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STELLUNGNAHME/117: Beihilfe zum Suizid - Vom Ausland lernen (ALfA LebensForum)


ALfA LebensForum Nr. 116 - 4. Quartal 2015
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)

Vom Ausland lernen

Von Hubert Hüppe


Die Zahl der Redner, die in der Debatte an das Rednerpult traten und für einen der vier zur Abstimmung gestellten Gesetzentwürfe warben, wurde proportional zu der Anzahl der Unterzeichner ermittelt, mit denen die Gesetzentwürfe in den Bundestag eingebracht wurden. Im Fall des Entwurfs der Abgeordneten Sensburg/Dörflinger/Hüppe waren dies drei. Der CDU-Abgeordnete und ehemalige Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, Hubert Hüppe, entschied daher, diese Rede zu Protokoll zu geben und einer Kollegin den Vortritt zu lassen.


Von Suizid besonders gefährdet sind generell Menschen, die depressiv, alt, behindert, chronisch krank, pflegebedürftig, verwitwet, arbeitslos oder alleinstehend und einsam sind. Oft treten alle diese Merkmale gemeinsam auf. Viele treffen oft auf Menschen mit Behinderung zu.

Wir wissen, dass schon aus demographischen Gründen die Gruppe der Älteren in den nächsten Jahren stark anwachsen wird. Die Babyboom-Generation kommt ins Rentenalter, während immer weniger junge Leute nachkommen. Es ist daher schon hinterfragt worden, ob es ein reiner Zufall ist, dass wir die Debatte über den assistierten Suizid zu einem Zeitpunkt führen, an dem der demographische Wandel intensiv wie nie zuvor in Politik und Medien behandelt wird.

Aus der Suizidforschung wissen wir, dass es jährlich etwa hunderttausend Suizidversuche in Deutschland gibt, von denen zehn Prozent tödlich enden. Zugleich weist uns die Forschung darauf hin, dass hinter fast allen Suiziden und Suizidversuchen eine psychische 'Erkrankung oder soziale Probleme wie Vereinsamung stehen. Hiergegen kann man mit medizinischer, psychologischer und sozialer Hilfe angehen - die Fachleute der Suizidprävention haben wirksame Konzepte erarbeitet. Vor Wenigen Wochen, am 10. September, war der Welt-Suizidpräventionstag. Er sollte uns diese Zusammenhänge in Bewusstsein rufen. Dieser Welt-Suizidpräventionstag ist übrigens keine Veranstaltung von Außenseitern, dahinter steht neben der Internationalen Vereinigung für Suizidprävention (Association for Suicide Prevention - IASP) die Weltgesundheitsorganisation (WHO)!

"Das Kriterium der Tatherrschaft ist eine hauchdünne Grenze."

Dass echte Hilfe bei Suizidgefährdung möglich und erfolgreich ist, erkennen Sie daran, dass die wenigsten Menschen, die nach einem Suizidversuch professionelle Hilfe erhalten, jemals wieder einen Suizidversuch machen.

Ein Kernpunkt der Debatte um assistierten Suizid ist: Wenn es erst einmal gesellschaftlich akzeptiert ist, erst recht, wenn es ein gesetzlich festgeschriebenes Recht darauf gibt, dass ich mit Hilfe eines Arztes oder einer Organisation aus dem Leben scheiden kann, und wenn das als meine autonome, verantwortungsbewusste Entscheidung gilt, dann trage schließlich ich selbst die Verantwortung dafür, wenn ich weiterleben und die Ressourcen der Allgemeinheit weiter in Anspruch nehmen oder meinen Angehörigen zur Last fallen will.

Wenn die unterstützte Selbsttötung eine legitime Entscheidung des Einzelnen ist, werden kranke und behinderte und pflegebedürftige Menschen unter Erwartungsdruck kommen. Es reicht übrigens, wenn sie diesen Erwartungsdruck nur empfinden.

Davon werden nicht in erster Linie prominente Fernseh-Intendanten oder bekannte Schauspieler mit hohem Einkommen und guter sozialer Vernetzung betroffen sein. Es wird vielmehr die Bezieher kleiner Renten, Alleinstehende und vor allem Menschen mit Behinderungen betreffen.

Ich habe kürzlich mit einem pensionierten Arzt gesprochen, der deutschlandweit Beihilfe zum Suizid leistet. Er hat mir als Beispiel seinen jüngsten Fall geschildert: Eine Frau Mitte siebzig ist durch einen Schlaganfall gelähmt und pflegebedürftig, sie kommt in ein Heim. Ihr Sohn hat eine sechsstellige Summe für den geplanten Hauskauf angespart. Er muss monatlich einen Anteil von über 1500 Euro für das Pflegeheim zahlen. Die Mutter wolle Sterbehilfe - aber kommuniziert hatte der pensionierte Arzt bisher nur mit dem Sohn, er hatte die Mutter noch nie gesehen.

Die unterstützte Selbsttötung ist - so sagen die Befürworter - angeblich dauerhaft begrenzbar auf Menschen, die im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte - also "einwilligungsfähig" - und psychisch gesund sind. Wie lange würden solche Grenzen dem Diskussionsdruck standhalten? Was wäre mit Menschen, die einwilligungsunfähig geworden sind (durch Unfall, Krankheit oder Altersdemenz)? Was wäre mit Menschen, die aufgrund einer Behinderung nie einwilligungsfähig waren? Wäre es nicht naheliegend, einem aus der Außenperspektive aussichtslos leidenden Menschen, der nicht selbst um Sterbehilfe bitten kann, auch ohne diese Bitte zu "helfen"?

Wir können von der Erfahrung des Auslandes lernen: In den Niederlanden, wo Euthanasie ausschließlich für einwilligungsfähige, unheilbar körperlich Kranke eingeführt wurde, befürwortet heute jeder dritte niederländische Arzt Euthanasie bei Dementen, bei psychisch Kranken und bei gesunden Lebensmüden, so eine im Frühjahr 2015 veröffentlichte Studie.

Ende 2012 bekamen zwei belgische Zwillinge, die von Geburt an gehörlos waren, tödliche Injektionen. Der Grund war, dass sie befürchteten zu erblinden. 2013 ließ sich ein ansonsten gesunder 44-jähriger Belgier nach einer missglückten Geschlechtsumwandlung wegen unerträglicher psychischer Leiden töten. 2014 legalisierte das belgische Parlament Euthanasie auch an Kindern. Ebenfalls 2014 wurde der Euthanasieantrag des körperlich gesunden, aber psychisch leidenden belgischen Sexualstraftäters Frank Van Den Bleeken akzeptiert. Als man ihm spezielle Therapie anbot, ließ er die Tötung absetzen. Das Ausland zeigt, dass die angeblich strenge Eingrenzbarkeit nicht dauerhaft hält.

"2014 legalisierte Belgien die Euthanasie auch an Kindern."

In der aktuellen Diskussion spielt die Tatherrschaft des Sterbewilligen eine zentrale Rolle. Der Arzt leiste nur Beihilfe, die Haupttat werde vom Suizidenten ausgeführt. Lassen Sie mich die Tragfähigkeit dieser Vorstellung einmal hinterfragen.

Bitte stellen Sie sich vor, Ihr Arzt verschreibt Ihnen ein Antibiotikum, das Sie vorschriftsmäßig einnehmen, und Sie werden wieder gesund. Wäre es jetzt richtig zu sagen, "der Arzt hat den Patienten geheilt", oder wäre es korrekt zu sagen "der Patient hat sich selbst geheilt, der Arzt hat nur geholfen"?

Jetzt stellen Sie sich vor, der Arzt verschreibt ein tödliches Mittel, das der Patient einnimmt und stirbt. Wie würden wir hier den Beitrag des Arztes bewerten?

Ich will damit unterstreichen, dass die Tatherrschaft des Patienten - das juristische Kriterium, das den assistierten Suizid von der aktiven Sterbehilfe trennt - eine hauchdünne Grenze ist. Sie würde nicht auf Dauer halten.

"Schauen wir genau hin, was sich in Oregon entwickelt hat."

Selbst Urban Wiesing - einer der vier Autoren des Sterbehilfe-Entwurfes nach dem Vorbild von Oregon - sagte in einem taz-Interview 2014 zur Tatherrschaft des Patienten: "Wir würden andernfalls eine Grenze überschreiten, die wir im Augenblick politisch nicht überschreiten können und sollten, weil sie überhaupt nicht zur Debatte steht." Offensichtlich wird bereits an das Überschreiten gedacht.

Das liegt auch in der Logik der Argumentation. Wenn das Leiden und die Selbstbestimmung des Sterbewilligen die entscheidenden Kriterien sind - wird man ihm dann die vermeintlich moralisch geschuldete "Hilfe" verweigern, weil er selbst das Glas nicht mehr leeren kann?

Der Deutsche Ärztetag 2011 hat mit einer Dreiviertel-Mehrheit beschlossen, dass Beihilfe zum Suizid keine ärztliche Aufgabe ist: eine große Mehrheit der Ärzteschaft lehnt das ab. Das hat aber auch eine absehbare praktische Konsequenz: Wer sich selbst töten will, der hat also mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Hausarzt, der Beihilfe zur Selbsttötung ablehnt.

Es ist daher nicht realistisch - wie Befürworter des ärztlich assistierten Suizids sagen - dass ich denjenigen Arzt um "letzte Hilfe" bitte, der mich schon viele Jahre kennt. Typischerweise müsste ich anderen Arzt finden, der dazu bereit ist und der mich noch nie zuvor gesehen hat. Es könnte wieder auf reisende Suizid-Ärzte wie den pensionierten Urologen Uwe Christian Arnold hinauslaufen, der mit Gasflasche und Kaffeemühle durch Deutschland reist und bis heute bei etwa 300 Suiziden assistiert hat.

In Oregon - das uns von manchen als Vorbild hingestellt wird - ist es typischerweise so, dass dort über 90 Prozent der ärztlich assistierten Suizide mit Hilfe von solchen Ärzten stattfinden, die von einem Sterbehilfe-Verein vermittelt werden.

In Oregon gibt es eine weitere brisante Entwicklung, auf die ich hinweisen will: Ich habe hier die aktuelle sogenannte Priorisierungsliste aus Oregon. Darin stehen die medizinischen Leistungen, die diejenigen bekommen, die nur die soziale Mindestkrankenversorgung "Medicaid" haben. Die von Medicaid noch finanzierten Therapien werden nach ihrer "Kosten-Effektivität" aufgelistet. Interessant ist, dass assistierter Suizid von der Rationierung ausdrücklich nicht betroffen ist und auch in Zukunft nicht sein soll. Therapie wird rationiert, assistierter Suizid bleibt garantiert.

Interessant ist auch, dass in Oregon inzwischen die Mehrheit der ärztlich assistierten Suizide sozial schwache Menschen betrifft, die nur den sozialen Mindestkrankenversicherungsschutz "Medicaid" haben. Ihr Anteil ist 2014 auf 60,2 Prozent angestiegen, viel höher als ihr Bevölkerungsanteil.

"In Oregon betrifft die Mehrzahl der Suizide sozial Schwache."

Wo es wie im US-Staat Oregon ein gesetzliches Recht auf ärztlich assistierten Suizid gibt, ist die Gesamt-Selbsttötungsrate nachweislich höher als in Staaten ohne Legalisierung des ärztlich assistierten Suizids. Dies belegt eine kürzlich veröffentlichte aufwändige statistische Analyse des Medizinethikers David Jones aus Oxford und des Wirtschaftswissenschaftlers David Paton aus Nottingham, die unter anderem die Daten aus Oregon, Washington, Montana und Vermont untersucht und mit anderen US-Bundesstaaten verglichen haben. Die Ergebnisse widerlegen die "Oregon-Legende", der zufolge die ausdrückliche gesetzliche Gestattung der ärztlichen Suizidassistenz suizidpräventiv wirken, also zu niedrigeren Selbstmordraten führen soll. Im Gegenteil geht legalisierter ärztlich assistierter Suizid mit steigenden Raten aller Suizide einher.

Wenn wir also hören, wir sollten uns Oregon zum Vorbild nehmen, dann bitte schauen wir auch genau hin, was sich in Oregon entwickelt hat!

Warum soll gerade ein Arzt bei der Selbsttötung "helfen"? Doch wegen seiner Sachkunde, und damit es "sicher funktioniert". Was aber macht der Arzt, wenn etwas schiefgeht - z. B. spontanes Erbrechen durch den Suizidenten, in Oregon in 2,5 Prozent der Fälle offiziell als "Komplikation" registriert - und in welche Richtung greift der Arzt dann ein? Würde er riskieren, dass der Suizident mit weiteren Schädigungen wieder aufwacht? Immerhin hat er den Patienten aufgesucht mit dem Ziel, ihm zum Tod zu verhelfen.

Wir sollten den verhängnisvollen Weg nicht beschreiten, den Arzt zum Todeshelfer zu machen, denn der Arzt repräsentiert dem Patienten gegenüber die Bejahung seiner Existenz durch die Solidargemeinschaft der Lebenden.

"Wir dürfen uns nicht auf diese schiefe Ebene begeben."

Christoph Wilhelm Hufeland (1762-1836) hat das vor fast 200 Jahren so formuliert:

"Er [der Arzt] soll und darf nichts anderes thun, als Leben erhalten; ob es ein Glück oder Unglück sei, ob es Werth habe oder nicht, dies geht ihn nichts an, und maaßt er sich einmal an, diese Rücksicht mit in sein Geschäft aufzunehmen, so sind die Folgen unabsehbar, und der Arzt wird der gefährlichste Mensch im Staate."

Und wir sollten uns in der aktuellen Debatte bewusst sein, dass Begründungen und Voraussetzungen des ärztlich assistierten Suizids wie Selbstbestimmung über das eigene Leben, aussichtsloses Leiden und Tatherrschaft des Suizidenten nicht dauerhaft halten.

Die Argumente werden teilweise heute schon vorgetragen: Mit Udo Reiter plädieren manche für die tödliche Selbstbestimmung über das eigene Leben, auch wenn kein aussichtsloses Leiden vorliegt - solange der Suizident die Tatherrschaft hat.

Mit Urban Wiesing ist die Tatherrschaft des Patienten "im Augenblick" noch eine nicht zu überschreitende politische Grenze - woraus man schließen kann, dass für ihn letztlich Selbstbestimmung und Leiden genügen könnte. Das wäre Tötung auf Verlangen.

Für besonders gefährlich halte ich eine Argumentation, die jedes Leiden für sinnlos erklärt. Damit wird offensichtlich auch das Leiden des einwilligungsunfähigen Behinderten, der auch zur Tatherrschaft unfähig ist, für sinnlos erklärt.

Das betrifft ebenso den Patienten, der die Tatherrschaft nicht mehr ausüben kann, der vielleicht genau deshalb zusätzlich leidet, der aber einwilligungsfähig, psychisch gesund und volljährig ist? Wird man ihn "sinnlos leiden" lassen?

Wir dürfen uns nicht auf diese schiefe Ebene begeben. Daher schlagen wir in unserem Gesetzentwurf die grundsätzliche Strafbarkeit jeder Beihilfe zum Suizid vor - wie es beispielsweise in Österreich, Italien, Finnland, Spanien, Polen und England gilt.

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Quelle:
LEBENSFORUM Ausgabe Nr. 116, 4. Quartal 2016, S. 12 - 14
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Januar 2016

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