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FORSCHUNG/1959: Mit "LIFE" Volkskrankheiten erforschen (UFZ-Newsletter)


Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung GmbH - UFZ
UFZ-Newsletter März 2009

Mit "Life" Volkskrankheiten erforschen

Interview mit Prof. Dr. Joachim Thiery,
Dekan der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig


Epidemiologische Studien, um den Ursachen für die unterschiedlichsten Zivilisationskrankheiten auf die Spur zu kommen, gibt es viele. Was ist neu und anders bei LIFE?

National und international einmalig bei LIFE ist die Kombination von Kohortenstudie, Analytik, Funktionsaufklärung und wirtschaftlicher Verwertung - und das alles am selben Standort. LIFE weist mehrere Besonderheiten auf. Erstens wird mit 10.000 Erwachsenen und 5.000 Kindern eine der größten deutschen Bevölkerungskohorten aufgebaut. Zweitens wird diese Populationsstudie direkt mit Krankenkohorten am selben Standort kombiniert und verglichen. Sie umfassen weitere 10.000 Patienten und betreffen Krankheiten, für die in der Leipziger Universitätsmedizin herausragende wissenschaftliche und klinische Kompetenz etabliert ist. Hierzu zählen Atherosklerose mit Herzinfarkt und Schlaganfall, juvenile Adipositas, Stoffwechselstörungen und Diabetes, Demenz und Depressionen, Entzündungen der Bauchspeicheldrüse, Kopf-Hals-Tumore und Allergien. Diese Erkrankungen sind auch von höchster volkswirtschaftlicher Bedeutung. Die Gruppen werden ausführlich in einer klinischen LIFE-Studienambulanz mit medizinischen Funktionsmethoden und moderner Bildgebung (Ultraschall, Kopf-MRT) auf Merkmale von Zivilisationskrankheiten und bekannte Risiken untersucht. Es werden in die Tiefe gehende bioanalytische Untersuchungen und Zellfunktionstests durchgeführt und eine kontrollierte Biobank etabliert. Drittens erforschen Arbeitsgruppen der Medizin, der naturwissenschaftlichen Fakultäten der Universität und außeruniversitärer Forschungseinrichtungen die Funktionen, methodische Anwendungsstrategien und molekulare Grundlagen neuer diagnostischer und therapeutischer Zielmoleküle, um die besten Kandidaten für eine Translation in die Medizin zu ermitteln.


Wo sehen Sie die Rolle des UFZ?

Inhaltliche Schnittpunkte zwischen LIFE und UFZ sind zunächst die Zusammenhänge von Allergien, Fremd- und Schadstoffen und Immunsystem sowie das Thema Fremdstoffmetabolismus, das ja im Rahmen eines neuen Departments am UFZUniversitätsklinikum ausgebaut werden soll. Dann können wir auf wertvolle Informationen aus den UFZ-Studien LiNA* und LISA** aufbauen, weil sie die Grundlage legen für die Schadstoffbelastung in der Bevölkerung, in der Lebensumgebung der Probanden. Sie brauchen heute bei jeder epidemiologischen Studie Vergleichsgruppen, bei denen sie neue Befunde replizieren oder bestätigen können. Das UFZ ist aber auch ein technologisch wichtiger Partner mit seiner hochmodernen Ausstattung in den Bereichen der Massenspektrometrie und Schadstoffanalytik. Im UFZ werden neue analytische Methoden entwickelt, die wir für die klinischen Studien übernehmen können. Umgekehrt werden Erkenntnisse und Spitzentechnologien aus dem klinischen Programm auch an das UFZ zurückgegeben. Wir erhoffen uns, dass LIFE eine nachhaltige Verbindung von Universität und UFZ unterstützt.

* LiNA untersucht Lebensstil und Umweltfaktoren und deren Einfluss auf das Neugeborenen-Allergierisiko

** LISA untersucht Einflüsse des Lebensstils auf das Immunsystem und die Entstehung allergischer Erkrankungen bei Kindern


Welche konkreten Erkenntnisse und Ergebnisse erhoffen sie sich?

Wir wissen sehr viel über Risikofaktoren wie Fettstoffwechselstörung, Diabetes, Rauchen, Genussmittel oder Altersrisiken der Hirnfunktion - also was uns rein statistisch krank macht. Aber wir wissen nicht so richtig, warum das in so unterschiedlichem Ausmaß geschieht. Warum tolerieren viele Menschen Umweltbelastungen, während andere unter den gleichen Bedingungen ein fatales Ereignis wie zum Beispiel einen Herzinfarkt in jungem Alter ohne Risikofaktoren erleiden? Es geht also darum zu verstehen, warum der Organismus so unterschiedlich auf vergleichbare Reize reagiert, ob und warum Lebensumstände und Lebensstil zur variablen Ausprägung bestimmter Krankheiten führen und welche Rolle dabei die Reaktion von Zellen und der genetische Code spielen. Die vielen Stoffwechselwege in einer Zelle sind recht gut bekannt. Wir wissen aber nicht, welche Auswirkungen es auf eine Krankheitsentstehung hat, wenn an einer Stelle in diesem komplexen Netzwerk ein Enzym oder Signalprotein einen Schwung schneller arbeitet als ein anderes. Wenn wir solche Schlüsselstellen im Schaltkreis einer Zelle finden und aktivieren oder deaktivieren können, dann könnten wir ein neues therapeutisches Zielmolekül vor uns haben. So entstehen heute neue Wirkstoffe. Parallel dazu muss die Diagnostik entwickelt und angepasst werden, damit die Personen frühzeitiger identifiziert werden können, bei denen z. B. eine solche Funktionsstörung in einem krankheitsassoziierten Schaltkreis vorliegt. Ziel ist am Ende die Entwicklung einer gezielteren Diagnostik mit anschließender individualisierter Therapie. Das ist natürlich noch ziemlich viel Zukunftsmusik! Aber die LIFE-Studien bieten uns hier eine einzigartige Chance.


Wie gewinnen sie die 15.000 Studienteilnehmer und was genau kommt auf sie zu?

Die Probanden werden im Herbst 2009 in enger Kooperation mit der Stadt Leipzig zu einer ausführlichen Untersuchung in Bezug auf die beschriebenen Krankheitsbilder eingeladen. Die Teilnahme ist völlig freiwillig. Zu den Untersuchungen gehören ein Interview zu Lebens- und Ernährungsgewohnheiten, Ultraschalluntersuchungen der Blutgefäße an Hals, Leber und Herz, ein Belastungs-EKG, Hirnfunktionsuntersuchungen bis hin zum Hirn-MRT, um nach Gefäßveränderungen vor allem bei älteren Probanden zu suchen. Wir sehen die Untersuchungen als einen Vorteil zur Früherkennung von Risiken an, die dann von den Hausärzten behandelt werden können. Die Rekrutierungen sollen 2011 weitgehend abgeschlossen werden. Das ist nicht viel Zeit. Aber wir müssen schnell sein, denn sonst verändern sich Rahmenbedingungen, Untersuchungsmethoden oder Lebensstil. Und wir stehen natürlich auch in einem internationalen Wettbewerb der Wissenschaft.


Gibt es für LIFE ein Ethik-Komitee?

Ja, es wird jetzt ein hochrangiges, mit Experten besetztes Ethik-Komitee berufen. Wir werden alle ethischen Fragen der Befunderhebung und Datenverwendung transparent machen. Alle Daten und Proben werden pseudonymisiert und treuhänderisch gesichert. Das heißt, eine Zuordnung von Personen, die an dieser Studie beteiligt sind, ist nach außen nicht möglich. Jeder LIFE-Teilnehmer hat das Recht, dass seine Befunde, Bioproben und Informationen jederzeit wieder gelöscht werden können.


Sie wollen mit LIFE über 100 neue und qualifizierte Arbeitsplätze in verschiedenen Berufsbereichen schaffen. In welchen?

LIFE wird zu einem wesentlichen Ausbau der biomedizinischen und biotechnologischen Wissenschafts- und Wirtschaftsregion Leipzig führen. Bereits über die LIFE-Förderung wird es eine Vielzahl von Ärzten, Pflegekräften, Naturwissenschaftlern, technischem Personal geben, die wir verfestigen möchten. Wir erwarten, dass neue biomedizinische Produkte, Verfahren und Dienstleistungen entwickelt werden, dass in der Bioinformatik, Durchsatzanalytik, Materialentwicklung, Entwicklung von Chips und Untersuchungsträgern zahlreiche neue, qualifizierte und vor allem dauerhafte Arbeitsplätze entstehen. Deshalb arbeiten wir von Anfang an eng mit der Stadt Leipzig zusammen, stehen aber auch mit dem Wirtschaftsforschungsinstitut in Halle in Kontakt.


Fast zeitgleich mit LIFE fiel der Startschuss für die Helmholtz-Kohorte, die einmal 200.000 Probanden umfassen soll und ebenfalls untersuchen möchte, warum gesunde Menschen krank werden. Gibt es eine Schnittmenge zwischen den beiden Vorhaben?

Die Helmholtz-Kohorte befindet sich noch in einem Planungsstadium und wird mehrere Populationen einschließen, die von verschiedenen Helmholtz-Zentren und einzelnen Universitäten rekrutiert werden. Wir stehen in engem Kontakt mit den Organisatoren der Helmholtz-Kohorte und wollen uns gerade bei den Basisuntersuchungen miteinander abstimmen. Es ist vorgesehen, LIFE langfristig als Modul in die noch aufzubauende Helmholtz-Kohorte einzubringen. Es ist keine Doppelung, sondern eine geplante, wichtige und überaus Erfolg versprechende Ergänzung.


Wie geht es nach der Projektlaufzeit, also nach 2013 weiter?

Das Projekt ist trotz seiner Größe eine "Starthilfe", es werden in den nächsten zwei bis drei Jahren weitere Projekte darauf aufbauen. Wir können davon ausgehen, dass sich LIFE nach fünf Jahren wirtschaftlich weitgehend selbst tragen wird. Und wir wollen mit den Studienambulanzen, der Biobank und Biotechnologiekompetenz, die mit LIFE auf- und ausgebaut werden, eine nachhaltige Grundlage legen für ein Leibniz oder Helmholtz-Institut, das sich mit medizinischer Systembiologie und molekularer Medizin befasst.


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LIFE

LIFE steht für Leipziger Interdisziplinäres Forschungsprogramm zur Identifizierung neuer Zielmoleküle Lebensstil- und umweltassoziierter Erkrankungen. Das Forschungsprojekt wird im Sächsischen Exzellenzwettbewerb mit insgesamt 38 Millionen Euro vom Freistaat Sachsen und der Europäischen Union über fünf Jahre gefördert.

Ziel von LIFE ist es, mithilfe modernster biotechnologischer Analytik, Bildgebung und Bioinformatik die molekularen Ursachen bedeutender lebensstil- und umweltassoziierter Volkskrankheiten zu erforschen. Dazu gehören Atherosklerose mit Herzinfarkt und Schlaganfall, Fettstoffwechselstörungen und Diabetes mellitus, Demenz und Depression, Erkrankungen der Bauchspeicheldrüse, Kopf-Hals-Tumore und Allergien. Sie sind für über 60 Prozent aller Todesfälle und Erkrankungen in unserer Bevölkerung verantwortlich. Das Forschungsprogramm LIFE wird von Prof. Dr. Joachim Thiery, Direktor des Instituts für Laboratoriumsmedizin, Klinische Chemie und Molekulare Diagnostik (ILM), Universitätsklinikum Leipzig, und von Prof. Dr. Markus Löffler, Direktor des Instituts für Medizinische Informatik, Epidemiologie und Statistik (IMISE) der Universität Leipzig, als Sprecher geleitet. Es umfasst Projekte, die von über 20 international ausgewiesenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Universität Leipzig, dem Universitätsklinikum Leipzig und außeruniversitären Forschungseinrichtungen getragen wird. Das UFZ ist mit mehreren Arbeitsgruppen aus dem Fachbereich Gesundheit und der molekularen Spektroskopie beteiligt.


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Quelle:
UFZ-Newsletter März 2009
Herausgeber: Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung GmbH - UFZ
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. März 2009