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AUSLAND/2101: Pakistan - Krank durch Gewalterfahrung in FATA-Stammesgebieten (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 8. Mai 2014

Pakistan:
Krank durch Gewalterfahrung in FATA-Stammesgebieten -
Begrenzte Behandlungsmöglichkeiten für die Betroffenen

von Ashfaq Yusufzai


Bild: © Ashfaq Yusufzai/IPS

Vertriebene lassen sich im Aufnahmelager Jalozai nahe Peshawar registrieren
Bild: © Ashfaq Yusufzai/IPS

Peshawar, 8. Mai (IPS) - Nacht für Nacht träumt Rizwan Ahmed davon, wie seine Söhne getötet werden. "Wenn er aufwacht, bricht er in Tränen aus. Denn dann wird ihm klar, dass sie tatsächlich tot sind und dass er einen Albtraum hatte", berichtet sein behandelnder Psychiater Mian Iftikhar Hussain.

Ahmed war früher an einer Schule im Bezirk Bara Khyber in den an Afghanistan angrenzenden Stammesgebieten unter pakistanischer Bundesverwaltung (FATA) tätig. In den Gebieten kommt es häufig zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit islamistischen Extremisten. Vor etwa einem Jahr verlor der 51-Jährige seine beiden Söhne.

"Seine Trauer nahm mit jedem Tag zu", berichtet Hussain. "Im vergangenen Dezember wurde er in unser Krankenhaus gebracht, er war geistig verwirrt. Die Aussichten, dass sich sein Zustand bessert, sind gering. Wäre er früher zu uns gekommen, hätten wir ihn behandeln können", meint Hussain, Leiter der Gesellschaft zur Förderung der Gesundheit, die am Stadtrand von Peshawar das psychiatrische Iftikhar-Krankenhaus (IPH) betreibt. 40 Patienten aus den FATA können dort stationär behandelt werden.

Mehr als zwei Millionen Menschen wurden bisher aus den Stammesgebieten vertrieben, die im Osten an die pakistanische Provinz Khyber Pakhtunkhwa grenzen. Sie flohen vor den Extremisten und den pakistanischen Soldaten, die sich in den FATA bekämpfen. Der Verlust naher Verwandter, die Vertreibung und die neuen Lebensumstände haben viele psychisch krank gemacht.

Die Leiden der meisten Kranken bleiben meist unbehandelt, weil es zu wenige Psychiater und Berater gibt. Psychische Störungen werden im Alltag oft gar nicht wahrgenommen. "Häufig träumen Patienten von den Leichen ihrer nahen Angehörigen, die durch Kugeln oder Raketen getötet wurden. Diese traumatisierten Menschen müssen kontinuierlich behandelt werden", erläutert Hussain, dessen Einrichtung den Betroffenen nach Abschluss der Behandlungen berufliche Ausbildungen anbietet.


Frauen stärker traumatisiert als viele Männer

Auch die Frau von Ziarat Gul, einem Bauer aus dem Bezirk Bajaur, wird in dem Hospital behandelt. "Unser Sohn wurde getötet, als er vor unserem Haus spielte. Seit sie seinen blutverschmierten Körper gesehen hat, ist sie depressiv", berichtet ihr Mann. Dank der Behandlung geht es ihr inzwischen etwas besser.

Wie Gul weiter erzählt, hindert ihn die Gewalt daran, seine Felder zu bestellen. Der Konflikt, dessen Ende noch nicht absehbar ist, fordert von den Familien in den FATA einen hohen Tribut. "Unsere Kinder wachsen inmitten der Gewalt auf", sagt der 51-Jährige. "Sie reden über die Armee, die Taliban, Bombardements, Drohnenangriffe und Ausgangssperren."

Nachdem US-geführte Truppen Ende 2001 die islamistische Taliban-Regierung in Afghanistan gestürzt hatten, zogen sich viele Extremisten in die unwegsamen FATA jenseits der Grenze zurück. In den aus sieben Verwaltungsbezirken bestehenden Stammesgebieten wimmelt es vor Anhängern von Taliban und Al Qaeda, die sich Gefechte mit der pakistanischen Armee liefern.

Viele Zivilisten geraten in die Schusslinie. Die aus den FATA Vertriebenen verteilen sich über ganz Khyber Pakhtunkhwa. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO leiden zehn Prozent aller Pakistaner mittlerweile unter psychischen Erkrankungen. Im ganzen Land gibt es lediglich 300 Psychiater - statistisch gesehen einen für jeweils etwa 80.000 Menschen. In den von Gewalt betroffenen Gebieten gibt es überhaupt keine Seelenärzte, und nur wenige Kranke sind in der Lage, sich in Peshawar, der Hauptstadt von Khyber Pakhtunkhwa, behandeln zu lassen.

Der zehnjährige Ajmal Shah lebt im Bezirk Khyber, aus dem laut der Behörde für Katastrophenmanagement in den vergangenen zwei Jahren etwa 73.500 Familien vertrieben wurden. Sein älterer Bruder war vor drei Jahren von einem Sprengsatz in einem Spielzeug getötet worden. "Als mein Bruder das Plastikpferd vom Boden aufhob, um es sich anzusehen, explodierte es und riss ihn in Stücke. Das kann ich nicht vergessen."

Wie die Gesundheitsbehörde von Khyber Pakhtunkhwa mitteilte, wurden im vergangenen Jahr etwa 82.300 Patienten in staatlichen Hospitälern behandelt. Fast 60 Prozent kamen demnach aus den FATA und suchten psychische Hilfe.


Doppelt so viele Frauen traumatisiert

"Frauen sind etwa doppelt so häufig betroffen wie Männer. Sie leiden eher an post-traumatischen Störungen, weil sie aufgrund der gesellschaftlichen Konventionen im Haus bleiben müssen und sich nicht wie die Männer ablenken können", so Murtaza Ali aus dem Bezirk Mohmand in den FATA. Dem Arzt zufolge verstärkt auch die extreme Armut der Betroffenen das Krankheitsbild.

Nach Ansicht von Syed Muhammed Sultan, Chef der Abteilung für Psychiatrie am Khyber- Lehrkrankenhaus, brauchen die Patienten Beratungen und Psychotherapien. Um Rückfälle zu verhindern, müssten den Behandlungen Reha- und Beschäftigungstherapien folgen.

Wie Sultan erklärt, hat auch die Einnahme von Psychopharmaka in den FATA enorm zugenommen. Die Menschen schlucken Beruhigungsmittel und Anti-Depressiva. Schlaflosigkeit ist in den Konfliktgebieten ein weit verbreitetes Phänomen. "Es kann nur noch schlimmer werden", warnt er. "Denn ein Ende der Kämpfe ist nicht in Sicht." (Ende/IPS/ck/2014)


Link:

http://www.ipsnews.net/2014/05/displaced-disturbed-pakistan/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 8. Mai 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Mai 2014