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FORSCHUNG/2099: Genetik - Schlafgene halten uns im Bett (eu*research)


research*eu - Nr. 61, Juli 2009
Magazin des Europäischen Forschungsraums

Schlafgene halten uns im Bett

Von Audrey Binet


Langschläfer oder Kurzschläfer? Der Schlafbedarf ist eine Frage der Gene! Welche genetischen Mechanismen uns ins Reich der Träume schicken, ist zwar gut bekannt. Weitaus weniger wissen die Spezialisten dagegen, welche Gene bestimmen, wie viel Zeit wir dort verbringen. Seit jedoch neuerdings die Taufliege - Drosophila - in diesem Forschungsbereich als Tiermodell verwendet wird, konnten bereits einige Schlüsselgene ausfindig gemacht werden.


"Man kann das Leben der Menschen nicht richtig beschreiben, wenn man es nicht auch in den Schlummer hinein verfolgt, von dem es Nacht für Nacht umspült wird wie eine Halbinsel vom Meer", schrieb Marcel Proust in seinem Roman "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit". Der Schlaf, den sich eine Vielzahl von Arten seit Jahrmillionen bewahrt, nimmt beim Menschen ein Drittel seines Lebens ein. Warum lassen sich Lebewesen täglich in diesen Zustand der teilweisen Bewusstlosigkeit gleiten, der sie so verwundbar macht?

Trotz des lebensnotwendigen und universellen Charakters des Schlafs bleibt die Frage offen, und eine ganze Reihe von Mechanismen, die diesen Zustand steuern, geben Rätsel auf. Aber seit etwa zehn Jahren häufen sich die Forschungsarbeiten über die Regulierung des Schlafs, die Verfahren der molekularen und genetischen Analyse entwickeln sich rasch, und der Schlaf gibt nach und nach seine Geheimnisse preis. Um zu enträtseln, wie und warum wir uns jede Nacht ganz natürlich in Morpheus Arme begeben, nehmen sich vor allem Genetiker des Schlafs an. Eine Identifizierung der Gene, die an der Regulierung des Schlafs beteiligt sind, könnte nicht nur Antworten auf diese fundamentalen Fragen liefern, sondern auch den Weg zu neuen Behandlungsmethoden von Schlafstörungen bereiten.


Defizit, Uhr und DNA

Wann der Schlaf kommt, wie lange er dauert und wie erholsam er ist, hängt vom Zusammenspiel zweier Kräfte ab: dem homöostatischen Defizit und der Phase unseres zirkadischen Rhythmus. Ersteres ist ein Ausdruck unseres Schlafbedarfs, der mit der Dauer der Wachzeit steigt und während der Schlafphasen abnimmt. Er erklärt beispielsweise unser Bedürfnis, nach einer durchgemachten Nacht "Schlaf nachzuholen". Die zweite Kraft wird von unserer biologischen Uhr bestimmt, deren Rhythmus zwar körpereigen ist, aber trotzdem vom Licht beeinflusst wird. "Der Schlaf wird durch die Dauer und die Qualität der vorhergehenden Wachphase sowie durch die zirkadische Uhr reguliert. Bei einem Zyklus von etwa 24 Stunden und wenn der Schlaf-Wach-Rhythmus normal ist, bestimmt die innere Uhr den richtigen Zeitpunkt für Schlaf oder Aktivität. Deshalb schlafen wir leichter nachts als tags", erklärt Tarja Porkka-Heiskanen vom Institut für Biomedizin der Universität Helsinki (FI), Koordinatorin des europäischen Projekts Enough Sleep. Im Rahmen dieses im November 2008 beendeten Projekts arbeiteten etwa ein Dutzend Partner an Fragen der Homöostase und Störungen der Schlafregulierung.

Obwohl alle Menschen diesen beiden großen Prozessen der Schlafregulierung unterworfen sind, gibt es - mitunter deutliche - Abweichungen. Manche kommen mit fünf Stunden Schlaf aus, während andere mit acht noch nicht ausgeschlafen sind. Auch die Zeit, zu der man sich zu Bett begibt oder die Menge Schlaf, die man benötigt, um gut zu funktionieren, sind individuell unterschiedlich. Und das kommt nicht von ungefähr: Der Schlaf ist genetisch festgelegt. "Der elektrophysiologische Abdruck des Schlafs (die elektrische zerebrale Aktivität und die in diesem Zustand aufgezeichneten physiologischen Parameter) gehört zu den am stärksten vom Erbgut beeinflussten Eigenschaften des Menschen. Die Schlafforschung bei Zwillingen zeigte auch, dass der Zeitpunkt und die Dauer des Schlafs genetisch bestimmt sind", unterstreicht Tiina Paunio, Forscherin am National Institute for Health und Welfare in Finnland und Verantwortliche für die genetischen Analysen im Rahmen des Projekts Enough Sleep.


Unterstützung durch Drosophila

Also ist unsere DNA dafür verantwortlich, ob wir früh zu Bett gehen oder Nachtschwärmer sind, ob wir Langschläfer sind oder nur wenig Schlaf brauchen. "Sowohl die Dauer als auch der Zeitpunkt des Schlafs sind genetisch definiert", erklärt Amita Sehgal, Professorin für Neurowissenschaften am Howard Hugues Medical Institute der Universität Pennsylvania (US), die sich auf die Erforschung der genetischen und molekularen Mechanismen spezialisiert hat, welche die zirkadischen Rhythmen und den Schlaf regulieren. "Mehrere Studien haben gezeigt, dass die Mutation bestimmter Gene bei Tieren Dauer und Zeitpunkt des Schlafs beeinflusst. Man weiß allerdings wesentlich mehr über die Mechanismen und Gene in Verbindung mit dem Zeitpunkt des Schlafs als über jene, welche die Dauer bestimmen", führt Amita Sehgal fort.

Eine wichtige Partnerin bei der Erforschung der Regulierung des Schlafs ist die Schwarzbäuchige Taufliege oder lateinisch Drosophila melanogaster. Der kleine Zweiflügler gehört zu den am meisten für die biologische Forschung verwendeten Modellorganismen, vor allem in der Genetik. Die kleine und leicht zu züchtende Drosophila mit ihren kurzen Generationszyklen ist das ideale Versuchstier, um die Auswirkungen der Mutation eines oder mehrerer Gene auf das Verhalten zu untersuchen. Als im Jahr 2000 zwei US-amerikanische Forscherteams gleichzeitig entdecken, dass die bei diesem Insekt beobachteten Ruhephasen mit Schlaf gleichgesetzt werden können, wird Drosophila zum Studienmodell für die genetische "Sezierung" dieses Zustands. Ist es verrückt zu versuchen, den Schlaf des Menschen am Beispiel einer Fliege zu verstehen? Die Autoren zeigen in beiden Studien, dass das Schlafverhalten von Drosophila dem des Menschen stark ähnelt. Genau wie der Mensch bleibt die Taufliege sechs bis zwölf Stunden pro Nacht ruhig und unbeweglich und reagiert nicht auf Reize. Und wenn man sie am Schlafen hindert, holen sowohl der Mensch als auch seine geflügelte Kollegin den Schlafmangel in der darauf folgenden Nacht nach. Und schließlich schläft die junge Drosophila mehr als ihre ältere Schwester, deren Schlaf stärker fragmentiert ist.


Eine Mutation auf Kosten des Schlafs

Die Gene, die den Bedarf und damit die Dauer des Schlafs steuern, waren etwas schwieriger ausfindig zu machen. Jedoch konnten in den letzten Jahren mehrere Anwärter ermittelt werden. 2005 entdeckte ein US-amerikanisches Team der Universität Wisconsin (US) die Rolle des Shaker-Gens für die Dauer des Schlafs bei Drosophila melanogaster. Dieses Gen kodiert für die Kaliumkanäle, die den Eintritt von Kaliumionen (K+) in die Zelle steuern und damit einen Einfluss auf die elektrische Aktivität der Neuronen ausüben. Bei der Suche nach den für die Dauer des Schlafs verantwortlichen Faktoren untersuchten die Wissenschaftler knapp 9000 mutierte Drosophila-Fliegen. Dabei stießen sie auf eine Drosophila-Linie, bei der die Schlafdauer nur ein Drittel derer der "normalen" Fliegen betrug.

Diese Kurzschläferinnen zeigten zudem ein Zittern der Beine beim Erwachen, sodass sich die Forscher für das Shaker-Gen interessierten, das für dieses Phänomen verantwortlich ist. Die genetischen Analysen ergaben. dass die Mutation einer einzigen Aminosäure dieses Gens die Bildung eines funktionellen Kaliumkanals auf der Zellmembran verhinderte, was nebenbei die zelluläre K+-Regulierung beeinträchtigte. Neben der direkten Verbindung zwischen dieser Variante des Shaker-Gens und der kurzen Schlafdauer der betroffenen Drosophila-Fliegen fällt interessanterweise auf, dass diese wenig schlafenden Fliegen auch eine deutlich reduzierte Lebenserwartung hatten. Diese in Nature veröffentlichte Entdeckung bestätigt, wie frühere Studien nahelegten, die herausragende Rolle von Kalium bei der Regulierung des Schlafs, weist aber auch auf das Shaker-Gen als einen wichtigen Faktor in der Genetik des Schlafs hin. Lassen sich diese Beobachtungen auf den Menschen übertragen? Bisher gibt es noch keine Beweise dafür, dass der Mensch Kaliumkanäle besitzt, die denen von Drosophila ähneln. Die Forscher haben jedoch ihre Versuche von der Taufliege auf Säugetiere verlegt: "Das Shaker-Gen existiert auch bei der Maus, und Studien haben gezeigt, dass dieses Gen auch den Schlaf der Nager beeinflusst.


Schlafbedarf eine Frage der Erregbarkeit

Ein weiterer wichtiger Faktor in der Schlafgenetik wurde Ende 2007 in Proceedings of the National Academy of Sciences von einem Team der biologischen und medizinischen Fakultät der Universität Lausanne (CH) aufgedeckt. Indem sie Mäusen verschiedener Stämme den Schlaf entzogen, stellten die Forscher fest, dass das Schlafbedürfnis nicht bei allen Tieren in gleicher Weise anstieg. Die Analyse des Ausdrucks aller Gene im Gehirn der Mäuse zeigte, dass der unterschiedliche Schlafbedarf vor allem vom Homer1a-Gen abhängig ist. Dieses Gen, das auch bei der Erregbarkeit der Neuronen eine Rolle spielt, ist ein wichtiger Faktor für die Regulierung des Kalziumgehalts der Zellen (CA++). Der Wachzustand verursacht den Einstrom von Kalzium in die Neuronen, damit sie auf eingehende Reize reagieren können. Zu viel Ca++ kann jedoch toxisch für die Neuronen werden. Den Autoren zufolge würde der Schlaf also ermöglichen, dass mithilfe des Homer1a-Gens der Prozess der Ca++-Regulierung ausgelöst wird. Diese Ergebnisse könnten gleichzeitig unser Bedürfnis zu schlafen erklären und die Tatsache, dass nicht alle gleich auf Schlafentzug reagieren. Den Schweizer Forschern zufolge könnte diese Entdeckung auch den ersten molekularen Nachweis für die Rolle des Schlafs für die Schutz- und Erholungsmechanismen des Gehirns liefern.

Im Juli letzten Jahres wurden in Science die Ergebnisse einer von Amita Sehgal durchgeführten Studie veröffentlicht, welche die Auswirkungen einer Mutation im Bereich eines Gens mit der Bezeichnung "Sleepless" auf den Schlaf von Taufliegen zeigen. Dieses Gen kodiert für ein Protein, das, wenn es im Gehirn der Fliegen freigegeben wird, die Erregbarkeit der Nervenzellmembranen reduziert und das Bedürfnis zu schlafen auslöst. Bei Fliegen mit einem mutierten Sleepless-Gen, die dieses Protein nicht bilden konnten, war der tägliche Schlaf um 85 % oder gar 100 % reduziert.

Schließlich bestätigte Anfang 2009 eine neue, von Wissenschaftlern der North Carolina State University (US) durchgeführte und in Nature Genetics veröffentlichte Studie, dass der Schlaf von Drosophila melanogaster "genetisch programmiert" ist. Die genetische Analyse der 40 Taufliegenstämme, die für diese Studie verwendet wurden, ermöglichte die Identifizierung von 1700 Genen, die für die Variabilität des Schlafs bei Drosophila verantwortlich sind. Die Autoren vermuten bereits, dass einige dieser Gene eine Rolle bei der Regulierung der Schlafdauer spielen.


Bessere Hypnotika in Sicht?

"Es gibt noch viel auf dem Gebiet der genetischen Regulierung des Schlafs zu erforschen. wie beispielsweise die sequenzielle Organisation der Expression der 'Schlafgene' und die Veränderung ihrer Expression im Lauf der Zeit", erklärt Tiina Paunio. Denn der Schlaf bleibt im Lauf eines Lebens nicht gleich. Schlafstörungen können mit fortschreitendem Alter, unter Einwirkung von Stress oder von Erkrankungen wie Schlafapnoe oder Depressionen auftreten und die Dauer und die Qualität dieses für unser körperliches und geistiges Wohlbefinden wesentlichen Zustands beeinträchtigen. Das kürzlich abgeschlossene europäische Projekt PROUST zeigte, wie wichtig es ist, die "Zeit" als vierte Dimension des Lebens in die biomedizinische Forschung aufzunehmen. Ein Teil dieses Projekts beschäftigte sich insbesondere mit der Regulierung der den Schlaf betreffenden Gene im Lauf der Zeit.

Schlafmangel führt zur Einschränkung der kognitiven Fähigkeiten und der Immunantwort, zur Deregulierung des Stoffwechsels und zur Reduzierung der Aufmerksamkeit. Versteht man den Schlaf und die Mechanismen, die ihn regulieren, ließe sich die Lebensqualität der Menschen, die unter Schlafstörungen leiden. verbessern, weil dadurch gezieltere Behandlungsmöglichkeiten als die derzeit verordneten Schlafmittel entwickelt werden könnten. Zwar wurden bestimmte Zonen der Tiefen, in die des Nachts die gewöhnlichen Sterblichen abtauchen, kürzlich durch wissenschaftliche Erkenntnisse erhellt, aber es wird noch lange dauern, bis die Spezialisten alle Teile des Puzzles gefunden und zusammengesetzt haben und endlich ruhig schlafen können.


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Morpheus gegen Übergewicht

Chronischer Schlafentzug wirkt sich auf die Stoffwechselregulierung unseres Organismus aus, und zwar vor allem auf die physiologische Regulierung des Essverhaltens. Verschiedene experimentelle Arbeiten ergaben, dass sich starkes Übergewicht mit kurzen Schlafzeiten in Verbindung bringen lässt. Morpheus soll also vor Übergewicht schützen, aber mit welchen Waffen? Nachts erzeugt der Körper das Hormon Leptin, auch Sättigungshormon genannt, das ein Hungergefühl verschwinden lässt. Am Tage dagegen wird das Hungerhormon, Grehlin, produziert, um die Nahrungsaufnahme anzuregen. Ist die Schlafdauer reduziert, steigt auch die Grehlinproduktion und damit auch der Appetit des Betroffenen.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Studie über die Auswirkungen von Lärm auf den Schlaf. Die Forscher untersuchen die zerebralen und kardiovaskulären Reaktionen von schlafenden Probanden, die man Zug-, Flugzeug- oder Straßenlärm aussetzt.
Sie analysieren zudem die Auswirkungen dieser nächtlichen Störungen auf die kognitiven Leistungen und die Stimmung am folgenden Tag. Diese Geräusche stören die Schlafstruktur und verursachen vegetative Reaktionen des Herzkreislaufsystems, die langfristig einen Risikofaktor für das Auftreten von Myokardinfarkten darstellen können. Der Versuch wird im Forschungszentrum für angewandte Physiologie in Straßburg (FR) durchgeführt.

Bilder aus einem 10-minütigen Video, das eine Drosophila mit mutiertem Sleepless-Gen (rechts) und eine "normale" Fliege (links) zeigt. Letztere bleibt eine Weile unbeweglich, während sich die erstere mehrmals bewegt. Der tägliche Schlaf der Drosophila mit mutiertem Sleepless-Gen kann tatsächlich um 85% bis 100% reduziert sein.


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Quelle:
research*eu - Nr. 61, Juli 2009, Seite 32-34
Magazin des Europäischen Forschungsraums
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Dezember 2009