Schattenblick →INFOPOOL →MEDIZIN → GESUNDHEITSWESEN

POLITIK/1691: Die schwarz-gelbe Gesundheitsreform (UZ)


UZ - Unsere Zeit, Nr. 5 vom 5. Februar 2010
Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP

Die schwarz-gelbe Gesundheitsreform
Modell für die sozialreaktionäre Kapitalismusvariante

Von Hans-Peter Brenner


"Gut verpackter Horrorkatalog" so bezeichnete ein internes Papier aus der ver.di-Hauptverwaltung vor wenigen Wochen das Kapitel III des Koalitionsvertrages der neuen schwarz-gelben Regierung. "Es ist kurz gesagt ein Programm für Reiche und Gesunde. Neben Solidarität tritt Eigenverantwortung (3825 - Die Ziffern bezeichnen jeweils die Zeilennummern des Koalitionsvertrages - HPB) und die wird im weiteren Teil mit höheren individuellen Beiträgen - genannt Wahlleistungen - oder mehr Zuzahlungen im Krankheitsfall gleich gesetzt." Im weiteren Verlauf der Analyse des Koalitionsvertrages wurde auf folgende besonders herausragende Einschnitte und künftige finanzielle Belastungen aufmerksam gemacht:

Finanzierung soll weitgehend von den Arbeitskosten entkoppelt werden (3912), d.h. Hinwendung zu Pauschalen 'einkommensunabhängiger Beitrag'
wer arm ist braucht sozialen Ausgleich außerhalb des Versicherungssystems, muss also Sozialhilfe beantragen.

Der einheitliche Krankenversicherungsschutz wird aufgegeben. An seine Stelle treten mehre Wahlleistungen (3893).

Der 2009 erst eingeführte krankheitsbezogene Risikostrukturausgleich 'Morbi RSA' (3896) soll geschleift werden. Das belastet die großen Versorgerkassen - d. h. Versichertennähe, Beratung vor Ort, viele chronisch Kranke werden bestraft. Schon der bisherige Morbi RSA hat die Erstattung von Krankheitskosten nur für höchstens 80 Krankheiten mit einem Ausgleich von 50 Prozent der über den durchschnittlichen Krankheitskosten liegenden Aufwendungen vorgesehen.

Die Versicherten werden auf weitere Einschnitte eingestimmt (3900). Das wird gesundheitssystemimmanente Ausgabensteigerung genannt." So weit einige der von verdi zutreffend analysierten Maßnahmen des vom neuen jung-dynamischen Gesundheitsminister P. Rössler geplanten und derzeit immer wieder betonten "Systemwechsels" in der Gesetzlichen Krankenversicherung.

Die Beitragserhöhung ist systembedingt und von "der Politik" gewollt

Im verdi-Papier wurde außerdem schon darauf hingewiesen, dass bereits 2009 ein Kredit von zirka 2,9 Mrd., in 2010 von zirka 7,5 Mrd. und in 2011 von über 13 Mrd. Euro für die GKV (gesetzliche Krankenversicherung) gebraucht werde, wenn nicht die Kassenbeiträge erhöht oder Zusatzbeiträge anfallen sollen. Eine Beitragserhöhung werde "spätestens im zweiten Halbjahr 2010" gebraucht, weil 2010 im Gesundheitsfonds 7,5 Mrd. Euro fehlen. Ein flächendeckender Zusatzbeitrag von einem Prozent des beitragspflichtigen Einkommens, wie er zu diesem Zeitpunkt bereits im Gespräch war, würde aber nur etwa 5 Mrd. Euro zusätzlich im Jahr erbringen.

Die schwarz-gelbe Koalition werde den von "Schwarz-Rot" eingeführten Gesundheitsfonds nicht sofort wieder kippen, weil damit ja ein für die Unternehmer bereits wichtiger Eckpunkt festgeklopft worden war: der "feste Arbeitgeberanteil". Man werde aber durch "Schwarz-Gelb" jetzt dafür sorgen, dass die sogenannte "Kopfpauschale", d. h. die "einkommensunabhängigen Arbeitnehmerbeiträge", "auf leisen Sohlen aber mit großen Schritten" kommen. Und jetzt sind diese Zuzahlungen - wie in dieser Zeitung schon bei Einführung des " Gesundheitsfonds" viele Male prognostiziert wurde und wie sie von ver.di noch einmal bestätigt wurden - tatsächlich da. Es beginnt mit einer ersten Serie von Beitragserhöhungen, von der in der nächsten Zeit knapp 9 Millionen Versicherte betroffen sind. Begonnen hat dies mit der Ankündigung der DAK, die ihren Beitragssatz um 8 Euro pro Monat erhöhen will. Die BKK Westfalen-Lippe hat eine höhere Steigerungssumme genannt. Andere Kassen sprechen auch von 8 Euro. Die Kassen begründen dies mit einem Fehlbetrag von 4 Mrd. Euro.


Falsche und demagogische Kritik an der Beitragserhöhung

Dafür erhalten sie nicht nur Kritik sondern auch Zustimmung, wie z. B. vom Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Versicherte und Patienten, Wolfram Armin Candidus. Nur so sei eine Rationierung der Leistungen im Gesundheitswesen zu vermeiden. "Mehr Geld in die Kassen" - dies sei der einige Weg um eine "hochwertige" Gesundheitsversorgung auch künftig zu gewährleisten. Der Chef der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Dieter Hundt, appellierte an die Bundesregierung in diesem Zusammenhang, "den Anteil der Arbeitgeber an den Beiträgen einzufrieren." Die Absprachen zur Einforderung eines Zusatzbeitrages durch die Kassen seien "wettbewerbsfeindlich". Sie passten auch nicht zu den vielen Klagen der Kassen über den "Verlust ihrer Finanzautonomie".

Beide Lobbyisten haben natürlich nicht nur die Interessen ihres Klientels im Sinne, beide sagen auch entweder nur einen Teil der Wahrheit oder sie lügen - wie Hundt - bewusst.

Nur "ein Teil der Wahrheit" ist die Behauptung, dass nur durch eine Beitragserhöhung eine vernünftige Gesundheitsversorgung garantiert sei. Natürlich muss man auch an die "Ausgabenseite" denken. Und da gibt es natürlich schon die seit vielen Jahrzehnten geforderte Kontrolle der Preisgestaltung der Pharmaindustrie. Es gibt kaum einen Wirtschaftssektor der dermaßen monopolisiert ist und sich jeder Forderung nach Preistransparenz, nach Kappung der teilweise horrenden Gewinne so erfolgreich und penetrant entzieht wie die Pharmaindustrie.


Gewollte Unterdeckung der Gesetzlichen Krankenversicherung

Das ist nicht der "schlechten Konjunktur" oder "der Finanzkrise" geschuldet, sondern Teil eines bereits von schwarzrot beschlossenen strukturellen Konzepts: dem sogenanten Gesundheitsfonds.

Nach der letzten noch von "Schwarz-Rot" beschlossenen Gesundheits"reform" werden die Anteile der Versicherten und der Unternehmer an den Kassenbeiträgen in einen großen gemeinsamen Fonds eingespeist. Daraus erhalten die gesetzlichen Kassen dann ihre Pro-Kopf-Pauschalen für ihre Mitglieder. Der "Arbeitgeberanteil" ist bislang schon bei 7 Prozent gedeckelt; der Anteil der Kassenmitglieder beträgt 7,9 Prozent vom Bruttolohn bzw. -gehalt.

Auch bislang schon beteiligen sich die Unternehmen nicht bei bestehenden Zuzahlungen für Medikamente, Sehhilfen, Zahnersatz etc. Das Krankenhaus-Tagegeld ist noch gar nicht mit eingerechnet. "Paritätisch" ist die gesetzliche Krankenversicherung schon lange nicht mehr finanziert.

Es ist deshalb eine schlichte Lüge, wenn BDA-Boss Hundt so tut, als sei der Anteil der Unternehmen nicht bereits eingefroren und auch jetzt schon beteiligen sich die Unternehmen nicht an dem "Zusatzbeitrag", der bis zu einem Prozent der beitragspflichtigen Lohn- und Gehaltssumme betragen kann. Um diesen "Zusatzbeitrag" geht es jetzt.


Ausgabensteigerung durch Preistreiberei bei Arznei- und Heilmitteln und überhöhte Besteuerung

Erneut wurde dieser Tage deutlich, dass es weder die von dieser Seite beklagten "zu hohen" Gehälter oder Honorare der im Gesundheitswesen Beschäftigten sind oder die "verantwortungslose" Steigerung von ärztlichen Verordnungen, sondern die Jahr für Jahr stark steigenden Kosten von Medikamenten, Heilmitteln etc.

Von den insgesamt 153,6 Milliarden Euro Umsatz (Kosten) im Bereich der Gesetzlichen Krankenversicherung entfallen 51,1, Mrd. Euro (=33,3 Prozent) auf die Krankenhauskosten, auf die Arznei- und Heil-/Hilfsmittelkosten 38,2 Mrd.(=24,8 Prozent) und nur 23,1 Mrd. Euro (=15,0 Prozent) auf die Arztkosten. Dabei besteht bei der Entwicklung der Verordnungen von Arzneimitteln zulasten der GKV eine deutliche Abnahme der Zahl der Verordnungen: seit dem Jahre 2000 sank die Zahl der rezeptpflichtigen Verordnungen von 749 Millionen auf 582 Millionen im Jahre 2007. D. h. das Verschreibungs- und Verordnungsverhalten der Ärzte ging zwar eindeutig zurück, die Umsatzzahlen bei den Arzneimitteln stiegen aber im selben Zeitraum von 125 Mrd. Euro auf zirka 170 Mrd. (Alle Daten nach:Grunddaten zur vertragsärztlichen Versorgung in Deutschland 2008, Hrsg. Kassenärztliche Bundesvereinigung-KBV)

Da die Kosten für Arzneimittel in der BRD mit dem selben hohen Mehrwertsteuersatz wie für andere Produkte belegt werden - nur noch Dänemark praktiziert im Rahmen der EU das gleiche Mehrwertsteuerverfahren - werden die Ausgaben für Arzneimittel in er BRD künstlich noch zusätzlich hochgetrieben.

In Polen, den Niederlanden und Belgien liegt der Mehrwertsteuersatz auf Arzneimittel nur bei einem Drittel des Normalsatzes; in Spanien beträgt er 4 Prozent im Vergleich zum Mehrwertsteuer-Normalsatz von 16 Prozent und in Frankreich beträgt er sogar nur 2,1 Prozent im Vergleich zum Normalsatz von 19,6 Prozent. Es ist also auch eine Frage des Steuersystems wie stark die Ausgaben für Arzneimittel sich entwickeln.


Das Gerede von den "zu häufigen Arztbesuchen"

Es dürfte kein Zufall sein, dass in die laufende Debatte um die Erhebung der Zusatzbeiträge die Ergebnisse einer Studie der größten Ersatzkasse, der Barmer-GEK, platzt. In ihrem aktuellen Arztreport, der sich auf die Daten des Jahres 2008 stützt, gibt sie eine Zahl von jährlich 18,1 Krankenbesuchen für jeden Versicherten bekannt. Im Jahre 2007 seien es noch 17,7 Arztbesuche gewesen. Diese problematische "Arztrennerei", so der Vizechef der Barmer-GEK Rolf-Ulrich Schenker sei international ein "Spitzenplatz". Er forderte deshalb eine "stärkere Steuerung" der Arztbesuche. Das ist nichts Neues. Schon Ulla Schmidt hatte vor Beginn der vorletzten Gesundheits"reform", die die Einführung der unsozialen Praxisgebühr gebracht hatte, klar gesagt, dass es das Ziel der schwarzroten Regierung sei, die Zahl der Arztbesuche zu senken.

Ein Blick auf die Veränderung der Alterspyramide macht deutlich, worin die "Arztrennerei" in erster Linie begründet ist: der Anteil der 60 Jahre und älteren Patienten stieg zwischen 2000 bis 2010 von 23,6 Prozent auf 26,2 Prozent.

Die höchsten Umsätze für Verordnungen konzentrieren sich auf die Altersgruppe zwischen dem 70. bis 85. Lebensjahr. Gleichzeitig nimmt der Druck auf die jüngeren Jahrgänge im Gefolge der beruflichen Belastungen und der Krise des kapitalistischen Arbeitsmarktes weiter zu.

Im Gesundheitswesen läuft unter dem Strich betrachtet derzeit eine Auseinandersetzung die weit mehr bedeutet als nur einen gesundheitspolitischen Systemwechsel. Das Ganze ist ein Paradebeispiel für den grundsätzlichen sozial-reaktionären Umbau aller sozialen Sicherungssysteme zur Erhöhung der Profite für das große Kapital.


*


Quelle:
Unsere Zeit (UZ) - Zeitung der DKP, 42. Jahrgang, Nr. 5
5. Februar 2010, Seite 6
Herausgeber: Parteivorstand der DKP
Anschrift von Verlag und Redaktion:
Hoffnungstraße 18, 45127 Essen
Telefon 0201 / 22 54 47
E-Mail: redaktion@unsere-zeit.de
Internet: www.unsere-zeit.de

Die UZ erscheint wöchentlich.
Einzelausgabe: 2,80 Euro
Jahresbezugspreise:
Inland: 126,- Euro
Ausland: 130,- Euro
Ermäßigtes Abo: 72 Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Februar 2010