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STANDPUNKT/001: Für ein solidarisches und soziales Gesundheitssystem (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 9/2010

Für ein solidarisches und soziales Gesundheitssystem

Von Daniel Rühmkorf


Die Bereitstellung von Sozialleistungen ist Teil der staatlichen Infrastruktur, die nicht unerheblich zur Befriedung der Lebensverhältnisse in den Industriestaaten geführt hat. Doch das bestehende System scheint nicht mehr zeitgemäß. An einer Reihe von Defiziten macht unser Autor klar, was sich ändern müsste. Wir führen mit diesem Beitrag die Debatte um das Gesundheitssystem der Zukunft fort, die Robert Paquet im Juni eröffnete.


Die Sozialpolitik Bismarcks und die Einführung der Gesetzlichen Krankenversicherung haben nachhaltig zum sozialen Frieden in Deutschland beigetragen. Über 130 Jahre hat sich das Versicherungssystem bewährt und ist dabei kontinuierlich ausgebaut worden. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sehen sich Deutschland, aber auch viele weitere Industrienationen mit einigen grundsätzlichen Problemen konfrontiert, die mit den Stichworten Demografie, medizinischer Fortschritt sowie Solidarität vs. Globalisierung und weltweite Finanzierungskrise umrissen werden können.


Systemisch-deutsche Defizite

Finanzierung: Zum einen ist die Gesundheitsversorgung in den letzten Jahrzehnten, bezogen auf die Lohnquote, stetig teurer geworden. In der Folge mussten die Beiträge zur Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) kontinuierlich erhöht werden. Zudem werden Beiträge rein lohnbezogen erhoben: Das Umlageverfahren der GKV ist relativ stabil gegen Finanzmarktbewegungen, allerdings konjunkturabhängig. Ohne Lohnzuwächse können steigende Ausgaben der Krankenkassen nicht kompensiert werden. Durch den Anstieg des Anteils der Nichterwerbstätigen (Arbeitslosigkeit, Rente) an der Zahl der Versicherten sinken die Einkünfte der Kassen. Gleichzeitig nehmen diese überproportional Leistungen in Anspruch. Ferner ist der ursprünglich hälftige Arbeitgeberanteil bereits im Rahmen der letzten Gesundheitsreformen abgesenkt worden. Pläne der amtierenden Bundesregierung wollen den Arbeitgeberanteil bei 7,3 % einfrieren. Kostensteigerungen wären dann allein über den Arbeitnehmeranteil aufzubringen (Disparitätische Kostenteilung).

Fehlanreize, Anbieter- statt Bürgerorientierung: Im Gesundheitssystem gibt es bekanntermaßen zahlreiche strukturelle Fehlanreize: beispielsweise im Arzneimittelbereich, bei den niedergelassenen Ärzten und bei den Krankenhäusern. Anbieterinduzierte Mengenausweitungen, unnötige Arztkontakte, großzügige Indikationen zur stationären Behandlung sowie Scheininnovationen lassen die Kosten jedes Jahr überproportional ansteigen. Diese Formen der Fehlversorgung werden nicht ausreichend bekämpft.

Privatisierung: Einrichtungen des Gesundheitswesens sind seit den 90er Jahren in den Fokus von Kapitalgesellschaften gerückt. Das Geschäft mit der Gesundheit führt zu einer zunehmenden Privatisierung von Krankenhäusern. Es entsteht eine "Wertschöpfungskette"; die Gesundheitsversorgung einer Region gerät in Gefahr, von dem Wohl eines Monopolisten abhängig zu werden.


Was kann bleiben, was muss sich ändern?

Staatliche Aufsicht und Planungszuständigkeit: Einleitend wurde auf die Bedeutung des Sozialstaates für den sozialen Frieden hingewiesen. Der Staat verpflichtet sich zur Daseinsvorsorge und hält dafür öffentliche Güter bereit, die u. a. der Gesundheit, der Erziehung und der Bildung dienen. Im Gesundheitssystem ist die staatliche Einflussnahme auf (zu) viele Ebenen in einem hochspezialisierten korporatistischen Verbändesystem verteilt.

Ohne staatliche Aufsicht würden die Kosten des Gesundheitssystems aus dem Ruder laufen, regionale Ungleichheiten sich verschärfen, die Leistungen der Versicherungen (noch) undurchschaubar(er) werden. Gleichzeitig würden zunehmend Menschen ohne gesundheitliche Versorgung bleiben. Es droht steigende Armut durch Krankheit, wenn krankheitsbedingte Kosten von dem Einzelnen geschultert werden müssen.

Der Staat muss die Gewährleistung der gesundheitlichen Versorgung nicht nur garantieren, sondern auch in die Hand nehmen. Die Einflussnahme auf das Versorgungsgeschehen ist deshalb unter Verteilungsaspekten eine wichtige sozialstaatliche Aufgabe, die von den Ländern wahrgenommen werden muss.

Finanzierungsreform: Ein gutes Gesundheitssystem muss die Bedürfnisse des Einzelnen aufnehmen und gleichzeitig solidarisch und sozial gestaltet werden. Ohne eine Neuausrichtung der Beitragsbemessung und Einführung einer Bürgerversicherung werden schon in naher Zukunft die Beiträge aus dem Ruder laufen. Eine stärkere Verlagerung der Kosten auf die Kranken unterläuft den Versicherungsgedanken und führt zu einer Mehr-Klassen-Medizin: Gute Behandlung wird so zu einer Frage des Geldbeutels. Dabei muss besonderes Augenmerk auf Menschen mit geringen Einkommen verwendet werden. Das sind nicht nur Empfänger von Transferleistungen, sondern auch eine wachsende Anzahl von Menschen mit geringen Renten. Für sie sind Zuzahlungen bei Krankenhausaufenthalten, Medikamenten, Physiotherapien oder die Praxisgebühr Barrieren, die sie von einer guten Gesundheitsversorgung ausschließen.

Die GKV hat (noch) eine hohe Akzeptanz in der Bevölkerung. Bezüglich neuer Belastungen muss gewährleistet werden, dass diese gerecht verteilt werden. Das bedeutet auch, Arbeitgeber entsprechend des ursprünglichen Prinzips in der GKV paritätisch an den Kosten zu beteiligen.

Eine ausreichende Finanzierung beinhaltet auch eine Einbeziehung von anderen Einkommensarten. Wenn neben den Lohneinkünften auch Einkommen aus Vermietung und Verzinsung herangezogen werden, würde die solidarische Finanzierung eine neue und breitere Basis erhalten. Die Beitragsbemessungsgrenze von 3.750 Euro sollte zumindest deutlich angehoben werden.

In einer Bürgerversicherung erhält jeder Bürger die gleichen Leistungen. Dazu sollen die Versicherten aller Krankenkassen den gleichen prozentualen Beitrag leisten: Ein einheitlicher Beitragssatz ist die Grundlage, damit kein Wettbewerb um die jungen und gesunden Versicherten oder die chronisch Erkrankten mit den "richtigen Diagnosen" aufkeimt.

Leistungsumfang: Die Frage, welche Leistungen solidarisch und welche individuell zu tragen sind, wird unter den gegebenen Umständen immer brisanter. Aufgabe des Sozialstaates muss es deshalb sein, eine Perspektive für alle Betroffenen zu entwickeln: Versicherte wollen grundsätzlich ökonomisch tragbare Beitragssätze, Arbeitgeber erwarten eine effektive Mittelverwendung und gesunde Mitarbeiter, Kranke eine vom Einkommen unabhängige und gute Versorgung und Leistungserbringer eine adäquate Honorierung der erbrachten Leistungen.

Das Gesundheitssystem muss den Bürgern die Sicherheit geben, dass im Krankheitsfall die Versorgung gewährleistet ist. Rettungsdienste, ambulante und stationäre Einrichtungen stehen zur Verfügung. Alle entstehenden Kosten werden über das Versicherungssystem abgedeckt.

Bürgerorientierung: Unser Gesundheitssystem ist insbesondere dann gut, wenn es um eine schnelle akutmedizinische Versorgung geht. Das Verhindern von Krankheiten fristet dagegen immer noch ein stiefmütterliches Dasein. Entsprechend der Anreizstrukturen ist die Behandlung eher auf eine engmaschige Kontrolle der verschiedenen Erkrankungen bei jeweils zuständigen Fachärzten ausgerichtet. Eine Frequenz von durchschnittlich 18 Arztkontakten pro Bürger und Jahr sprechen für eine Fehlversorgung in unserem Gesundheitssystem. Wenn wir auch weiterhin ein solidarisches und soziales Gesundheitssystem erhalten wollen, müssen die Behandlungen in einer zielgenauen Behandlungsstruktur mit einem regional abgestuften Versorgungsangebot erfolgen.

Die hausärztliche Versorgung muss im Mittelpunkt der Versorgung stehen. Ohne eine Neuausrichtung des Medizinstudiums und einer Ausweitung der Weiterbildungsplätze für Allgemeinmediziner und hausärztliche Internisten wird die flächendeckende Versorgung der Bevölkerung unmöglich. Hausärzte müssen aber auch in der Lage sein, den überwiegenden Teil der Fälle in der eigenen Praxis zu behandeln. Fachärzte sollen die Hausärzte in ihrer Versorgung unterstützen. Die gängige Praxis, Patienten in der fachärztlichen Behandlung zu behalten, statt sie an den Hausarzt nach erfolgter Mitbehandlung zurück zu überweisen, führt zu unnötig vielen Arztkontakten, Überversorgung und vermeidbaren Kosten. Hier hilft ein Blick in unsere Nachbarländer, um ein Gefühl für notwendige gesundheitliche Versorgung zu erhalten.

Integrierte Versorgung statt Über-, Unter- und Fehlversorgung: In ländlichen Regionen Deutschlands wird sich die gesundheitliche Versorgung neu organisieren: Nicht mehr der Arzt in dörflicher Praxis mit Lebensmittelpunkt vor Ort, sondern angestellte Ärzte verschiedener Fachrichtungen werden tageweise in den Dörfern ihre Sprechstunde abhalten. Eine Gemeindeschwester wird die Anfragen von Patienten entgegennehmen, Termine für die Sprechstunde vergeben bzw. zu einer Behandlung im nächsten Klinik-MVZ raten. Je nach Notwendigkeit wird zukünftig genauer überlegt werden müssen, ob in jedem Fall eine ärztliche Behandlung angezeigt ist. Eine Vielzahl von Heilberufen steht zur Verfügung, um delegierte ärztliche Leistungen zu erbringen. Damit erfahren nichtärztliche Berufe eine auch im internationalen Vergleich notwendige Aufwertung.

In einem solchen System integrierter Versorgung können Behandlungsabläufe zu einer hohen Qualität, großer Patientenzufriedenheit und zielgenauen Einsatzplanung der Ressource "Arzt" führen. Krankenhäuser sind wertvolle Ressourcen für stationäre wie auch ambulante Versorgung. Die Doppelstruktur von niedergelassener und stationärer fachärztlicher Behandlung kann nicht länger aufrecht erhalten werden. Das bestehende System ist nicht patienten-, sondern anbieterorientiert.

Eine integrierte Versorgung erfordert auch eine Neuausrichtung der Finanzierung. Regionalbudgets müssen sich auf die gesamte Behandlungskette beziehen. Die Krankenkassen stellen ein Globalbudget pro Versicherten/Patienten zur Verfügung. Die Leistungserbringer können dann entsprechend ihrer Inanspruchnahme Anteile dieses Budgets erhalten. Wenn durch Prävention und Gesundheitsförderung ein besserer Gesundheitszustand der Bevölkerung erzielt wird, können die Leistungserbringer das Budget trotz geringerem Leistungsaufkommen behalten. Regelungen bezüglich eines Fehlanreizes zur Unterversorgung müssen in dieses System eingebunden werden.

Fazit: Deutschland verfügt über ein hochmodernes, aber auch kostenintensives und ineffizientes Gesundheitssystem. Ohne staatliche Einflussnahme würde die ungleiche Verteilung von Gesundheitseinrichtungen zu Verwerfungen führen. Das Zusammenspiel zwischen staatlicher Planung, Kostenträgern und Leistungserbringern muss deshalb neu justiert werden. Eine dauerhafte Finanzierung dieses Systems ist nur möglich, wenn dafür eine solidarische Bürgerversicherung eingeführt wird. Die Leistungen der Kassen müssen einheitlich, umfassend und wirtschaftlich sein. Prävention und Gesundheitsförderung sind in allen Lebensbereichen zu verankern.


Daniel Rühmkorf (* 1966) ist Arzt, Politikwissenschaftler und für Die Linke seit 2009 Staatssekretär im Ministerium für Umwelt, Gesundheit und Verbraucherschutz (MUGV) des Landes Brandenburg.
(daniel.ruehmkorf@mugv.brandenburg.de)


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 9/2010, S. 57-60
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Oktober 2010