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POLITIK/1687: Eckpunktepapier der Ärzteschaft zur Gesundheitsversorgung (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 11/2009

Bundesärztekammer wendet sich an die Regierungskoalition

Eckpunktepapier der Ärzteschaft zur Gesundheitsversorgung


Der Arztberuf muss wieder auf seine eigentliche Tätigkeit zurückgeführt werden. Nötig ist eine neue Vertrauenskultur.


Dieses Eckpunktepapier übermittelte die Bundesärztekammer - auch im Namen der nachfolgenden Organisationen: Kassenärztliche Bundesvereinigung, Hartmannbund, Marburger Bund, NAV-Virchow-Bund, Verband der Leitenden Krankenhausärzte Deutschlands, Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften, Bundesverband der Knappschaftsärzte, Gemeinschaft Fachärztlicher Berufsverbände, Deutscher Ärztinnenbund, Medizinischer Fakultätentag - im Rahmen der Koalitionsverhandlungen von Union und FDP den Mitgliedern der Arbeitsgruppe Gesundheit/Pflege.

Diskreditierung und Trivialisierung ärztlicher Tätigkeit sind zu einer großen Belastung des Patient-Arzt-Verhältnisses geworden. Die zunehmende Zentralisierung und Verstaatlichung der Strukturen des Gesundheitswesens einerseits und die Kommerzialisierung und übertriebene Wettbewerbsorientierung bei den Gesundheitsberufen andererseits haben die bisherige Vertrauenskultur in unserem Gesundheitswesen nachhaltig geschädigt. Die Ärzte in Deutschland werden mittlerweile überzogen mit zunehmenden Forderungen nach Kosten- und Qualitätskontrolle, mit Dokumentationszwängen und überbordender Bürokratie. Der Arztberuf muss wieder auf seine eigentliche Tätigkeit zurückgeführt werden, die Behandlung von Patienten. Wir brauchen endlich wieder eine Vertrauenskultur im Gesundheitswesen, die Ärzteschaft und Gesundheitsberufe motiviert, in die kurative Versorgung zu gehen und in ihr zu bleiben.

Die Arbeitsbedingungen in Klinik und Praxis sind bisher gekennzeichnet durch eine hohe Arbeitsverdichtung, ausufernde Bürokratie und vor allem durch die Unvereinbarkeit von Beruf und Familie. Hinzu kommt, dass es unter den Bedingungen der Mittelknappheit für Ärzte immer schwieriger wird, ihrer Verantwortung für die Patientenversorgung gerecht zu werden, da sie gleichzeitig verschiedenen Rechtskreisen unterworfen sind. Nach dem Haftungsrecht werden sehr hohe Sorgfaltsstandards verlangt, die jedoch unter den Budgetbedingungen des Sozialrechts nicht eingehalten werden können. Diesen Widerspruch muss der Gesetzgeber auflösen und die Einheit der Rechtsordnung wieder herstellen.

Die gesamte Zeit des Bereitschaftsdienstes von Ärzten in Gesundheitseinrichtungen ist Arbeitszeit - und muss es bleiben. Öffnungsklauseln im Arbeitszeitgesetz, die von diesem Prinzip abweichen, sind inakzeptabel. In Zukunft muss stattdessen dem Arbeitnehmerschutz und damit auch dem Patientenschutz Vorrang eingeräumt werden.

Immer mehr ausgebildete Ärzte entscheiden sich gegen eine kurative ärztliche Tätigkeit und stattdessen für alternative Berufsfelder oder den Weg ins Ausland. Wir stehen somit vor der doppelten demografischen Herausforderung einer älter werdenden Gesellschaft mit einem Anstieg von Mehrfacherkrankungen sowie einem wachsenden Ärztemangel, weil immer häufiger junge Ärzte nicht mehr in die kurative Tätigkeit einsteigen wollen. Wir brauchen schnelle Veränderungen. Wir brauchen eine Aufwertung ärztlicher Arbeit, mehr Stellen in den Kliniken, Abbau von Überstunden und Bürokratie, eine konkurrenzfähige und angemessene Vergütung sowie Arbeitsbedingungen, die auch für familiäre Aufgaben Raum lassen und die die Vereinbarkeit von Arztberuf und Familie fördern. Wir brauchen auch wieder attraktive Arbeitsbedingungen in den Praxen, vor allem auf dem Land. Und dies bezieht sich nicht nur auf Defizite im Gesundheitssystem, sondern vor allem auf die Notwendigkeit infrastruktureller Maßnahmen. Eine Gesellschaft des langen Lebens braucht Ärzte in Klinik und Praxis und nicht in anderen Berufsfeldern.

Rationierung ist in Deutschland nicht akzeptiert. Altersbegrenzungen für Behandlungen sind in unserem Land undenkbar. Die finanziellen Mittel sind begrenzt, die Personalressourcen erschöpft. Um heimliche Rationierung zu vermeiden, zugleich aber Verteilungsgerechtigkeit in der medizinischen Versorgung zu sichern, muss endlich offen über Priorisierung in unserem Gesundheitswesen debattiert werden. Dabei ist Priorisierung als ethische Methode zu verstehen, die begrenzten Mittel, Kapazitäten und Zeitressourcen möglichst gerecht einzusetzen. Den notwendigen Konsens sollte ein Gesundheitsrat erarbeiten, in dem Ärzte gemeinsam mit Ethikern, Juristen, Gesundheitsökonomen, Theologen, Sozialwissenschaftlern und Patientenvertretern Empfehlungen entwickeln, was und wie priorisiert werden soll. Die Letztentscheidung ist politisch zu verantworten, denn nur dann gibt es die entsprechende Legitimation in unserer Demokratie.

Die Gesundheitsreformen der letzten Jahre haben sukzessive zu einer teils verdeckten, teils offenen Destabilisierung der ärztlichen Selbstverwaltung geführt. Die Regulierungstiefe der Sozialgesetzgebung hat ständig zugenommen. Die Grenze zwischen Rechts- und Fachaufsicht gegenüber der Selbstverwaltung verschwimmt mehr und mehr. Eine handlungsfähige ärztliche Selbstverwaltung aber ist der entscheidende Faktor, um Qualität und Professionalität des Arztberufes und damit auch eine gute Patientenversorgung dauerhaft zu sichern.

Selbstverwaltung ist Ausdruck der Freiberuflichkeit und Instrument ihrer Sicherung. Freiberuflich tätige Ärzte stehen für Innovation, Stabilität und Wettbewerb in sozialer Verantwortung. Die Unabhängigkeit ärztlicher Berufsausübung ist Grundlage des spezifischen Vertrauensverhältnisses von Patient und Arzt. Der Staat muss sich auf seine subsidiäre Rolle zur Sicherung der Daseinsvorsorge rückbesinnen und stabile Rahmenbedingungen für ein freiheitliches Gesundheitswesen gewährleisten, statt durch immer mehr Bürokratie die medizinische Versorgung zu blockieren. Die Selbstverwaltung braucht wieder mehr Gestaltungsspielraum.

Die Mittelknappheit im Gesundheitswesen ist bereits heute so stark ausgeprägt, dass sie nicht mehr allein durch die Erschließung von Effizienzreserven aufgefangen werden kann. Die steigende Lebenserwartung und die zunehmende Zahl chronisch Kranker sowie multimorbider Menschen werden die Mittelknappheit weiter verschärfen. Einher geht damit die Dynamik des klinischen Fortschritts, der sich ebenfalls kostensteigernd auswirkt.

Das Gesundheitswesen sollte so ausgestaltet sein, dass Patienten einen verlässlichen und chancengleichen Zugang zur gesundheitlichen Versorgung auf dem medizinisch angemessenen Niveau und für deren jeweiligen individuellen Zustand erwarten können. Zwingende Voraussetzung dafür aber ist die Konzentration des solidarisch finanzierten Leistungsumfangs auf das originäre Leistungsversprechen, die Einbeziehung sämtlicher Einkommensarten in die Beitragsbemessung sowie die Entlastung der GKV von versicherungsfremden Leistungen.

Die Finanzierung muss den notwendigen Bedarf decken und darf nicht weiter durch "Verschiebebahnhöfe" infrage gestellt werden. Demografischer Wandel und medizinischer Fortschritt sind grundlegende Herausforderungen unserer Gesellschaft des langen Lebens und erfordern die Entwicklung von Versorgungsstrukturen, die nachhaltig und stabil finanziert sind.

Die Eigenverantwortung der Bürger und die Solidarität müssen dabei in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen. Über den durch das Versicherungssystem abgedeckten notwendigen Schutz hinaus muss man den Bürgern Optionen öffnen, selbstbestimmt ärztliche Gesundheitsleistungen unterschiedlicher Art wählen zu können.

Mit der Einführung des Gesundheitsfonds wurde auch der Übergang zum morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) vollzogen. Die pauschalierten Zuweisungen an die Krankenkassen orientieren sich nunmehr an Alter, Geschlecht, Erwerbsminderung und Morbidität der Versicherten. Vor allem aber werden durch den Morbi-RSA Fehlanreize entwickelt zum sogenannten "Right"- oder "Up-Coding". Zwar sind entsprechende Initiativen der Krankenkassen kritisiert worden, aber die Begehrlichkeiten der Kostenträger durch Instrumentalisierung des Morbi-RSA den Gesundheitsfonds besser ausschöpfen zu können, sind ebenso geblieben wie die Irritationen bei der Erhebung und Verwendung von Morbi-RSA-Daten. Dringend notwendig ist deshalb eine Überarbeitung der Morbi-RSA-Krankheitsliste.

Ärztliche Beratung, Aufklärung, Diagnostik und Therapie sind orginäre ärztliche Tätigkeiten. Leistungen, die unter Arztvorbehalt stehen; sie können und dürfen nicht von anderen ausgeführt werden. Der Arztvorbehalt und ein hoher ärztlicher Standard sichern maßgeblich die gute Qualität in der Patientenversorgung. Die Kooperation mit anderen Gesundheitsberufen führt zu einer effizienteren und patientenfreundlicheren Versorgung; zusätzliche Qualifizierungen können im Rahmen der Delegation arztentlastend und kostenmindernd wirken. Dem wird weniger durch Akademisierung als vielmehr durch Professionalisierung gedient. Das akademische Qualitätsniveau ist kein Selbstzweck. Insofern bietet auch eine Schmalspurmedizin nach Bachelorabschluss keine zukunftsfähige Alternative zum bisherigen hochqualifizierten Studium der Humanmedizin.

Die Ärzteschaft will den Aufbau einer bundesweit einheitlichen Infrastruktur für die Telematik im Gesundheitswesen zu einem erfolgreichen Abschluss bringen. Zur Fortführung des Projektes bedarf es jedoch einer grundlegenden Bestandsaufnahme über das komplexe Zusammenwirken von Selbstverwaltung, gematik und BMG. Diese Bestandsaufnahme muss eine Überprüfung der Ziele, des Geschäftsmodells der gematik sowie des strategischen Vorgehens umfassen.

Die ärztlichen Verbände appellieren an die Bundesregierung, die dringend gebotene Bestandsaufnahme des Projektes nicht durch weitere dirigistische Vorgaben zu behindern. Insbesondere muss die Anwendung der Rechtsverordnung über die Testmaßnahmen für die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte vom 17. August 2009 ausgesetzt werden.

Patienten haben Anspruch auf eine flächendeckende hausärztliche und fachärztliche Versorgung auf hohem Niveau. Die Pluralität der Trägerschaft stationärer Einrichtungen wie auch der Kollektivvertrag im niedergelassenen Bereich waren Konstanten, um allen Patienten wohnortnah einen direkten Zugang zu qualifizierter medizinischer Versorgung zu gewährleisten. Mehr und mehr aber wurden die bedarfsgerechten Versorgungsstrukturen durch die Implementierung eines ruinösen Preiswettbewerbs infrage gestellt. Die verstärkte Einführung selektiver Verträge im niedergelassenen Bereich - nicht additiv, sondern ersetzend - wie auch die zunehmende Privatisierung von Krankenhäusern führen zu einem immer stärkeren Verdrängungswettbewerb. Eine individuell bedarfsgerechte Patientenversorgung erfordert Flexibilität in der Inanspruchnahme der Versorgungsmöglichkeiten, Freiheit in der Arztwahl und vor allem auch Freiheit der Berufsangehörigen im Zugang zur Behandlung von Versicherten. Ein Gesundheitswesen, in dem die Leistungsanbieterseite strikt nach marktwirtschaftlichen Kriterien umstrukturiert wird, kann das Sozialschutzziel, die Sicherstellung einer flächendeckenden ambulanten und stationären Versorgung auf hohem Niveau, allerdings nicht mehr erreichen. Eine ausgedünnte Versorgung und Risikoselektionen wären das Ergebnis. Zwingend notwendig ist deshalb der Wiederaufbau bedarfsgerechter Strukturen auf der Grundlage eines sozial fairen Wettbewerbs.


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Hoppe: Koalitionsvertrag bietet Chance für eine neue Gesundheitskultur

Zu den bisherigen Ergebnissen der Koalitionsverhandlungen von Union und FDP für den Bereich Gesundheit erklärt der Präsident der Bundesärztekammer, Prof. Dr. Jörg-Dietrich Hoppe: "Der Entwurf für einen Koalitionsvertrag bietet die Chance, eine neue Gesundheitskultur in Deutschland aufzubauen. Wenn der Versicherte wieder zum Patienten wird und Ärzte wieder Ärzte sein können, dann ist der richtige Kurs eingeschlagen. Entbürokratisierung und keine weitere Kommerzialisierung des Gesundheitswesens hat sich die neue Regierung zum Ziel gesetzt, das ist richtig und wichtig, damit aus einem überbürokratisierten Gesundheitssystem wieder ein humanes Gesundheitswesen wird.

Der Entwurf für einen Koalitionsvertrag verspricht, die medizinischen Versorgungsstrukturen auf eine Gesellschaft des langen Lebens hin auszurichten. Das lässt hoffen, dass Gesundheitspolitik nicht länger Einsparpolitik medizinischer Leistungen bleiben wird, sondern dass medizinischer Fortschritt und demografische Entwicklung als Realitäten anerkannt werden. Das Gesundheitssystem soll freiheitlicher gestaltet werden, Patienten sollen mehr Wahlmöglichkeiten erhalten und die Freiberuflichkeit der Ärzte soll endlich wieder gefestigt werden. Den Worten müssen nun allerdings auch Taten folgen. Die Ärzte in Deutschland sind bereit, in diesem Sinne an der Ausgestaltung des Gesundheitswesens mitzuwirken."

Bundesärztekammer, Berlin


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Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 11/2009 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2009/200911/h091104a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de


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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt November 2009
62. Jahrgang, Seite 46-48
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dr. Franz Bartmann (V.i.S.d.P.)
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Dezember 2009