - so mein Vorschlag - ganz allgemein "Berufsethik", unabhängig davon, ob der oder die betreffende Akteur/in einen gesundheitswissenschaftlichen Abschluss hat oder Angehöriger einer anderen Berufsgruppe ist. Entscheidend ist, ob die betreffende "professionelle Person" in einem präventiven, gesundheitsförderlichen oder im weitesten Sinne mit Gesundheitsmanagement betrauten Aufgabenbereich arbeitet. Die häufig benutzte Allegorie von den "Ertrinkende(n) am reißenden Fluss", die eine/n Public-Health-Akteur/in - in Abgrenzung zu helfenden Berufen - auftrage, nicht einzelne zu retten, sondern die Ursache dieses Unglücks zu suchen, ist viel zu grobschlächtig und in ihrer Vereinfachung schlichtweg zynisch. Die Wirklichkeit ist wesentlich komplexer und vielschichtiger. Die Ertrinkenden-Allegorie ist m.E. utilitaristisch verkürzt, gleichsam zweidimensional, wo doch die reale Situation vieldimensional ist. Konkret würde es viel wahrscheinlicher sein, dass der Beobachtende nicht allein ist, dass Kommunikationstechniken zur Verfügung ständen und sich eine multizentrische Aktivität entwickeln würde.

Neben der häufig zu bemerkenden Vereinfachung der Problemstellungen fällt eine zweite Merkwürdigkeit ins Auge: Zwar ist von utilitaristischen, gerechtigkeitsethischen, diskurstheoretischen und kommunitaristischen Ansätzen oder Konzepten die Rede, nicht jedoch von verantwortungsethischen (SCHRÖDER 2007; RAUPRICH 2008, 2009; WEHKAMP 2008). Dies verwundert umso mehr, als zu Beginn des letzten Jahrhunderts Max Weber die Verantwortungsfrage in die Wissenschaft und die Politik eingebracht und damit ein vielfältiges Umdenken angestoßen hat, das sich nachhaltig auf die wissenschaftliche und politische Kultur auswirkte. Berufsethik hat sowohl mit innerer Haltung wie mit Verantwortung für die Folgen des eigenen Handelns zu tun (THIELEMANN 2009). Zugleich ist Verantwortung, sofern sie nicht nur als Funktionsverantwortung verstanden oder missverstanden wird, immer eingebettet in eine sozialethische Perspektive. Die saubere Trennung zwischen Sozial- und Individualethik, welche die akademische Philosophie gerne vornimmt, greift zu kurz. Sozialethische Orientierungen hinsichtlich einer gesellschaftlichen Ordnung, in der Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität Geltung besitzen, sind meist - wie im nächsten Abschnitt zu zeigen sein wird - gebunden an soziale, politische, kulturelle oder religiöse Traditionen oder Bewegungen. Darin aber handeln konkrete Personen, d.h. nicht Systeme, allein Subjekte können im moralisch relevanten Sinn Handlungen ausführen (BÜHL 1998). Die ethische Frage nach moralisch geleiteten Handlungen in einem beruflichen oder professionellen System ist die Frage nach einer Berufsethik. Im Public-Health-Bereich verschmelzen sozial- und individualethische Herausforderungen in einer Bereichsethik, die um eine Berufsethik erweitert werden muss.


Geschichte der Sozialethik als Problemkontext

Ende der 19. Jahrhunderts formierten sich - im Kontext religionsphilosophischer Traditionen - verschiedene sozialethische Orientierungen, von denen für die Sozial- und Gesundheitsdiskurse die protestantische und die jüdische Sozialethik eine besondere Bedeutung erlangten. In seinem Buch "Das Wesen des Christentums" ging Adolf von Harnack, der damals wohl bekannteste Theologe und erster Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, auf die drängenden sozialen Fragen seiner Zeit ein. Harnack plädiert dafür, "die Notlage des arbeitenden Volkes zu lindern", um die Menschen dem "Reich des Satans" zu entreißen und sie so auf "das Reich Gottes" vorzubereiten (HARNACK 1900/1977: 45). Ähnliches äußerten auch andere Vertreter aus Kirche und kirchennahen Verbänden. Wie schon zuvor die katholische Kirche in ihrer Enzyklika "Rerum Novarum" rang sich zwar nun auch der Protestantismus ein Lippenbekenntnis zur sozialen Frage ab, was aber die soziale und gesundheitliche Lage der Arbeiterklasse kaum verbessern helfen konnte, da an den Grundfesten der ökonomischen und sozialen Verhältnisse nicht gerüttelt werden sollte. Ein Großteil der christlichen Theologie konnte sich die Erlösung von Armut und Krankheit recht eigentlich - das zeigt die Argumentation Harnacks sehr eindrücklich - erst im Jenseits des irdischen Daseins vorstellen. Im Diesseits konnte man eben nur "Not lindern". Die Sozialethikern Edith Bauer nennt dies eine von Barmherzigkeit geleitete Sozialethik (BAUER 2008). Signifikant unterschieden davon sieht sie die jüdische Sozialethik, die - gleichsam als Antwort auf Harnack - kurze Zeit später von Leo Baeck, damals Rabbiner in Düsseldorf und später Oberrabbiner in Berlin, in die Diskussion gebracht wurde. Baeck setzt "verantwortliches Handeln" an die oberste Stelle, genauer: "das Gebot, das Gute in der Welt zu verwirklichen, um das Reich Gottes in der Welt des Menschen" aufzubauen (BAECK 1905/1991: 271). Im Unterschied zur Barmherzigkeit ist hier die Gerechtigkeit - und dies ganz im Sinne einer praktisch wirksamen sozialen Gerechtigkeit - als Leitmotiv zu sehen (BAUER 2008). In vielen gesellschaftlichen Bereichen, so auch in der Gesundheits- und Medizinethik, sind jüdische Wurzeln auszumachen, die schon im Wilhelminischen Deutschland autoritäre Gegenkonzepte hervorriefen. Die in den Humanwissenschaften artikulierte "Humanität" wurde als verweichlichende, unnatürliche und den Staat zersetzende "jüdische Lehre" empfunden. Das "Humane" wurde "so gut wie überall als Schlappheit deklariert und als undeutsch diffamiert" (GLASER 1993: 207).

Die sozialpolitische Diskussion seit den 1880er Jahren war aufgeheizt durch schnell wachsenden industriekapitalistischen Reichtum einerseits und ebenso schnell wachsende Massenproletarisierung in den industriellen Zentren andererseits. Die zunehmende Stärke des sozialen Protestes der Arbeiterbewegung - es ging dabei auch und gerade um den Kampf gegen Unfalltod und vorzeitigen körperlichen Verschleiß bei der Arbeit, um bessere Wohn- und Ernährungsbedingungen und um eine grundsätzlich gesicherte gesundheitliche Versorgung - zwang den Staat zu einem sukzessiven Ausbau des Arbeiterschutzes und der Sozialpolitik. Zugleich brandete im bürgerlichen Lager nicht nur die Diskussion über ökonomische Tragbarkeit und die ökonomischen Grenzen der Sozialpolitik auf; sowohl im medizinisch-hygienischen wie im kirchlichen Raum wurde die Forderung nach einer strengen "Moralhygiene", d.h. nach strengen Maßnahmen der Verhaltenskontrolle, laut (LABISCH 1992). Der Fabrikarzt, die Fabrikfürsorgerin, der Krankenkontrolleur, die Gemeindeschwester, der Pfarrer, die Lehrerin, d.h. alle Akteure, denen man eine verhaltenssteuernde Kompetenz zusprach, sollten die Menschen unter Druck setzen, diszipliniert zu arbeiten, hygienische Regeln einzuhalten und dem Alkohol und anderen "Vergnügungen" zu entsagen, wobei es von besonderer Bedeutung war, Simulanten und Querulanten zu identifizieren und zu sanktionieren. Im praktischen Handlungsfeld der Sozial- und Moralhygiene kam es so zu einem Amalgam zwischen einer Orientierung am gesundheitlichen Gesamtnutzen im Sinne einer Volksgesundheit und Leistungsfähigkeit des "Volkskörpers" und einer radikalen Risiko-Individualisierung. Augenfällig waren hierbei Legitimationen, welche immerzu "das Gute" versprachen.

Vor dem Hintergrund dieses sozialgeschichtlichen Kontextes kritisierte Max Weber die - wie er sie nannte - "Gesinnungsethik", wie er sie bei führenden Vertretern von Politik und Wissenschaft antraf (WEBER 1919). Es reiche nicht, nur die gute Absicht zu haben; worauf es ankomme, sei die Übernahme von sozialer Verantwortung für die Folgen des eigenen Handelns. Dietrich Bonhoeffer radikalisierte angesichts der Erfahrungen des Faschismus Max Webers Forderung nach Verantwortung, indem er sie mit Webers Kritik des protestantischen Berufskonzeptes verband (BONHOEFFER 1949). Bonhoeffer geht mit dem tradierten preußischen "Kulturprotestantismus" und der darin eingebetteten Ansicht ins Gericht, nach der Berufsverantwortung sich in der disziplinierten Erfüllung der "Dienstpflichten" erschöpfe. Das genaue Gegenteil sei der Fall: Verantwortung beziehe sich immer auf "das Ganze der Wirklichkeit" und - hier geht Bonhoeffer mit Nietzsche explizit in Opposition zum christlichen Diskurs der Nächstenliebe - schließe auch "den Fernsten" mit ein. "Gerade weil Beruf Verantwortung ist und weil Verantwortung eine ganze Antwort des ganzen Menschen auf das Ganze der Wirklichkeit ist", sei ein "banausisches Sichbeschränken auf die engste Berufspflicht ... Verantwortungslosigkeit" (BONHOEFFER 1949: 200). Hier verabschiedet sich Bonhoeffer von einem funktionalistischen Verantwortungsbegriff zugunsten eines existenziellen.


Berufsethik als Verantwortung vom anderen her

In den letzten Jahren hat Klaus Dörner, Nestor der deutschen Sozialpsychiatrie, m.E. einen substanziellen Beitrag zur Ethik-Debatte im Sozial- und Gesundheitswesen geleistet (DÖRNER 2002, 2007). Dörner orientiert sich dabei an einem Dreigestirn von paternalistischer, dialogischer und alteritätstheoretischer Ethik, wobei letzterer - anknüpfend an Emmanuel Levinas - die größte Bedeutung zukommt. Alterität - das ist die Andersheit des Anderen, den ich nie ganz verstehen kann, der mir immer mehr oder weniger fremd bleiben wird, der trotzdem meine Hilfe braucht, den ich unterstützen muss, ja, ihn verteidigen muss gegen Angriffe ausbeuterischer, kontrollierender, diskriminierender, stigmatisierender und körperlich oder geistig zerstörender Art. Dörner präzisiert dieses allgemeine Postulat und betont, dass es ihm um den Aufbau von Selbstsein, Selbstbewusstsein, Selbstbestimmungs- und Widerstandspotenzialen zu tun ist, keinesfalls um Gängelung oder "fürsorgliche Kontrolle". Dörner bezieht sich auf Levinas, der im internationalen Ethik-Diskurs immer stärkere Beachtung findet. Verantwortung ist immer eine "Verantwortung vom anderen her", und Levinas formuliert weiter: "Das eigentlich Zwischenmenschliche liegt in einer Nicht-Gleichgültigkeit des Einen für die Anderen, in einer Verantwortlichkeit des Einen für die Anderen, noch bevor die in unpersönlichen Gesetzen festgeschriebene Gegenseitigkeit diese Verantwortlichkeit ... überdecken kann" (LEVINAS 1995: 128 f.). Dies bedeutet aber nicht, dass Levinas dem Recht oder der normativen Gerechtigkeit einen minderen Wert zuweist. Seine Sorge gilt auch den "Anderen des Anderen", letztlich den "Fernsten", wofür er die Ebene der Gerechtigkeit einführt. Dies bedeutet: Niemand kann sich verstecken hinter allgemeinen Gesetzen, Vorschriften, irgendwelchen Kodizes oder irgendwelchen Systemzwängen. Das alles lässt Levinas nicht gelten. Zugleich fordert er eine Verbesserung der Gesetze, möglichst auf internationaler Ebene, um den Benachteiligten und Bedrängten ein Mindestmaß an Möglichkeiten zu geben, Subjekt zu sein. Immer aber gilt es, den Einzelnen vor Zumutungen des Systems in Schutz zu nehmen, und immer gilt es, sich von der Not des Anderen berühren zu lassen. Diese verwickelte Dialektik der "Systemethik" levinasscher Provenienz ist von dem Münchener Soziologen Walter L. Bühl in brillanter Weise herausgearbeitet worden (BÜHL 1998).

Bühl sollte für die Public-Health-Ethik-Debatte "entdeckt" und fruchtbar gemacht werden. Sein Hauptargument: Gruppen, Organisationen und Institutionen sind zwar Systeme, deren Rahmen und Struktur mehr oder weniger gute Voraussetzungen für ethisches Handeln bieten, doch ist nicht den Systemen, sondern den darin handelnden Menschen eine Ethik bzw. Kriterien ethischen Handelns überantwortet. Durch ihren Einfluss können Systeme menschlicher werden, was wiederum die Möglichkeiten des Einzelnen, den Ruf nach Verantwortung zu hören, verbessert. Schon Beck wendet sich gegen die Ansicht, Verantwortung sei in hochkomplexen Systemen nicht mehr festmachbar, "verschwinde" gleichsam im Geflecht systemischer Netzwerke, wobei der Verantwortungsbegriff selbst bei Beck noch unklar bleibt (BECK 1988). Bühl hat sich der Mühe einer Differenzierung unterzogen, sowohl soziologisch, indem er Komplexitäten "entflicht", als auch philosophisch, indem er die Verantwortungsbegriffe sortiert. In deren "inneres" dringt schließlich Zygmunt Bauman ein, wobei er vor allem mit den philosophischen Schulen Aristotelischer und Kantscher Prägung hart ins Gericht geht (BAUMANN 1995). Seiner Auffassung nach kann ich mich hinter keiner Gemeinschaft, hinter keiner Autorität, hinter keinem Gesetz, hinter keinem Regelwerk verstecken. Bauman fragt nach der Person und nicht nach der Rolle, nach der persönlichen Moralität in konkreten Situationen und nicht nach der Erfüllung von Loyalitäten oder Pflichten. Und Dörner erinnert uns daran, dass wir im wirklichen Leben nur selten eine Reziprozität - ein kommunikatives Handeln auf Augenhöhe -, sondern oftmals ein Gefälle vorfinden, d.h. dass wir es oftmals, wenn wir beruflich handeln, mit Schwächeren zu tun haben, die uns in die Verantwortung rufen und - wie es Levinas ausdrückt - deren "Geisel" wir sind. Dieser so verstandenen Verantwortung können wir nie ganz gerecht werden; wir bleiben also immer "in der Schuld" (DÖRNER 2001).

Eine weitere brisante Frage wird zur bereichs- und berufsethischen Herausforderung: Die "Maximierung des gesundheitlichen Gesamtnutzens" (SCHRÖDER 2007) birgt - auch wenn programmatisch die individuelle Menschenwürde berücksichtigt wird - immer auch die Gefahr, dass Einzelne und mehr oder weniger große Minderheiten-Kollektive stigmatisiert, sanktioniert und hinsichtlich der allgemeinen Gesundheitsgüter ausgegrenzt werden, sofern vermeintliche oder tatsächliche Gründe des individuellen Fehlverhaltens festzumachen sind. Wir wissen, dass Hartz-IV-Empfänger überdurchschnittlich viel rauchen. Wir wissen auch, dass dahinter sozialpsychologische Ursachenketten stehen. Die teilweise dominierende ökonomistische Sichtweise in der gegenwärtigen Gesundheitspolitik lässt jedoch die Befürchtung einer "Pflicht zur Gesundheit" aufkommen, die beispielsweise das Rauchen an sich zur Fehlhandlung stempelt, ohne die soziale Kontextuierung zu berücksichtigen, ohne im Übrigen etwas gegen die Tabakwerbung zu unternehmen. Die neoklassische Wirtschaftstheorie gibt ohnehin dem Nachfrager, nicht dem oligopolen und manipulativen Anbieter "die Schuld". Derjenige, der ein verseuchtes Haus kauft, ist - nach dieser Lesart - selbst schuld, nicht der Verkäufer und nicht die Bau-Verantwortlichen.

"Volksgesundheit" war immer eine Konzeption, die die "Starken" unterstützen und die "Schwachen" aussortieren sollte. Zur Volksgesundheit gehörte es nie, die in irgendeiner Weise "Empfindlichen" zu schützen. Sie wurden als "genetisch vorbelastet" diffamiert. Nun sollte eine Bereichsethik, in der Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität als unhintergehbare Kernkriterien angesehen werden, einer "volksgesundheitlichen" Funktionalisierung von Public Health einen Damm entgegensetzen. Doch ein Bereich, der von derartig massiven ökonomischen, politischen und marktlogischen Interessen beeinflusst wird, kann auch - je nach makro- und mesopolitischen Kräftekonstellationen - seinen "Charakter" ändern. Niemand weiß, wie es dann, wenn sich marktradikale Interessen durchsetzen sollten, um Public Health bestellt ist. Niemand weiß, ob es nicht auch in der"Bereichsethik" eine Werte-Verschiebung geben wird. Die geistige Haltung jedenfalls großer Teile unserer Wirtschaftselite lässt - wie Ulrich Thielemann aufzeigt - leider nichts Gutes hoffen (THIELEMANN 2009). Gerade dann aber ist eine Public-Health-Berufsethik unverzichtbar. Gerade dann ist ein von ethischen Kriterien geleitetes Berufsverständnis, gleich an welchem Ort ich mich befinde, für meine tägliche Praxis von außerordentlicher Bedeutung. Berufsethik kann dann auch heißen: Informelle horizontale Vernetzungen von Public-Health-Akteuren und -Akteurinnen zu bilden, möglicherweise gegen vertikale Zumutungen und Instrumentalisierungen.


Schlussbemerkungen

Was also können wir tun? Wie sollen wir uns in der Public-Health-Praxis verstehen? Was heißt Professionalität oder ethisch bewusste Beruflichkeit für uns? Eine solche Beruflichkeit erfordert höchstmögliche Sachkompetenz bei gleichzeitig höchstmöglichstem Einfühlungsvermögen; sie erfordert eine Handlungsorientierung, die sich an Kriterien orientiert wie z. B. Verstehen, Respekt, Anerkennung, Selbstbestimmung und Autonomie des Anderen, Beteiligung und Empowerment, aber auch Schutz und Fürsorge für diejenigen, die sich nicht selbst helfen können. Es muss immer darum gehen, die Subjektivität und "die vorhandenen Kräfte des Menschen zu fördern" (Alice Salomon, zit. nach BAUER 2008, 2009). Abzulehnen ist eine Konzeption, deren Hauptkriterien in Anpassung, Integration und Leistungsfähigkeit bestehen. Seyla Benhabib kommt - ausgehend von der feministischen Sorgeethik und der nachkantianischen Gerechtigkeits- und Diskursethik - zu einem ähnlichen Ergebnis: Menschliches Handeln muss sich orientieren an der Würde des konkreten Anderen und zugleich an derjenigen des verallgemeinerbaren Anderen. Immer gehe es dabei - wie weit auch mein Gegenüber entfernt sein mag - um konkrete Prozesse "zwischen Menschen aus Fleisch und Blut" (BENHABIB 1995: 168). Im beruflichen Alltag werden wir immer mit einem "Mix" ethischer Perspektiven zu tun haben: Da ist zum einen die konkrete Sorge um Benachteiligte, d.h. um diejenigen, denen wir Gesundheitsschutz und Gesundheitsförderung zukommen lassen müssen. Da ist zum anderen immer auch die allgemeine Ebene all dessen, was wissenschaftlich noch im Bereich des Nichtwissens und globalpolitisch im Bereich des Noch-Nicht-Erreichbaren liegt. Zu denken ist hier nur an die massenhaften Giftmüllexporte in Länder der Dritten Welt. Grundsätzlich bin ich für die gesundheitlichen Folgen, unter denen die so betroffenen Menschen leiden, verantwortlich, auch wenn mein berufliches Handeln mir angesichts der Dimension des Problems ohnmächtig erscheint. Mit dem kritischen Nachdenken darüber beginnt Ethik. (Nach einem Vortrag auf dem 15. Kongress Armut und Gesundheit am 4./5.12.2009 in Berlin)


Kontakt:
Dr. Wolfgang Hien
Forschungsbüro für Arbeit, Gesundheit und Biographie
Am Speicher XI 9
28217 Bremen
Tel.: 0421-699 40 77
E-Mail: kontakt@wolfgang-hien.de
Internet: www.wolfgang-hien.de


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Quelle:
umwelt · medizin · gesellschaft Nr. 2/2010, (Juni 2010)
23. Jahrgang, S. 140 - 143
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Oktober 2010