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TRANSPLANTATION/441: Lebensfragmente (1) - Der menschliche Körper als Ersatzteillager (research*eu)


research*eu - Nr. 62, Februar 2010
Magazin des Europäischen Forschungsraums

TRANSPLANTATION - Lebensfragmente (1)
Der menschliche Körper als Ersatzteillager

Von Christine Rugemer


Im Jahr 1902 kam der französische Chirurg Alexis Carrel auf die seltsame Idee, einem Hund eine Niere zu entnehmen und sie ihm an den Hals zu verpflanzen. Einhundert Jahre nach dieser erfolgreichen Autotransplantation ist eine andere Art der Transplantation, die Allotransplantation - eine Transplantation zwischen zwei Wesen derselben Spezies -, eine häufig praktizierte Operation, auch beim Menschen. Allerdings sind Transplantationen nach wie vor riskant und mit Komplikationen verbunden, da eine Abstoßung des transplantierten Organs niemals ausgeschlossen werden kann, auch wenn der Patient mit Medikamenten, die eine Reaktion des Immunsystems unterdrücken, behandelt wurde.

Ein weiteres Problem ist der Mangel an geeigneten Spenderorganen, allen Sensibilisierungskampagnen zum Trotz und obwohl sich immer mehr Europäer zu einer Organspende bereit erklären. Das ist auch dringend notwendig, denn ein unwürdiger Handel mit Organen und Armut, die nicht minder unwürdig ist, haben zu einem regen Transplantationstourismus geführt.

In 20 bis 30 Jahren könnten all diese Probleme vergessen sein. Denn dann wird es vielleicht möglich sein, die fehlenden Organe zu züchten oder durch künstliche zu ersetzen. Die Forschungen an bionischen Prothesen zum Beispiel haben dank der Biotechnologie inzwischen einen Stand erreicht, der vor zehn Jahren noch unvorstellbar war. Vielleicht können wir eines Tages auch die Grenze zwischen den Arten überschreiten und uns die fehlenden Herzen oder Nieren von Tieren "leihen". Auch wenn die Forschung in diesem Bereich noch weit von der Phase klinischer Versuche entfernt ist, hat sie doch außerordentliche Fortschritte erzielt, und die technischen Hindernisse könnten ebenso schnell fallen, wie sie entstanden sind. Selbst auf die Gefahr hin, dass wir die einzige Grenze vergessen könnten, die wir ganz sicher nicht überschreiten wollen: die Grenze der Ethik.


Der menschliche Körper als Ersatzteillager

Der Handel mit menschlichen Organen ist ein lukratives Geschäft. Die Zunahme der Armut führt dazu, dass sich weltweit immer mehr Menschen verstümmeln lassen. Sie werden zu Opfern eines von der Organmafia organisierten Handels. Eine neue Art von Tourismus ist entstanden, an dem fragwürdige Reiseunternehmen und skrupellose Ärzte beteiligt sind. Erst ganz allmählich entstehen erste Untersuchungsnetze, einigen sich die Länder auf Ethikkodizes, werden internationale Stellungnahmen veröffentlicht.

Mann, 29 J., vollkommen gesund, verkauft seine Niere für 150.000 EUR. Über diese Anzeige, die auf der kostenlosen Anzeigenseite habitamos.com erschienen war und von der spanischen Verbraucherorganisation Facua bekannt gemacht wurde, haben verschiedene europäische Medien berichtet. Den Ermittlungen des spanischen Gesundheitsministeriums und der Polizei zufolge sind etwa 30 ähnliche Anzeigen auf 13 Seiten im Internet aufgetaucht. In den meisten Fällen werden Nieren, Lungenflügel oder Knochenmarkzellen angeboten, entweder von Spaniern oder von Einwanderern aus Lateinamerika. Die Preise liegen zwischen 15.000 und 1 Mio. EUR. Diese Praktiken stehen in eklatantem Widerspruch zu den Gesetzen eines Mitgliedstaats der Europäischen Union, in der menschliche Organe nicht als Handelsware angesehen werden. Was überrascht, ist die Zahl dieser Anzeigen, denn gerade in Spanien gibt es relativ viele Organspender. Aber was vermögen schon Gesetze gegenüber der Armut auszurichten?


Eine besondere Art von Tourismus

Auch wenn es sich hier um Einzelfälle handelt - die Anbieter von Organen geraten sehr schnell in die Fänge der Organmafia. Die Organmafia kennt die verschlungenen Wege des Organhandels, sie weiß, wo die bereitwilligen Chirurgen und die illegalen Transportunternehmen zu finden sind, und sie weiß, in welchen Ländern das Leben der "Reichen" gerettet oder verbessert werden kann, indem das eines "Armen" verstümmelt wird. Dank fragwürdiger Reiseunternehmen boomt der "Transplantationstourismus". Die Ärzte, die sich für diese Praktiken hergeben, sind häufig unter Medizinern bekannt. Die Wege des Organhandels sind überaus undurchsichtig: So lässt sich zum Beispiel ein Brasilianer in Südafrika eine Niere entnehmen, bevor das Organ dann einem Patienten in Israel implantiert wird. In Pakistan waren 2006 zwei Drittel der 2000 Patienten, denen eine Niere transplantiert wurde, Ausländer. Diese Organe sind in der Tat heiß begehrt (wenn man zwei Nieren hat, genügt eine zum Überleben), und ihr Kurs schwankt je nach Land (von 470 EUR in Südafrika bis 20.200 EUR in den Vereinigten Staaten, 1800 EUR in Moldawien oder 6800 EUR in der Türkei).(1)

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt, dass 10 % der Organtransplantationen weltweit illegal vorgenommen werden, d. h. die Organe stammen aus dem Organhandel oder aus umstrittenen Praktiken. 2004 hat die WHO ihre Mitgliedstaaten aufgefordert, "Maßnahmen zu ergreifen, um die ärmsten und verwundbarsten Gruppen vor dem Transplantationstourismus und dem Verkauf ihrer Organe zu schützen, indem der internationalen Organ- und Gewebehandel stärker überwacht wird." Diese Praktiken, die bereits seit den 1990er Jahren bekannt sind, werden durch den Anstieg der Armut begünstigt, aber auch durch den medizinischen Fortschritt, der das Risiko einer Abstoßung verringert.


Die richtigen Resolutionen des Jahres 2008...

Im Jahr 2008 gab es einige bedeutende Stellungnahmen zum Thema Organhandel. Am 22. April 2008 nahm das Europäische Parlament den Bericht Adamou an. In seiner Entschließung betont das Europäische Parlament, dass Organspenden "in keinem Fall aus kommerziellen Gründen erfolgen dürfen". Es fordert die Kommission und die Mitgliedstaaten auf, Maßnahmen zu ergreifen, um den Organhandel - der eine Verletzung der Menschenwürde darstelle und mit den meisten menschlichen Grundwerten unvereinbar sei und vor allem die ärmsten und besonders gefährdeten Menschen ausbeute - und den "Transplantationstourismus" zu unterbinden. Parallel dazu sollten Bestimmungen erlassen werden, um das Angebot legal beschaffter Organe zu erhöhen. Außerdem schlägt das Parlament die Einführung eines europäischen Organspenderausweises vor.

Einen Monat später folgte die Erklärung von Istanbul. Sie war auf Initiative der Transplantationsgesellschaft (The Transplantation Society, TTS) und der Internationalen Gesellschaft für Nephrologie zustande gekommen und wurde von 150 Vertretern von 78 Ländern (siehe Kasten) unterzeichnet: von Ärzten, Wissenschaftlern, Regierungsvertretern, Sozialwissenschaftlern und von Ethikexperten. Dieser Text definiert Begriffe im Zusammenhang mit dem Organhandel und schlägt den Regierungen Mittel und Wege vor, um den Organhandel zu unterbinden. Ziel ist, die Organentnahme bei verstorbenen Spendern zu erhöhen, Lebendspender vor kommerzieller Ausbeutung zu schützen und sicherzustellen, dass sie dieselbe medizinische Behandlung erhalten wie die Empfänger. "So allmählich setzt sich auf internationaler Ebene die Vorstellung durch, dass menschliche Organe keine Ersatzteile sind, dass niemand einen Preis für ein Organ festsetzen darf, das dazu bestimmt ist, Leben zu retten", stellt Dr. Luc Noël, Koordinator des Referats Procédures cliniques in der WHO, fest.

Allerdings wird diese Haltung nicht von allen geteilt. Auf der Internetseite des Instituts Constant de Rebecque, einem Schweizer Forschungsinstitut, das für seine betont liberale Einstellung bekannt ist, erklärt Jan Krepelka, einer der wissenschaftlichen Mitarbeiter des Instituts, dass ein "willkürlich auf null festgesetzter Preis (...) nicht moralischer ist als irgendein anderer Wert". Er fragt, ob es nicht besser sei, den Organhandel völlig zu liberalisieren, "um es dem Markt zu überlassen, ein Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage herzustellen und zu verhindern, dass unnötig Menschen sterben." Seiner Meinung nach "verschlimmert ein Verbot des Organverkaufs die Probleme (die nicht selten als Vorwand dienen), wie etwa die inakzeptable Organentnahme an lebenden Personen, die nicht in eine Organspende eingewilligt haben: Wenn das legale Angebot durch das Gesetz künstlich verknappt wird, nimmt der illegale Handel mit gestohlenen Organen zu." Und er fügt hinzu, "die Bedeutung der Organvermittler auf dem Schwarzmarkt, die derzeit so sehr kritisiert wird, würde mit dem verringerten Risiko abnehmen und die Konkurrenz würde zunehmen, wenn ein freier Organmarkt entstehen würde."(2)


... und der Individualismus der Gesetze

Derzeit sind die Rechtsvorschriften zum Thema Organspende in den einzelnen Staaten ungefähr so unterschiedlich wie die Meinungen zu diesem Thema. Die französische Zeitung La Croix berichtete in einem Artikel, dass der Iran offiziell für Organspender eine Prämie zahlt (3000 EUR, das entspricht ungefähr eineinhalb Jahresgehältern in diesem Land), etikettiert als "religiöse Spende". Voraussetzung ist, dass es sich bei dem Empfänger nicht um einen Ausländer handelt. Einen besonders florierenden Tansplantationstourismus gibt es auf den Philippinen, wo Fachärzte Pauschaltarife (Organ, Operation) von 45.000 EUR bis 100.000 EUR anbieten. In China hat der stellvertretende Gesundheitsminister Huang Jiefu 2005 eingeräumt, dass die meisten der 12.000 Organe, die in dem Land transplantiert wurden, von Hingerichteten stammen. Seit 2007 gibt es jedoch ein Gesetz, das die Kommerzialisierung von Organen verbietet und die Einwilligung des Spenders vorschreibt. Ebenso wird die Schaffung eines nationalen Organspendernetzes in Aussicht gestellt. Israel hat den Krankenversicherungen per Gesetz untersagt, die Kosten für den "Medizintourismus" zu erstatten.

Die Länder, in denen diese Probleme weniger stark ausgeprägt sind, sind jene, in denen es genügend Spender gibt. Auf Zypern zum Beispiel ist die Zahl der Lebendspender hoch, und Spanien kann den Bedarf an Spenderorganen nahezu vollständig decken, da es genügend Organspenden von Verstorbenen gibt. In Frankreich ist die Zahl der Organspenden seit dem Jahr 2000 um 44 % gestiegen, und jedes Jahr nimmt die Zahl der Personen, die auf einer Warteliste stehen, um etwa 4 % zu. 2007 lebten bereits mehr als 275 000 Europäer mit einem transplantierten Organ, aber Tausende stehen auf einer Warteliste.


Anmerkungen

(1) Diese Zahlen wurden auf einer Tagung der WHO 2006 vorgelegt.
(2) www.institutconstant.ch/paper.php?id=37


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MEHR EINZELHEITEN

Die Europäer und die Organspende

Im Mai 2007 wurden in einer Eurobarometer-Umfrage die Ergebnisse einer Befragung zum Thema Organspende und Organtransplantation veröffentlicht, die von der Generaldirektion Gesundheit und Verbraucherschutz (SANCO) der Europäischen Kommission durchgeführt worden war. Das Thema Organspende lässt offensichtlich niemanden gleichgültig: 41 % der befragten Europäer hatten bereits einmal innerhalb der Familie über das Thema diskutiert, und häufig war die Haltung dazu positiv. Eine Mehrheit der Befragten (56 %) war demnach bereit, nach dem Tod ein Organ zu spenden, und 54 % wären einverstanden, wenn eine Organentnahme an einem ihrer verstorbenen Familienangehörigen vorgenommen würde. Die positive Einstellung ist umso stärker ausgeprägt, je höher der Bildungsstand und/oder das berufliche Niveau ist.

Allgemein wird die Idee eines "Organspenderausweises", der über die Spendebereitschaft informiert, von einer großen Mehrheit (81 %) der Europäer begrüßt. Bisher ist dieser Ausweis bis auf die Niederlande, wo 12 % der Bürger einen solchen Ausweis besitzen, allerdings noch nicht weit verbreitet. Wenn stärker für diesen Organspenderausweis geworben würde, könnte seine Einführung große Bedeutung für die Akzeptanz der Organspende haben.

Unter folgender Adresse kann die englische Fassung des Berichts heruntergeladen werden:
http://ec.europa.eu/public_opinion/archives/ebs/ebs_272d_en.pdf


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Quelle:
research*eu - Nr. 6, Februar 2010, Seite 6 - 9
Magazin des Europäischen Forschungsraums
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Chefredakteur: Michel Claessens
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auf Englisch, Französisch und Spanisch herausgegeben.


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. August 2010