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ARTIKEL/1259: Zweigpraxen in der Ambulanten Versorgung - Vom Notnagel zum Problemlöser (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 3/2012

Ambulante Versorgung Vom Notnagel zum Problemlöser: die Erfahrungen mit Zweigpraxen

Von Jörg Feldner


Die KV Schleswig-Holstein verzeichnet immer mehr Anträge auf Zweigpraxen und sieht darin einen Weg, um Versorgungsprobleme zu mildern.

Seit Monaten steigt die Nachfrage nach der Eröffnung von Zweigpraxen. Die Vorteile für Patienten wie für Ärzte liegen auf der Hand. Für Patienten: Versorgungslücken werden gestopft, jedenfalls zum Teil, und das besonders auf dem Land. Meist an zwei bis drei Nachmittagen ist die alte - oder auch die neu geschaffene - Praxis wieder für Sprechstunden geöffnet. Der ärztliche Nachwuchs findet einen leichteren Einstieg in den Beruf; die finanziellen Belastungen für Investitionen, Personalkosten und Raummieten sind überschaubar oder entfallen bei Ärzten im Angestelltenverhältnis ganz. Und die besseren Möglichkeiten für Teilzeitarbeit sind besonders für junge Ärztinnen interessant, wenn sie Beruf und Familie unter einen Hut bringen wollen. Teilzeitregelungen gibt es auch für die Weiterbildung zum Facharzt für Allgemeinmedizin.

Nachdem das Versorgungsstrukturgesetz die Residenzpflicht abgeschafft hat, also seit Jahresbeginn 2012, operiert die KV-Kampagne "Land.Arzt.Leben!" auch im benachbarten Hamburg. Dort ist die Konkurrenzsituation noch schärfer als in den angrenzenden Landkreisen Schleswig-Holsteins, und wer in Hamburg nicht auf eine ausreichende Zahl an Scheinen kommt, der darf und kann jetzt eine Zweigpraxis in Schleswig-Holstein eröffnen. KVSH-Sprecher Marco Dethlefsen: "Wir wünschen uns natürlich Vollpraxen, aber an manchen Standorten müssen wir einfach mit der zweitbesten Versorgungslösung zufrieden sein."

Mit großer Aufmerksamkeit haben auch die Medien verfolgt, wie sich zum Beispiel die Gemeinde Joldelund (Kreis Nordfriesland) für die Sicherung der ärztlichen Grundversorgung engagiert hat. Bürgermeister Reiner Hansen gelang es, nicht nur die Kirche, sondern auch den Arzt im Dorf zu lassen. Allerdings musste dafür eine neue Praxis gebaut werden. Wie hier die Eröffnung einer Zweigpraxis gelang, hat uns der Allgemeinmediziner Urs Philipzig (66) erzählt, der mit seinem Kollegen Matthias Ernst (36) eine Praxis im 13 Kilometer entfernten Bredstedt betreibt: "Der Vorgänger in Joldelund wollte verkaufen, und mein Kollege Matthias Ernst wollte prinzipiell kaufen, aber bei 25 Prozent Abstaffelung waren die Verdienstmöglichkeiten zu mäßig. Netto wären lediglich 4.000 Euro übrig geblieben, davon kann man Miete und Helferinnen nicht mehr bezahlen. In Verhandlungen, an denen sich die Gemeinde sehr aktiv beteiligt hat, wurde erreicht, dass die KV die Praxis in Joldelund von der Abstaffelung ausgenommen hat."

Damit war der Weg zur Gründung der Zweigpraxis frei, zunächst ein halbes Jahr auf Probe und noch in den Räumen des Vorgängers. Langfristig war aber klar, dass ein wirtschaftlicher Praxisbetrieb neue und bezahlbare Räumlichkeiten erfordern würde. Auch hier wurden die Lokalpolitiker aktiv und bauten nach kurzer erfolgloser Raumsuche ein neues, eigenes Ärztehaus, dessen Miete günstig gehalten werden kann, weil die Gemeinde auf Gewinnerwartung verzichtete.

Die Zweigpraxis in Joldelund ist nun an vier Vormittagen besetzt: dienstags und donnerstags mit dem Kollegen Ernst, montags und freitags mit Helferinnen. Die Helferinnen wechseln Verbände, nehmen Rezeptbestellungen auf, machen Termine, messen Blutdruck usw. Wird in Joldelund montags oder freitags vormittags ein Arzt gebraucht, kommt Ernst zwischendurch schnell aus Bredstedt angefahren: "Das ist aber relativ selten notwendig, meistens kann ich das dann nachmittags mit einem Hausbesuch abdecken. Oder die Helferinnen müssen auch mal einen Rettungswagen rufen." Das Patientenspektrum der Zweigpraxis ist im Durchschnitt etwas älter als am Hauptsitz. Das liege aber wohl nicht nur an der relativ geringeren Mobilität älterer Menschen, sondern wohl auch an den Vormittagssprechstunden: Ruheständler haben vormittags Zeit, Berufstätige eher nicht - es sei denn, sie sind schon arbeitsunfähig krank. Die Zweigpraxis "wird sehr gut angenommen", bestätigen beide; die Patientenzahl steige sogar noch, er höre Lob über die soziale und fachliche Kompetenz seines jungen Kollegen, sagt Philipzig. Sie könnten durchaus einen dritten Kollegen beschäftigen, und weil das im Angestelltenverhältnis nicht möglich war, freut man sich auf eine Weiterbildungsassistentin, die ab Juli dazukommen wird.

Hat die Zweigpraxis Rückwirkungen auf die Hauptpraxis? Ja, spürbare. "An den Dienstag- und Donnerstagvormittagen fehlt der Kollege hier in Bredstedt wirklich sehr, manchmal geht es hier zu wie früher, als ich allein war", sagt Philipzig. Eigentlich wollte er ja auch schon aufgehört haben, "aber ich kann den Kollegen nicht allein lassen, also mache ich weiter."

Die KV hat, um möglichst Vertragsarztsitze am angestammten Ort und damit für die Patienten im gewohnten Nahbereich zu erhalten, ein Bündel von Vorschlägen zur Fortführung einer Praxis als Zweigpraxis ausgearbeitet, unterschieden nach dauerhafter Nachfolge oder auch zunächst ohne Nachfolger.

Variante 1: Der (alte) Vertragsarzt verzichtet auf seine Zulassung, lässt sich in einer Nachbarpraxis anstellen und führt seine bisherige Praxis als Zweigpraxis weiter; der neue Besitzer kann dann später einen dauerhaften Nachfolger einstellen.

Variante 2: Wie Variante 1, jedoch betreibt die Nachbarpraxis die Zweigpraxis nach einer Übergangsphase ohne angestellten Arzt selber weiter.

Variante 3: Der (alte) Vertragsarzt gibt seine Zulassung zurück, lässt sich nicht anstellen, und seine bisherige Praxis wird übergangslos zur Zweigpraxis eines Nachbarn.

Variante 4: Wie Variante 3, jedoch wird die bisherige Praxis als gemeinsame Zweigpraxis mehrerer benachbarter Praxen weitergeführt.

Variante 5: Eine Praxis hat auch nach drei Monaten Ausschreibung keine Nachfolgeregelung gefunden, der Vertragsarztsitz ist jedoch aus Sicherstellungsgründen unverzichtbar und der bisherige Inhaber verzichtet auf seine Zulassung - dann gewährt die KV der Praxis, die die frei gewordene Praxis als Zweigpraxis übernimmt, einen einmaligen Zuschuss.

Wichtig zu wissen: die Rechtslage schließt die (Rück-)Umwandlung einer Anstellung in eine Zulassung aus. Und bei allen Varianten müssen Zweigpraxis- und Anstellungsanträge an die KV gerichtet werden. Die Varianten unterscheiden sich auch hinsichtlich der Behandlung der Regelleistungsvolumina/qualifikationsgebundenen Zusatzvolumen des abgebenden Vertragsarztes. Nähere Informationen über www.kvsh.de oder für Anfragen: zweigpraxis@kvsh.de

Alle Zweigpraxisvarianten haben einen deutlichen Vorteil gemeinsam: Zweigpraxen bleiben im Besitz niedergelassener Vertragsärzte. Werden sie jedoch, wie es auch häufig geschieht, an ein MVZ verkauft, kann sich die Versorgung in der Fläche verschlechtern, wenn der Sitz der Vertragsarztpraxis an den Ort des MVZ umzieht. Und die Varianten der KV verbessern die Aussichten der Vertragsärzte, gegen die von Krankenhäusern gebotenen Kaufpreise für die Zulassungen konkurrieren zu können. Die KV-Vorstandsvorsitzende Dr. Ingeborg Kreuz führt noch einen weiteren Vorteil an: "Unsere Auswertungen zeigen, dass gerade Ärztinnen die flexiblen Zweigpraxismodelle gern nutzen. In Schleswig-Holstein arbeiten schon 118 Ärztinnen in einer Zweigpraxis, oft in Teilzeit oder im Angestelltenverhältnis."

Dr. Stephan Eitschberger ist heute Frauenarzt in Marne. Seine Praxisvorgängerin hatte keinen Nachfolger gefunden, der Praxissitz wurde übernommen von der WestDoc GmbH (Tochtergesellschaft des Westküstenklinikums). WestDoc betreibt im Raum Dithmarschen vier MVZ an sechs Standorten (Heide, Heide-Mitte, Brunsbüttel, St. Peter Ording, Itzehoe und Marne). Das Zentrum, die Verwaltungszentrale, liegt in Heide.

Eitschberger (41), angestellt als einziger Arzt in der MVZ-Zweigstelle Marne, lobt ausdrücklich die Vorteile der Organisationsform: "Wir sind hier eine ganz normale Praxis geblieben, mit denselben Sprechzeiten und denselben Helferinnen, die auch nur hier eingesetzt werden; niemand muss zu verschiedenen Arbeitsstätten reisen. Aber ich kann mich voll auf die Medizin konzentrieren: Die gesamte Abrechnung, Verwaltung, Datenübermittlung und besonders EDV-Pflege nimmt uns die Zentrale ab; Lohnbuchhaltung, Gehaltszahlung, den gesamten Geldverkehr, alles macht die Zentrale. Für den Abrechnungsweg über die PVS gilt das entsprechend. Das ist eine große Entlastung, gleichzeitig bin ich autonom in der ärztlichen Tätigkeit."

Alle MVZ-Standorte von WestDoc werden reihum von einer Praxismanagerin bereist, die macht ihre Runde etwa ein Mal die Woche; auch das entlastet. Warum er sich für die Arbeit im Angestelltenverhältnis entschieden hat? "Aus den üblichen Gründen, würde ich sagen: Ich bin nicht den gesundheitspolitischen Unsicherheiten und Kurswechseln ausgesetzt. Das hat was mit Sicherheit zu tun; um Bequemlichkeit ist es mir nicht gegangen - auf geregelte Arbeitszeiten kann ich mich hier auch nicht verlassen, darauf kam es mir auch nicht an."

Die WestDoc GmbH (zu 51 Prozent im Besitz des Westküstenklinikums, 49 Prozent hält die Ärztegenossenschaft Nord) hat mit ihren MVZs, alle als ÜBAGs organisiert, in Dithmarschen umfassende und gleichzeitig flexible Versorgungsstrukturen sichern können. Frauenärzte, Orthopäden, Neurochirurgen, Chirurgen, Nuklearmediziner, Internisten und Kardiologen sind hier tätig, als Angestellte oder freiberufliche Kooperationspartner, mit Vollzulassungen oder Teilzulassungen in unterschiedlichen Stufen; 20 Ärzte insgesamt.

Erst 2008 hat der Zug zur Zweigpraxis Fahrt aufgenommen. Heute (Stand Mitte Februar 2012) gibt es im Land 156 Zweigpraxen mit insgesamt 383 Ärzten, darunter 120 im Angestelltenverhältnis (also 263 Vertragsärzte). Vor 2008 gab es nur acht Zweigpraxen. Die Entwicklung in Zahlen: 2008 plus 52, 2009 und 2010 kamen jeweils 24 Zweigpraxen hinzu, 2011 dann 34 und in den ersten sieben Wochen des Jahres 2012 wurden 14 Zweigpraxen genehmigt. "Das Angebot der KV funktioniert gut, wie die Zahlen zeigen", sagt Bianca Hartz, Leiterin der Zulassungsabteilung bei der KV.

Unerwartet hoch ist der Anteil der beteiligten Fachärzte unter den 263 Inhabern von Zweigpraxen: Lediglich 50 Hausärzten stehen 213 Fachärzte gegenüber, darunter bilden Internisten, Orthopäden, Augenärzte und Frauenärzte die größten Gruppen. Der Grund für diese Verteilung ist wohl, dass Fachärzte schon häufig in größeren Strukturen, Gemeinschaftspraxen usw., kooperieren. So gibt es unter anderem 40 internistische Zweigpraxen, elf gynäkologische, sieben orthopädische, je sechs HNO- und Hautarztpraxen.

Ein Drittel der in Zweigpraxen tätigen Ärzte sind Frauen. Über die Anteile von Teilzeit- und Vollzeitverträgen sowie über mögliche Änderungen der Sprechzeiten liegen der KV keine auswertbaren Daten vor.

Die Zunahme von Zweigpraxen geschieht nicht nach dem freien Spiel der Marktkräfte. Zuständig für die Genehmigung ist der KV-Vorstand, und dessen Genehmigung ist gebunden an das Erfordernis, die Versorgung der Versicherten am Sitz der Zweigpraxis zu verbessern. Jede Genehmigung ist eine Einzelfallentscheidung. Wobei man in Schleswig-Holstein den nachvollziehbaren Standpunkt einnimmt, dass jede drohende Verhinderung einer Verschlechterung der Patientenversorgung durchaus im Sinne einer Verbesserung zu definieren sei.

Im Kreis Ostholstein bereitet sich eine größere Zahl von Ärzten darauf vor, im April mit Zweigpraxen in die neu gebaute Inselklinik Fehmarn einzuziehen. Deren Bau war geschlossen worden, ein Neubau musste her, die Inselklinik bestand vorübergehend nur aus einer chirurgischen Notfallambulanz in den Abendstunden und am Wochenende. Der alte und neue Betreiber, die Sana Klinik Eutin, steht mit Chirurgen, Orthopäden, HNO-Ärzten, Internisten und Kardiologen in Verhandlungen, die kurz vor dem Abschluss stehen. Wie bei Verhandlungen kaum anders zu erwarten, sind nicht alle Beteiligten mit dem Gang der Dinge vollends zufrieden. Mit dem Sozialministerium, der KV und den niedergelassenen Ärzten im Kreisgebiet war das Konzept vorher im Grundsatz abgestimmt worden.

Zu den Ärzten, die in der Inselklinik eine Zweigpraxis aufmachen werden, gehört der Heiligenhafener Orthopäde Dr. Marcus Feldhoff. Sein Genehmigungsverfahren ist durch, auf der Insel gibt es derzeit gar keinen Orthopäden, und er will vor allem seinen älteren Patienten die Reise aufs Festland ersparen. Er wird stundenweise auf Fehmarn arbeiten. Sein Heiligenhafener Kollege Dr. Christopher Harnisch, HNO-Arzt, rechnet damit, künftig ein bis zwei halbe Tage seine Zweigpraxis mit dem Notwendigsten für die Diagnostik zu öffnen; eine Helferin wird er mitnehmen, man fährt dann gemeinsam. Harnisch wird dann zwar, so schätzt er, "wesentlich mehr arbeiten müssen" als bisher, aber er freut sich auf den fachlichen Austausch mit den Kollegen der unterschiedlichen Fachrichtungen: "Das ist der Charme an dieser Sache."

Viele Erfahrungen mit dem Betrieb von Zweigpraxen sind noch nicht besonders alt. Manchem mag dieser Zeitraum noch zu kurz für ein Fazit erscheinen. Jedoch kann bereits heute festgestellt werden: Negatives ist nicht zu hören, jedenfalls nicht von Ärzten, die über eigene Erfahrungen verfügen. Beißende Kritik findet man bestenfalls in Internetforen, dort aber erkennbar vorgebracht von Leuten, die nicht aus Erfahrung sprechen.

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Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 3/2012 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2012/201203/h12034a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Matthias Ernst: Arzt in der Gemeinschaftspraxis in Joldelund.
- Dr. Ingeborg Kreuz
- Bianca Hartz

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt März 2012
65. Jahrgang, Seite 12 - 16
Herausgeber: Ärztekammer Schleswig-Holstein
V.i.S.d.P.: Dr. Franz Bartmann
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
Telefon: 04551/803-119, -127, Fax: -188
E-Mail: aerzteblatt@aeksh.org
Internet: www.aerzteblatt-sh.de
 
Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 20. April 2012

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