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VORSORGE/453: Prävention chronischer Krankheiten durch veränderten Lebensstil (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 5/2009

Prävention chronischer Krankheiten durch veränderten Lebensstil

Interview mit Prof. Klaus-Dieter Kolenda


Prof. Klaus-Dieter Kolenda mahnt seit Jahren einen höheren Stellenwert für die Prävention an. Auch sein gerade fertiggestelltes Buch "Prävention für Jedermann: Wie ich chronische Krankheiten verhindern oder lindern kann" ist dem Thema gewidmet. Kolenda sieht alle Beteiligten in der Pflicht: die Betroffenen selbst, aber auch die Heilberufe und die Politik. Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt sprach mit Kolenda über die Rahmenbedingungen für die Prävention in Deutschland.


SHÄ: Herr Prof. Kolenda, Sie haben sich dem Thema Prävention verschrieben und fordern in Ihrem jüngsten Buch zu verstärkten Anstrengungen in der Prävention auf. Was kann der Einzelne tun?

Kolenda: Eine ganze Menge. Erfolge auf dem Gebiet der Prävention und der Gesundheitsförderung hängen wesentlich von der Bereitschaft und Befähigung des Einzelnen ab, Eigenverantwortung für seine Gesundheit und deren Erhaltung zu übernehmen. Eigenverantwortung heißt dabei, dass der Einzelne aktiv zu seiner Gesundheit beiträgt. Das setzt aber voraus, dass er sich das nötige Wissen angeeignet hat, das hierfür erforderlich ist. Dazu möchte auch mein neues Buch beitragen. Dazu könnten auch Patientenschulungen für Betroffene über die wichtigsten chronischen Krankheitsbilder und deren Behandlung hilfreich sein, die nicht nur in Rehabilitationskliniken, sondern auch in Arztpraxen durchgeführt werden. Besonders wichtig wären z. B. Patientenschulungen für Hypertoniker, Patienten mit koronarer Herzkrankheit, Adipositas, Typ 2-Diabetes oder mit chronischen obstruktiven Atemwegserkrankungen, zu denen die chronisch-obstruktive Lungenerkrankung und das Asthma bronchiale gehören. Maßnahmen zur Prävention müssen immer auch das Ziel haben, die Eigenverantwortung in unserer Bevölkerung zu fördern.

SHÄ: Die Bereitschaft zur Eigenverantwortung ist aber sehr unterschiedlich ausgeprägt. Wie können wir die Motivation zur Prävention verbessern?

Kolenda: Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, mit einem Präventionsgesetz dafür zu sorgen, dass die Eigenverantwortung in der Bevölkerung gestärkt wird. Dabei muss es vor allem darum gehen, auch die unteren Einkommensschichten, bei denen ein krankheitsfördernder Lebensstil häufiger verbreitet ist, anzusprechen und sie für mehr Eigenverantwortung zu gewinnen.

SHÄ: Der Gesetzgeber hat doch schon einiges getan, Stichwort Rauchverbot.

Kolenda: Das ist ein wichtiger Schritt gewesen, dem aber weitere folgen müssen. Wir brauchen ein bundeseinheitliches Nichtraucherschutzgesetz ohne Ausnahmen, ein umfassendes Tabakwerbeverbot und weitere Tabaksteuererhöhungen. Zur Adipositaskontrolle wäre eine Kennzeichnung der Lebensmittel nach dem Ampelprinzip oder eine umfassende Aufklärung über gesunde Ernährung schon im Kindergarten und vor allem in der Schule mit einer entsprechenden Ernährungspraxis erforderlich. Außerdem müssten wir den Schulsport stärker fördern und den Zugang zu Sportvereinen für Kinder und Jugendliche aus einkommensschwachen Familien erleichtern. Je jünger die Kinder sind, die wir erreichen, umso besser.

SHÄ: Warum fällt die Umsetzung so schwer?

Kolenda: Weil die Prävention nicht nur Unterstützer und Freunde hat. Weite Kreise der Politik, die diese Maßnahmen in Gesetzesform umsetzen müssten, sehen sich nicht nur als Sachwalter der gesundheitlichen Interessen der Bevölkerung, sondern auch der wirtschaftlichen Interessen von Industriezweigen, die vom krankheitsfördernden Verhalten eben dieser Bevölkerung leben. Deshalb werden Erfolge bei der Verhaltensprävention nur zu erreichen sein, wenn vonseiten der Politik die gesundheitlichen Interessen der Bevölkerung höher bewertet werden als z. B. die Interessen der Zigarettenindustrie oder der Werbeindustrie bei der Tabakkontrolle. Bei der Adipositaskontrolle sind Erfolge auf diesem Gebiet wahrscheinlich noch schwieriger zu erreichen, weil der Kreis der betroffenen Wirtschaftszweige erheblich größer ist. Weil jeder essen muss, sind Lebensmittel ja ein besonders gutes Geschäft. Es fällt schwer, sich große Wirtschaftszweige vorzustellen, für die es ein Vorteil wäre, wenn die Menschen weniger essen würden. Dazu gehören sicher nicht die Agrarwirtschaft, die Lebensmittelindustrie, Großhandelsketten, Restaurants, Hersteller von Diätprodukten oder die Pharmaindustrie. Allen geht es gut, wenn mehr gegessen wird, und alle beschäftigen ein Heer von Lobbyisten, um Regierungen und Parlamente davon abzuhalten, irgendetwas zu beschließen, was die Menschen hindert, zu viel zu essen.

SHÄ: Die Rede ist immer wieder vom "tödlichen Quartett", das zu einer kürzeren Lebenserwartung führt. Sie schreiben aber auch dem Stress eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Krankheiten zu.

Kolenda: Das Problem ist, dass die Rolle von Stress für die Entstehung und den Verlauf chronischer Krankheiten vergleichsweise schwer zu untersuchen ist und deshalb weniger gut abgeklärt ist. Das gilt auch für den Erfolg von Stressvermeidungsstrategien zur Prävention chronischer Krankheiten. Trotzdem gibt es überzeugende Untersuchungen, die belegen, dass chronische Stressbelastungen für die Entstehung und den Verlauf so wichtiger chronischer Krankheiten wie Bluthochdruck, koronarer Herzkrankheit mit Herzinfarkt und zerebraler Ischämie mit Schlaganfall von großer Bedeutung sind. Nach meiner Überzeugung gehört auch der Abbau von chronischen Stressbelastungen zu den wichtigen Maßnahmen eines gesundheitsförderlichen Lebensstils.

SHÄ: Kommen wir zur Rolle der Ärzte. Schöpft die Ärzteschaft alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel zur Förderung der Prävention aus?

Kolenda: Nein, Prävention steht bei den meisten Ärzten leider nicht hoch im Kurs. Das mag daran liegen, dass die Prävention während des Medizinstudiums und der anschließenden ärztlichen Weiterbildung auch heute noch nur ein Thema am Rande ist. Mittlerweile gibt es jedoch eine Reihe von effektiven verhaltenspräventiven Maßnahmen, z. B. bei der Raucherentwöhnung, der Adipositas-Behandlung oder der Primärprävention des Typ-2-Diabetes, die in jeder Arztpraxis durchgeführt werden könnten. Ein wichtiger Grund dafür, dass diese und andere Maßnahmen bisher kaum umgesetzt werden, dürfte jedoch sein, dass ärztliche Bemühungen und Maßnahmen zur Verhaltensprävention von den Krankenkassen bis heute nicht angemessen honoriert werden. Und selbst wenn es durch eine geeignete Aus- und Weiterbildung gelänge, einen größeren Teil der Ärzteschaft und Angehöriger anderer Heilberufe zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben auf dem Gebiet der Prävention zu bewegen, würde das sicher nicht ausreichen, das massenhafte Auftreten nicht übertragbarer chronischer Krankheiten in unserer Bevölkerung zu stoppen oder in ausreichendem Maße zurück zu drängen.

SHÄ: Was müsste also zunächst passieren, damit ärztliche und gesetzgeberische Maßnahmen Erfolg haben können?

Kolenda: Als erster Schritt sollte endlich eine breite und ernsthafte gesellschaftliche Debatte beginnen, z. B. über das Problem der Adipositas und der Tabakabhängigkeit in unserer Gesellschaft. Diese Debatte könnte zeigen, welche verhaltenspräventiven Maßnahmen geeignet sind und von der Bevölkerung akzeptiert werden, um an dieser Situation etwas zu ändern, und wie effektive flächendeckende verhaltenspräventive Therapieangebote für Behandlungsbedürftige und Behandlungswillige auf diesen Gebieten aussehen könnten. Wenn wir der Einschätzung von Peter Schauder zustimmen, dass "die Qualität unseres Gesundheitssystems ... sich nicht nach der Zahl behandelter, sondern gesunder und geheilter Bürger bemisst", dann sind intensive Bemühungen für eine umfassende Stärkung der Prävention dringend erforderlich.

SHÄ: Vielen Dank für das Gespräch

Dirk Schnack


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Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) spricht von einem "tödlichen Quartett", zu dem Rauchen, Fehlernährung bei Nahrungsmittelüberfluss mit Übergewicht und Adipositas, Bewegungsmangel und Alkoholmissbrauch gehören. In den Industrieländern betrifft das tödliche Quartett die unteren Einkommensschichten deutlich häufiger als die oberen und ist dafür verantwortlich, dass deren (männliche) Angehörige eine im Durchschnitt um acht Jahre kürzere Lebenserwartung aufweisen.

Die Zahl der jährlichen Todesfälle durch das Rauchen beläuft sich in Deutschland auf ca. 110.00 bis 140.000. Weitere ca. 160.000 Todesfälle sind auf Adipositas und Bewegungsmangel zurückzuführen. Zusammengerechnet sind das ca. 300.000 von insgesamt ca. 800.000 Todesfällen pro Jahr in Deutschland. Das bedeutet, dass derzeit auch in Deutschland knapp die Hälfte aller jährlichen Todesfälle auf das Konto des tödlichen Quartetts geht, wenn man den Alkoholmissbrauch mit ca. 40.000 jährlichen Todesfällen noch hinzuzählt. Diese dramatischen Auswirkungen werden dadurch verursacht, dass insbesondere Rauchen und Adipositas in Zusammenhang mit Bewegungsmangel das Auftreten vieler nicht übertragbarer chronischer Krankheiten fördern (koronare Herzkrankheit einschließlich Herzinfarkt, Bluthochdruck und zerebrale Ischämie mit Schlaganfall, Übergewicht und Adipositas mit Diabetes mellitus Typ 2 als wichtigster Folgeerkrankung, chronisch-obstruktive Atemwegserkrankungen und die häufigsten Krebserkrankungen).

Buchtipp dazu: "Zukunft sichern: Senkung der Zahl chronisch Kranker. Verwirklichung einer realistischen Utopie", erschienen 2006 im Deutschen Ärzte-Verlag, herausgegeben von Peter Schauder und Mitarbeitern. (Prof. Klaus-Dieter Kolenda)


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 5/2009 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2009/200905/h090504a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:
Prof. Klaus-Dieter Kolenda


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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Mai 2009
62. Jahrgang, Seite 18-20
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dr. Franz Bartmann (V.i.S.d.P.)
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Juli 2009