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NACHSORGE/063: Demografischer Wandel - Anforderungen an die Rehabilitation (SHÄB)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 11/2011

Rehabilitation
Demografischer Wandel: Anforderungen an die Rehabilitation

Von Nathalie Glaser-Möller, Ruth Deck, Heiner Raspe


Die Deutsche Rentenversicherung (DRV) bietet berufsbezogene Modellprojekte. Enge Kooperation mit der Universität Lübeck.


Einem 2011 veröffentlichten Bericht des Innenministeriums zur Bevölkerungsentwicklung in Schleswig-Holstein zufolge wird es im Jahr 2025 schon 55.000 Erwerbspersonen weniger geben als heute. Der in manchen Branchen bereits beobachtete Fachkräftemangel wird sich voraussichtlich noch verschärfen. Bei diesen Vorausberechnungen wurde angenommen, dass die Erwerbsquote der Männer unter 50 Jahren in etwa konstant bleibt, die der Frauen unter 50 Jahren weiter steigt. Es wird ferner angenommen, dass bei den Älteren durch die Heraufsetzung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre sowie aufgrund der eingeschränkten Zugangsvoraussetzungen zur vorgezogenen Rente die Erwerbsquoten bei Männern und Frauen deutlich ansteigen. Die Altersstruktur der Erwerbspersonen wird sich stark verändern.

Während zur Zeit in etwa 28 Prozent aller Erwerbspersonen im Land älter als 50 Jahre sind, wird ihr Anteil 2025 voraussichtlich bei 38 Prozent liegen.(1) Allein aufgrund der altersbedingten Zunahme von chronischen Erkrankungen und Multimorbidität bei Beschäftigten in höherem Alter(2) müssen die o.g. Maßnahmen zur Steigerung der Anzahl von Erwerbspersonen mit der gezielten Förderung der Beschäftigungsfähigkeit älterer Arbeitnehmer einhergehen, um das Verbleiben in der Berufswelt zu gewährleisten(3). Berufserfahrung und - wissen älterer Beschäftigter sind für Betriebe wichtige ökonomische Ressourcen. Gleichzeitig unterliegt die Arbeitswelt einem Wandel, der sich aus der Sicht der Arbeitsagentur durch folgende Entwicklungen umreißen lässt(4):

1. Informatisierung und Übergang zur wissensbasierten Gesellschaft

2. Globalisierung der Wirtschaft und der Arbeitsmärkte mit Einfluss auf Arbeitsorte und Arbeitsbedingungen, Konkurrenzsituation und Zumutbarkeit

3. Flexibilisierung der Arbeitsorganisation und der Erwerbsformen (u.a. Selbstständigkeit, Telearbeit)

4. Höherqualifizierung der Erwerbsbevölkerung, lebenslanges Lernen

5. Entkoppelung der Erwerbsarbeit von Qualifizierung und sozialer Sicherung

6. Entstandardisierung der Erwerbsbiografien

7. Entberuflichung von Qualifizierungsprozessen; der Beruf erhält nur für einen Teil der Erwerbstätigen und Arbeitsplätze seine Bedeutung.

Dies erfordert ein Umdenken von allen Beteiligten. Arbeitgeber sind gefordert, arbeitsplatzbezogene Anpassungen für ältere Arbeitnehmer auszuloten, Arbeitnehmer in höherem Alter müssen sich durch kontinuierliche Fortbildungen an die laufenden Entwicklungen anpassen.

Stellenwert der Rehabilitation:
Ziel der medizinischen und beruflichen Rehabilitation ist der Erhalt bzw. die Besserung der Erwerbsfähigkeit sowie der Teilhabe am gesellschaftlichen und beruflichen Leben(5). Dieses Ziel erhält unter den gegebenen Bedingungen eine besondere Relevanz und veränderte Schwerpunkte: Rehabilitation wird künftig vermehrt von älteren Erwerbstätigen in Anspruch genommen werden und sie muss auf die veränderten Rehabilitanden- und Arbeitsstrukturen gezielt mit passgenauen rehabilitativen und präventiven Angeboten reagieren. In diesem Zusammenhang engagiert sich die DRV als Leistungsträger bereits seit einiger Zeit verschiedenen Modellprojekten der medizinischen beruflich orientierten Rehabilitation.

Neben der Zusammenarbeit mit den behandelnden Ärzten bekommt auch die engere Kooperation von Reha-Einrichtungen und Betriebsärzten eine zunehmende Bedeutung. Eine rechtzeitige Identifikation von Reha-Bedarf durch den Betriebsarzt, die Anpassung des Reha-Inhalts an die Arbeitsplatzanforderungen und anschließende betriebsärztliche Maßnahmen zur Sicherung der beruflichen Wiedereingliederung können dazu beitragen, dass ältere Beschäftigte ihren Arbeitsplatz ausführen können.

Im Juli 2011 hat die DRV Nord eine Kooperationsvereinbarung mit dem Verband der Betriebs- und Werksärzte in Schleswig-Holstein abgeschlossen. (Nähere Informationen unter www.deutsche-rentenversicherung-nord.de - Angebote für spezielle Zielgruppen: Betriebs- und Werksärzte).(7)

Die gegenwärtige Zusammensetzung der Rehabilitanden in den Reha-Kliniken spiegelt bereits die veränderte Altersstruktur der Gesellschaft wider.(8, 9) Dies unterstreicht die wachsende Bedeutung der medizinischen Rehabilitation insbesondere für Erwerbsfähige und -tätige der Altersgruppe über 55 Jahre.

Eine sorgfältige Analyse der aktuellen Situation zeigt jedoch auch kritische Aspekte. Die Rehabilitation erzielt bei älteren Versicherten geringere Effekte hinsichtlich der beruflichen Leistungsfähigkeit als bei jüngeren Versicherten.(10) Durch schriftliche Befragungen wissen wir, dass ältere Rehabilitanden (> 55 Jahre) krankheitsspezifisch sowie krankheitsassoziiert eine andere Beschwerdelast als jüngere Rehabilitanden aufweisen und dass sie sich darüber hinaus in ihren Reha-Erwartungen und -Zielen von den Jüngeren unterscheiden(10, 11). Die aktuellen indikationsspezifischen Reha-Therapiestandards der Deutschen Rentenversicherung definieren evidenzbasierte Therapiemodule mit Angaben zu Therapiedauer und -frequenz. Die assoziierten Krankheiten, die in Kombination mit der Erstdiagnose die berufliche Leistungsfähigkeit insbesondere bei älteren Versicherten erheblich beeinflussen können, wurden bisher nicht berücksichtigt.(12) Schließlich ist zu bedenken, dass trotz Zunahme des quantitativen Rehabilitationsbedarfs die Haushaltsmittel für Rehabilitation budgetiert sind. Ob eine bedarfsgerechte Anpassung erfolgt, ist derzeit ungewiss.

Sektion "Rehabilitation und Arbeit" am Institut für Sozialmedizin der Universität Lübeck:
Die Rentenversicherung hat den Auftrag, die Erwerbsfähigkeit älterer Versicherter zu erhalten, unter Einsatz sämtlicher Möglichkeiten der Rehabilitation. Die Defizitanalyse zeigt, dass innovative Wege und Verfahren entwickelt und wissenschaftlich evaluiert werden müssen, um die Berufs- und Arbeitsfähigkeit älterer Versicherter zu erhalten. Die Intervention muss langfristig wirksam und finanziell leistbar sein. Die DRV Nord hat sich entschieden, gemeinsam mit der Universität Lübeck eine Sektion zum Thema "Rehabilitation und Arbeit" mit einer gestifteten Professur am Institut für Sozialmedizin einzurichten. Die Förderung durch die DRV Nord ist auf sechs Jahre begrenzt. Die Arbeit der Sektion wird nach Ablauf dieser Zeit evaluiert. Bei positiver Bewertung hat sich die Universität Lübeck bereit erklärt, die komplette Finanzierung der Sektion zu übernehmen. Die Sektion wird sich u.a. mit folgenden Forschungsfragen der Rehabilitation älterer Versicherter befassen: Untersuchung reharelevanter Belastungen und Beanspruchungen älterer und alternder Versicherter, Entwicklung systematischer altersentsprechender Assessments, die insbesondere die somatische und psychische Komorbidität in ausreichendem Maß berücksichtigt, Individualisierung, Flexibilisierung und problemorientierte Intensivierung der Rehabilitation unter Berücksichtung des gesamten Leistungsspektrums der Sozialleistungsträger (stationäre, ambulant ganztägige und ambulante medizinische Maßnahmen, Qualifizierungs- und Integrationsmaßnahmen, Hilfsmittel, stufenweise Wiedereingliederung etc.), Identifikation und Stärkung von individuellen psychischen und sozialen Ressourcen während der Rehabilitation, Weiterentwicklung von Maßnahmen zur langfristigen Verstetigung von Reha-Effekten, Unterstützung der Arbeitgeber beim betrieblichen Eingliederungsmanagement.

Die Forschungsarbeiten der Sektion werden durch folgende Überlegungen geprägt: Ein zunehmender Teil der Rehabilitanden wird künftig durch geringe Schul- und berufliche Bildung, prekäre Beschäftigungsverhältnisse, geringe Einkommen und vielfältige psychosoziale Belastungen gekennzeichnet sein(13). Dies ist bei der Gestaltung neuer Verfahren zu berücksichtigen. Diagnostik und Interventionen sollen sich mehr an Aktivitäten des täglichen und beruflichen Lebens und an den persönlichen Kontextfaktoren und weniger an Organschäden orientieren. Teilhabeorientierung erfordert eine psychosoziale Perspektive (Ressourcenkonzept, Empowerment, Stressbewältigung). Der Erfolg der Forschungsaktivitäten der Sektion "Rehabilitation und Arbeit" wird maßgeblich von der Vernetzung aller reharelevanten Akteure, u.a. der Betriebe und Betriebsärzte, der niedergelassenen Ärzte und der Reha-Einrichtungen sowie der Kostenträger abhängen.


Literatur bei den Verfassern oder im Internet unter www.aerzteblatt-sh.de


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Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 11/2011 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2011/201111/h11114a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de


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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt November 2011
64. Jahrgang, Seite 60 - 61
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dr. Franz Bartmann (V.i.S.d.P.)
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
Telefon: 04551/803-119, -127, Fax: -188
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Januar 2012