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ARTIKEL/1014: Geriatrische Rehabilitation - Rationierung medizinischer Leistungen (Pflegefreund)


Pflegefreund Herbst/Winter 2008/09
Zeitschrift für die private häusliche Pflege

Rationierung medizinischer Leistungen

Von Dr. H. L. Unger


Rationierung im Gesundheitswesen ist entgegen der Beteuerungen der Bundesregierung längst Realität in unserem Land, vor allem bei älteren Menschen. Seit Herbst letzten Jahres beobachten wir mit Sorge, dass in großem Umfang medizinisch notwendige neurologische und geriatrische Rehabilitationsleistungen für ältere Menschen abgelehnt werden, vor allem in Rheinland-Pfalz, aber auch in einigen anderen Bundesländern.

Gerade angesichts der demografischen Herausforderung wird nicht nachhaltig daran gearbeitet, die Zahl der Pflegebedürftigen klein zu halten (Reha vor Pflege, SGB XI, §31), sondern notwendige Rehamaßnahmen für ältere Menschen werden von den Krankenkassen verweigert oder in billige, für alte Menschen nicht qualifizierte, heimatferne Einrichtungen umgelenkt, auch wenn im Informationsblatt der Bundesregierung formuliert ist, dass "die Genehmigung sinnvoller Rehamaßnahmen nicht länger im Ermessen der Krankenkasse liegt" und die Rehabilitation gerade auch älterer Menschen im GKV-WSG als Pflichtleistung der Kasse verankert wurde, die gar nicht abgelehnt werden darf!

Alte Menschen sollen direkt nach einem Schlaganfall ins Pflegeheim abgeschoben werden, ohne Chance auf eine Rehabilitation, was allen medizinischen wie sozialrechtlichen Standards widerspricht. Die Zeitdauer bis zur Bearbeitung vorliegender Reha-Anträge ist oft unverhältnismäßig lang, obwohl laut Gesetzgeber nur noch stichprobenartig geprüft werden darf. Die bürokratischen Hürden und die von den Kassen nachgeforderten Zusatzinformationen ufern aus und zermürben die Antragsteller. Den Angehörigen wird kassenseitig meist mitgeteilt, dass ein Widerspruch zwar möglich sei, aber mehrere Wochen Bearbeitungszeit erfordere und letztlich sinnlos sei. Bei Einschaltung eines Anwaltes liegt die Kostenzusage innerhalb weniger Tage vor. Aber die alten Menschen haben nur selten den Mut, sich einen Anwalt zu nehmen und ihre Ansprüche einzuklagen - die Rechnung der Kassen geht auf!

Trotz Stärkung des Rehabilitationsanspruches für ältere Menschen durch die Gesundheitsreform im April 2007 (GKV-WSG) bleiben sie zunehmend auf der Strecke, ohne Chance der Wiedereingliederung in den Alltag, das gesetzlich verankerte Recht auf eine Ermöglichung der Teilhabe am Leben der Gesellschaft bleibt Makulatur. Die Kluft zwischen gesetzlichem Anspruch einerseits und gelebter Realität auf der anderen Seite wird immer größer.

Staatssekretär Dr. Klaus Theo Schröder vom Bundesministerium für Gesundheit teilte schon im Januar dieses Jahres mit, "dass die Krankenkassen bei geriatrischen Patienten eine besondere Verantwortung trifft", und dass bei Verstößen gegen die gesetzlichen Grundlagen die Aufsichtsbehörden eingeschaltet werden sollten. Eine umfangreiche Dokumentation von nach MDS-Kriterien (MDS = Medizinischer Dienst der Spitzenverbände) eindeutig rehabedürftiger geriatrischer Patienten, deren Rehaanträge abgelehnt wurden oder deren Rehamaßnahmen in unzureichend qualifizierten(aber billigen) Einrichtungen erbracht wurden ohne altersmedizinische Erfahrung und Ausstattung bzw. ohne eine entsprechende Zertifizierung, wurde von der Landesarbeitsgemeinschaft Geriatrie in Rheinland-Pfalz dem Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Familie und Frauen in Mainz (MASFG) und dem Landesamt für Soziales als Aufsichtsbehörden der Krankenkassen übergeben. Aber diese Aufsichtsbehörden der Kassen, die letztlich die Umsetzung der gesetzlichen Maßnahmen überwachen und gewährleisten sollen, bleiben - zumindest bis jetzt - untätig.

In der Behandlung Demenzkranker sieht es ähnlich düster aus. In der Rheinischen Post vom 19.5.2008 sagte der Präsident der Bundesärztekammer, Jörg-Dietrich Hoppe, dass schon jetzt ein großer Teil der an Demenz erkrankten Menschen ganz bewusst nicht optimal versorgt werde. So gebe es bereits Medikamente, die ein Fortschreiten der Demenz verzögern könnten. Hoppe: "Doch diese Mittel sind sehr teuer, und die Kassen bezahlen sie nicht. Viele ältere Menschen bekommen damit nur eine Sauber-und-Satt-Pflege." Von den 1,2 Millionen Demenzkranken in Deutschland erhalten derzeit maximal 15% eine Therapie, die aktuellen wissenschaftlichen Standards entspricht. Die fachärztlich, gemäß aktueller Leitlinien verordneten, in ihrer Wirksamkeit auch vom IQWIG* bestätigten Antidementiva werden wegen angeblicher Budgetüberschreitung von vielen Hausärzten wieder abgesetzt.

Der Autor ist Chefarzt der Brohltalklinik in Burgbrohl. Er ist Facharzt für Neurologie, Nervenheilkunde/Psychotherapie, Physikalische Therapie/Rehabilitation.

*

Fragen von Harald Spies an Dr. H. L. Unger

Dr. Unger, worauf führen Sie die ablehnende Haltung der Kassen gegen die Geriatrische Rehabilitation zurück?

Einzelne Krankenkassen spielen mit verdeckten Karten. Sie versuchen zu verschleiern, dass sie eine Leistung erbringen müssen, die sie nicht erbringen wollen: die geriatrische Rehabilitation. Der Grund ist offensichtlich. Momentan besteht für die Krankenkasse kein ausreichendes Interesse an der Rehabilitation von älteren Patienten, da sie in der Regel von einem Fall der Pflegebedürftigkeit ausgehen und damit Leistungen der Pflegeversicherung von den älteren Patienten zu beanspruchen wären. Von daher wird seitens der Kassen keine Notwendigkeit für eine Rehabilitation mehr gesehen, da man letztlich für die Pflegeversicherung Geld sparen würde. Diese vordergründigen Einspareffekte bei der Kasse ziehen unter Umständen erhebliche Folgekosten nach sich bei nicht erfolgten oder ineffektiven Rehabilitationen mit suboptimalem Funktionsgewinn oder eintretenden Komplikationen, die letztlich von der ganzen Solidargemeinschaft zu schultern sind.

Was sollte getan werden, um diese Missstände abzustellen?

Bei einer Reform von Krankenversicherung und Pflegeversicherung sollten die finanziellen Fehlanreize überwunden werden, die einer medizinischen Rehabilitation von älteren Menschen entgegenstehen. Das renommierte Fritz Beske Institut für Gesundheits-System-Forschung in Kiel liegt richtig mit seiner Einschätzung: "Die meisten Pflegebedürftigen sind chronisch krank, oft multimorbide. Sie brauchen neben der pflegerischen Betreuung eine ständige ärztliche Betreuung. Es bietet sich daher an, die Zuständigkeiten von Gesetzlicher Krankenversicherung und Sozialer Pflegeversicherung zusammenzuführen."

Was können Angehörige tun, um das Recht auf Reha für ihre älteren Angehörigen zu erstreiten?

Angehörige sollten Ihre Rechte kennen und bei Ablehnungen bei ihren Krankenkassen Widerspruch einlegen unter Bezugnahme auf die aktuelle Gesetzeslage (Reha = Pflichtleistung, die nicht abgelehnt werden darf). Sollte dies nicht zum Erfolg führen, helfen Verbände wie die Unabhängige Patientenberatung oder die Deutsche Gesellschaft für Versicherte und Angehörige weiter; auch das Bürgertelefon des Bundesgesundheitsministeriums kann weiterhelfen. In mir bekannten Einzelfällen führte aber zuweilen erst die Einschaltung eines Anwaltes zum Erfolg. Ohne entschlossenen Widerstand haben die Patienten schlechte Karten.

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Quelle:
Pflegefreund Herbst/Winter 2008/09, Seite 4 - 5
Zeitschrift für die private häusliche Pflege, 11. Jahrgang
Redaktion: Harald Spies (v.i.S.d.P.)
Herausgeber: WOTO Verlag e.K.
Hindenburgstraße 41, 75378 Bad Liebenzell
Telefon: 07052/42 92, Fax: 07052/93 37 78
E-Mail: info@wa-woto.de
Internet: www.herbstzeit.de/themenauswahl/pflegefreund.html
 
Der Pflegefreund erscheint halbjährlich
und kann kostenlos beim WOTO Verlag bestellt werden.


veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Februar 2009

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