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AUSLAND/2143: Indien - Heftige Debatte über Sterbehilfe (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 7. August 2014

Indien: Heftige Debatte über Sterbehilfe - Vor allem Arme durch hohe Krankenhauskosten in Gewissensnot

von Neeta Lal



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Das Thema Euthanasie spaltet Indiens Ärzteschaft
Bild: © Loz Pycock/CC-BY-SA-2.0

Bild: © Loz Pycock/CC-BY-SA-2.0

Neu-Delhi, 7. August (IPS) - Sollte ein Arzt die Bitte eines todkranken Patienten erfüllen, ihm das Sterben zu erleichtern? Und sollte er den Wunsch der Familie eines für hirntot erklärten Patienten respektieren, auf weitere lebenserhaltende Maßnahmen zu verzichten? Über die moralischen und rechtlichen Konsequenzen einer Legalisierung der Sterbehilfe wird in Indien zurzeit heftig diskutiert.

Nachdem die Hilfsorganisation 'Common Cause' mit Sitz in Neu-Delhi beim Obersten Gerichtshof eine Petition eingereicht hatte, in der eine gesetzliche Festschreibung des Rechts auf würdiges Sterben gefordert wird, hat das Tribunal eine öffentliche Debatte über die Streitfrage angeordnet.

Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht der Fall von Aruna Shanbaug, die seit einer Vergewaltigung 1973 im KEM-Hospital in Mumbai mit schwersten Hirnschädigungen im Wachkoma liegt. Im März 2011 zog eine Freundin, die Journalistin Pinki Virani, vor das Oberste mit ihrer Initiative.

Die Partei 'Nationale Demokratische Allianz' (NDA) des seit Mai dieses Jahres amtierenden Ministerpräsidenten Narendra Modi ist strikt gegen eine Zulassung der Sterbehilfe. "Die Regierung ist nicht bereit, Sterbehilfe grundsätzlich zu akzeptieren", sagt Generalstaatsanwalt Mukul Rohatgi. Nicht die Gerichtsbarkeit sei in dieser Frage zuständig, sondern das Parlament, das nach gründlichen Beratungen darüber entscheiden solle.

Über die Auslegung des in der indischen Verfassung verbrieften Rechts auf Leben wird kontrovers diskutiert. "Ist für die Legalisierung der Sterbehilfe eine Verfassungsänderung notwendig?" fragt die Rechtsaktivistin Samta Khanna aus Neu-Delhi. "Angenommen, ein Patient, der sich im Endstadium einer Erkrankung befindet oder im Koma liegt, hat keine engen Verwandten - wer wird dann über die Einstellung der lebenshaltenden Maßnahmen entscheiden?" Die Juristin sieht viele offene Fragen, über die man vor dem Entwurf eines entsprechenden Gesetzes eingehend beraten müsse.


Horrende Kosten für Krankenhausaufenthalte

In der Realität entscheiden sich Familien in dem Land mit rund 1,2 Milliarden Einwohnern aber bereits jetzt häufig in Abstimmung mit den Ärzten für die Sterbehilfe. Die immensen Kosten für längere Behandlungen und der Wunsch, das Leiden der Verwandten zu beenden, beeinflussen die Entscheidungen.

"Die Behandlungen in privaten Krankenhäusern kommen Mittelklasse-Familien selbst dann sehr teuer zu stehen, wenn sie versichert sind", sagt Dineshwar Sharma, Direktor des Apollo-Hospitals in Noida im nördlichen Bundesstatt Uttar Pradesh. "Die Armen, die täglich um ihr Überleben kämpfen müssen, können durch langwierige Behandlungen in den Ruin getrieben werden."

Nicht selten müssen Kleinbauern ihren bescheidenen Landbesitz veräußern, um Krankenhauskosten zahlen zu können. Manchmal werden unheilbar Kranke von ihren in Dörfern lebenden Familien einfach in den Hospitälern zurückgelassen.

Passive Sterbehilfe durch den Abbruch lebenserhaltender medizinischer Behandlungen kommt vor allem in der armen Bevölkerung häufig vor. So auch im Fall des Bauern Manik Ram, der nach Hirnblutungen zwei Jahre lang im Koma lag. "Anfangs hofften wir alle, dass er sich erholen würde", sagt seine 36-jährige Witwe Naina. "Wir verkauften unser kleines Grundstück, dann die Möbel und meinen gesamten Schmuck. Bis uns die Ärzte klarmachten, dass mein Mann nie wieder genesen würde."

Die vierfache Mutter holte den Schwerkranken aus dem Hospital nach Hause, wo er die letzten drei Wochen seines Lebens verbrachte. "Ich habe immer noch hohe Schulden, aber wenigstens müssen wir nicht mehr die gewaltigen Krankenhausrechnungen zahlen", sagt sie.

Auch die 35-jährige Sarita, deren jüngerer Bruder Mukesh seit einem Motorradunfall 2011 in Neu-Delhi vom Hals abwärts gelähmt war und im Wachkoma lag, hat mit ihrer Familie schlimme Zeiten durchstehen müssen. "Meine Mutter hat ihren ganzen Goldschmuck verkauft, und meine Hochzeit wurde verschoben, weil die Krankenhausrechnungen für meinen Bruder exorbitant hoch waren", erzählt sie. "Es war außerdem unerträglich, einen so sportlichen Menschen wie ihn dahinvegetieren zu sehen. Eines Tages beschloss mein Vater, ihn aus dem Hospital nach Hause zu holen. Nach einem Monat war er tot."


Mediziner uneins über Sterbehilfe

Die indische Ärzteschaft ist in der Frage nach wie vor gespalten. Einige Mediziner sprechen von "Mord", während andere davon überzeugt sind, dass unter gewissen Umständen passive Sterbehilfe erlaubt sein sollte. "Familienmitglieder sollten frei entscheiden dürfen, ob die lebenserhaltenden Maßnahmen für einen Patienten eingestellt werden, wenn es keine Hoffnung mehr für ihn gibt", sagt Rajendra Prasad von der Indischen Stiftung für Kopfverletzungen. Aktive Sterbehilfe durch eine tödliche Injektion müsse hingegen verboten bleiben.

Die Gegner der Sterbehilfe argumentieren, dass die Ärzte nach dem Eid des Hippokrates eine moralische Verantwortung tragen, ihre Patienten so lange wie möglich am Leben zu halten. "Zwischen Sterbehilfe und Mord verläuft nur ein schmaler Grat. Eine Legalisierung von Sterbehilfe könnte demnach gegen das Gesetz verstoßen", sagt Sanjay Deheer, Onkologe bei 'Max Healthcare' in Neu-Delhi. Vor allem die Familien Armer und Behinderter wären davon betroffen. Versicherungsunternehmen wiederum sähen Anreize für Sterbehilfe, weil sie dadurch Geld sparen könnten.

Sunnit Ray, Vize-Chef der Abteilung für Intensivmedizin am Sir-Ganga-Ram-Krankenhaus in Neu-Delhi fordert genaue Kontrollen und eine individuelle Beurteilung der Fälle. "In den meisten Hospitälern überprüft ein Ausschuss aus Medizinern, ob ein Patient hirntot ist oder nicht. Ein ähnliches Gremium sollte es auch für Sterbehilfe geben."

Wie Ärzte berichten, wächst der Druck seitens der Familien auf die großen Krankenhäuser, die pro Woche durchschnittlich drei bis vier Anfragen bezüglich Sterbehilfe erhalten. Der chronische Mangel an Ärzten und Krankenhausbetten zwingt die Hospitäler zudem dazu, genau zu überlegen, ob noch größere Summen für einen todkranken Patienten aufgewendet werden können.

Laut dem zwölften Fünf-Jahres-Plan kommen in Indien auf jeweils 100.000 Patienten nur 45 Ärzte. Ideal wären 85 Mediziner pro 100.000 Patienten. Bei Krankenpflegern und Hebammen liegt das Verhältnis bei 75 pro 100.000, während 255 pro 100.000 empfohlen wären. Am gravierendsten sind die Auswirkungen der Krise im Gesundheitssektor in den ländlichen Regionen. (Ende/IPS/ck/2014)


Link:

http://www.ipsnews.net/2014/08/ethics-of-mercy-killing-up-for-debate-in-india/

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IPS-Tagesdienst vom 7. August 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. August 2014