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DIABETES/2111: Jeden Tag kommen mehr als 1.000 Neuerkrankungen hinzu - Neues vom Deutschen Diabeteskongress 2021 (SHÄB)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 7/8, Juli/August 2021

Jeden Tag mehr als 1.000 neue Patienten

von Uwe Groenewold


DIABETES. Epigenetik und Telemedizin sind die Themen zweier Lübecker Wissenschaftlerinnen, mit denen sie Schleswig-Holstein beim Deutschen Diabetes Kongress vertreten haben. Vorgestellt wurden auch neue Erkenntnisse über den Einfluss von Diabetes auf die Krebsentstehung.


Aktuell gibt es mindestens acht Millionen Betroffene mit Diabetes in Deutschland", erklärte Prof. Monika Kellerer, Präsidentin der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG), zu Kongressbeginn, etwa 95 Prozent von ihnen mit einem Typ-2-Diabetes. Pro Tag kämen weit mehr als 1.000 Neuerkrankte hinzu, bis zum Jahr 2040 werde sich die Zahl der Diabeteserkrankungen voraussichtlich auf zwölf Millionen belaufen. "Das ist eine gewaltige Herausforderung für unser Gesundheitssystem. Schon heute müssen pro Jahr mehr als 21 Milliarden Euro für Diabetes und seine Begleiterkrankungen ausgegeben werden - das Leid der Betroffenen ist damit noch gar nicht berücksichtigt."

Kurz nach dem Kongress hat die Technische Universität München weitere bedenkliche Zahlen veröffentlicht: Rund 40 Prozent der Teilnehmer einer Onlinebefragung (1.001 Erwachsene zwischen 18 und 70 Jahre, Befragung im April 2021) gaben an, seit Beginn der Corona-Pandemie zugenommen zu haben. Im Schnitt liegt die Gewichtszunahme bei 5,6 kg, bei den Befragten mit ohnehin höherem Gewicht und BMI über 30 sind es sogar 7,2 kg. Überdurchschnittlich häufig haben die 30- bis 44-Jährigen (48 Prozent) Gewicht zugelegt. "Corona befeuert damit die Adipositas-Pandemie", bilanzierte Ernährungsmediziner Prof. Hans Hauner.

Und die wiederum wirkt sich auf die starke Zunahme von Typ-2-Diabetes aus - bei der jetzigen und bei späteren Generationen. Die Zusammenhänge und welchen Einfluss Lebensstilfaktoren auf die Entstehung von Diabetes haben können, untersucht Ernährungswissenschaftlerin und Genetikerin Prof. Henriette Kirchner mit ihrem Team an der Universität Lübeck. Epigenetik heißt das Forschungsfeld, das das Wechselspiel zwischen Genen und Umwelteinflüssen untersucht und dessen aktuelle Erkenntnisse Kirchner bei der virtuellen 55. Jahrestagung der DDG vorgestellt hat.

"Die menschlichen Gene haben sich in den letzten 100 Jahren kaum verändert. Epigenetik wiederum ist flexibel und dynamisch und reagiert schnell auf Umwelteinflüsse und den individuellen Lebensstil. Deswegen spielt die Lebensweise, also wie wir uns ernähren und bewegen, eine große Rolle bei der Diabetesentstehung", erläutert die Forscherin im Interview (*). Das betreffe heute jeden Einzelnen persönlich und morgen die Nachkommen, so Kirchner: "Eltern sollte klar sein, dass sich ihr Lebensstil auf die kommende Generation auswirkt; epigenetische Muster können über Mutter oder Vater weitergegeben werden." Dies beziehe sich insbesondere auf die Entwicklung von Typ-2-Diabetes.

Bisherigen Erkenntnissen zufolge nur wenig mit Genetik oder Epigenetik zu tun hat Typ-1-Diabetes, die häufigste Stoffwechselerkrankung im Kindesalter. Nach aktuellen Schätzungen leben in Deutschland etwa 32.000 Kinder und Jugendliche bis 19 Jahre mit der autoimmun bedingten Erkrankung. Die Erkrankungsrate steigt jedes Jahr um drei bis vier Prozent, besonders kleine Kinder sind von dem Zuwachs betroffen. "Woran das liegt, wissen wir nicht", sagt DDG-Präsident Prof. Andreas Neu aus Tübingen. "Es gibt zwar Antikörper und andere Marker, die eine Vorhersage und Risikoabschätzung hinsichtlich der Diabetesentstehung erlauben, bislang fehlen jedoch wirkungsvolle Strategien, die einen Ausbruch der Erkrankung verhindern könnten."

Manchmal ist der Auslöser ein Infekt, in anderen Fällen findet sich keine bestimmte Ursache, wenn ein bisher gesundes Kind oder ein Jugendlicher plötzlich an Diabetes Typ 1 erkrankt. Wie allerdings moderne Diabetestechnologien Behandlungsergebnisse verbessern können, wird seit Jahren in der Kinderdiabetologie unter Beweis gestellt. Die meisten jungen Patienten mit Typ-1-Diabetes tragen ein Gerät zur kontinuierlichen Glukosemessung (CGM) und eine Insulinpumpe bei sich. Die Daten von CGM-Systemen, Blutzuckermessgeräten und Insulinpumpen können unkompliziert über eine App in eine Software hochgeladen und direkt statistisch vorausgewertet sowie grafisch aufbereitet werden. Neue telemedizinische Möglichkeiten, wie sie unter anderem in der Kinder- und Jugendmedizin am UKSH in Lübeck seit mehreren Jahren angeboten werden, können die Therapie weiter optimieren.

Die von Dr. Simone von Sengbusch geleitete "Virtuelle Diabetesambulanz für Kinder und Jugendliche" (ViDiKi), eine vom Innovationsfonds geförderte Studie zur Erprobung der Videosprechstunde, wurde bereits vor der Corona-Pandemie erfolgreich getestet: Die Studie wurde von April 2017 bis März 2020 mit 240 Kindern und Jugendlichen in Schleswig-Holstein und Hamburg durchgeführt (das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt berichtete). Alle Teilnehmer erhielten über ein Jahr monatliche Videosprechstunden durch ihr Studienteam als ergänzende Leistung zur Regelversorgung in ihrer Diabetesambulanz. Danach konnten die Studienteilnehmer noch bis zum Ende des Versorgungszeitraums weiter Telemedizin nutzen, im Schnitt waren das zweieinhalb Jahre.

Im vergangenen Oktober hat die Oberärztin die Ergebnisse veröffentlicht (doi.org/10.1111/pedi.13133), die wesentlichen Erkenntnisse lauten:

• Große Akzeptanz: Von den circa 3.800 Videosprechstundenterminen wurden nahezu alle wahrgenommen.

• Bessere Werte: Für die gesamte Kohorte zeigte sich nach einem Jahr eine signifikante und klinisch relevante Absenkung des HbA1c.

• Entlastung und Zufriedenheit: Insbesondere Mütter wurden in der Therapie entlastet, signifikant steigende Therapiezufriedenheit der Eltern.

Ab April 2020 wurde die Studie fortgeführt und bezog auch neu erkrankte Kinder ein. "Unsere 'ViDiKi 2.0'-Studie endete im März 2021 und fand damit komplett während der Corona-Pandemie statt", erläutert von Sengbusch. Die Ergebnisse sollen in Kürze veröffentlicht werden. Ob die Videosprechstunde in die Regelversorgung überführt wird, entscheidet der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA). Für die Kinderdiabetologin ist klar: "Die jungen Patientinnen und Patienten werden darauf nicht mehr verzichten wollen. Das Diabetesmanagement ist mit der Videosprechstunde für Familien und Therapeuten viel einfacher geworden. Letztendlich ist genau das die moderne Medizin, die zur hochdigitalisierten Therapie passt."

Zu den erwachsenen Patienten: Einer Auswertung der Universität Ulm zufolge leidet inzwischen knapp jeder fünfte stationäre Patient über 20 Jahre an Diabetes (doi: 10.3238/arztebl.m2021.0151). Analysiert wurden Fallzahlen zwischen 2015 und 2017, mehr als 18 Prozent der jeweils rund 16,5 Millionen stationär aufgenommenen Patienten hatten eine Haupt- oder Nebendiagnose Diabetes. Diabetes kommt im Krankenhaus nahezu doppelt so häufig vor wie in der Gesamtbevölkerung - ein deutliches Indiz für die hohe Morbidität. Unabhängig vom Aufnahmegrund haben Menschen mit Diabetes einen schlechteren Verlauf im Krankenhaus; die Krankenhaussterblichkeit ist bei Diabetikern um 32 Prozent höher als in einer vergleichbaren Gruppe ohne Diabetes. Von den rund 3,1 Millionen Krankenhausfällen mit Diabetes im Jahr 2017 waren laut Studie mehr als 2,8 Millionen an einem Typ-2-Diabetes erkrankt. "Auffällig war, dass die Verweildauer und Sterblichkeit unter den Krankenhausfällen mit Diabetes höher lag als bei denjenigen ohne Diabetes", erklärt Prof. Reinhard W. Holl aus Ulm. "Das verdeutlicht den erheblichen stationären Versorgungsbedarf von immer älter werdenden multimorbiden Diabetespatienten."

Mit dem Alter zunehmende Beschwerden wie Herzkreislauferkrankungen, Nierenschäden oder Demenz sind Folgen des Typ-2-Diabetes. Verantwortlich hierfür sind neben den Stoffwechselstörungen häufig chronische Entzündungsreaktionen. Dafür typische Entzündungsbotenstoffe beeinträchtigen Organe oft so stark, dass sie nicht mehr ausreichend auf Insulin reagieren. In einer aktuellen Untersuchung haben Wissenschaftler des Deutschen Diabetes-Zentrums (DDZ) bei über 400 Probanden 74 Biomarker gemessen, die ein breites Spektrum an Entzündungsprozessen abdecken (doi.org/10.2337/db20-1054). Damit lässt sich das Risiko für diabetesbedingte Komplikationen besser bestimmen.

Bereits zuvor hatten die Forscher im Rahmen der Deutschen Diabetes-Studie fünf Subgruppen von Diabetes mit unterschiedlichem Verlauf identifiziert: die schwere Autoimmun-Diabetes (SAID), der schwere Insulinmangel-Diabetes (SIDD), der schwere insulinresistente Diabetes (SIRD), der moderate adipositasbedingte Diabetes (MOD) sowie der moderate altersbedingte Diabetes (MARD).

Die aktuelle Studie zeigt, dass sich diese Subgruppen nicht nur hinsichtlich Alter und Stoffwechseleigenschaften unterscheiden, sondern auch bezüglich der Biomarker der Entzündung. Die höchsten Blutspiegel wurden in der Subgruppe SIRD beobachtet, die durch ausgeprägte Insulinresistenz gekennzeichnet ist; die Subgruppe SIDD, die vor allem durch Insulinmangel geprägt ist, wies die niedrigsten Biomarker-Spiegel auf. "Es wird noch einige Jahre dauern, bis wir aus diesen Erkenntnissen eine konkrete Empfehlung für die Diabetestherapie ableiten können, aber die Ergebnisse sind für Diabetes-Komplikationen und ihr Verständnis äußerst relevant", sagt Dr. Christian Herder aus dem DDZ. Zukünftige Studien müssten untersuchen, inwieweit Unterschiede in den Profilen der entzündungsbezogenen Biomarker die Unterschiede zwischen den Diabetes-Subgruppen hinsichtlich ihres Risikos, diabetesbedingte Komplikationen zu entwickeln, erklären können.

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Info

In Deutschland gibt es nach Angaben der Deutschen Diabetes Gesellschaft rund 1.100 diabetologische Schwerpunktpraxen, 4.266 Diabetologen, 5.050 Diabetesberater, etwa 8.570 Diabetesassistenten, 3.520 Wundassistenten sowie 300 stationäre Einrichtungen mit einer Anerkennung für Typ-1- und Typ-2-Diabetes (Stand 2/21). Ein Hausarzt betreut im Schnitt etwa 100 Patienten mit Diabetes, davon zwei bis fünf Typ-1-Diabetiker. Rund die Hälfte der Typ-2-Diabetiker wird ohne Medikamente (Ernährungsumstellung, Gewichtsabnahme, Schulung und Bewegung) behandelt, 40 bis 50 Prozent erhalten blutzuckersenkende Tabletten, mehr als 1,5 Millionen werden mit Insulin behandelt.
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Diabetiker haben ein höheres Risiko für eine Krebserkrankung, von der in Deutschland jährlich etwa 510.000 Menschen neu betroffen sind. Epidemiologische Untersuchungen haben eine klare Risikobeziehung zwischen Übergewicht und Tumorerkrankungen der Gebärmutter, der Speiseröhre, der Leber, der Bauchspeicheldrüse und des Darms aufgezeigt, wie Prof. Stephan Herzig, Direktor des Helmholtz Diabetes Centers München, während des Kongresses erläuterte. Je nach Studie findet man ein bis zu vierfach höheres Risiko zum Beispiel für Leberkrebs. "Bei Menschen mit Typ-2-Diabetes kann man von einem bis zu 1,7-fach erhöhten Risiko für bestimmte Tumorarten ausgehen", so Herzig. "Das sind Brust-, Darm-, Harnblasen- und Bauchspeicheldrüsenkrebs, bei einer entsprechenden familiären Vorbelastung gilt auch ein erhöhtes Risiko für Darmkrebs."

Die Gründe für diese Risikobeziehung sind vielfältig: Menschen mit Prädiabetes und einem unerkannten Typ-2-Diabetes weisen häufig eine Insulinresistenz auf, die ihr Körper mit einer vermehrten Hormonausschüttung zu kompensieren versucht. Insulin fördert aber auch das Zellwachstum. "Somit können Körperzellen mit einem genetischen Defekt, der eine entgleiste Zellteilung bewirkt, noch schneller wachsen und zu Tumoren führen", erklärte der Molekularbiologe. Darüber hinaus laufen sowohl bei Übergewicht als auch bei Diabetes die oben beschriebenen chronischen Entzündungsprozesse in verschiedenen Organen ab, die ebenfalls das Tumorwachstum beschleunigen können. Auch bestimmte Fettgewebshormone, die bei Übergewicht vermehrt aus dem Fettgewebe freigesetzt werden, spielen bei der Tumorprogression eine Rolle. In Studien konnte gezeigt werden, so Herzig, dass das Fettgewebshormon Leptin den Fettstoffwechsel in Brustkrebszellen verändern und dadurch die Tumoraggressivität sowie die Metastasierung steigern kann. "Das bedeutet, die Körperumgebung in einer bestimmten Stoffwechsellage kann direkt Einfluss auf eine Tumorzelle nehmen und den weiteren Verlauf auf molekularer Ebene bestimmen."

Weitere Studien müssten unter anderem ergründen, wie der systemische Stoffwechsel mit dem Tumorstoffwechsel zusammenhängt und ob der Stoffwechsel das Tumorwachstum nicht nur beschleunigen, sondern auch initiieren kann. "Genauso wichtig ist, Menschen mit Diabetes über ihr erhöhtes Krebsrisiko aufzuklären und ihnen Präventions- und Früherkennungsangebote aufzuzeigen", betont Herzig. Früh erkannt seien viele Krebsarten und ihre Vorstufen mittlerweile gut behandelbar.

Auch über die Zusammenhänge zwischen Diabetes und COVID-19 ist inzwischen mehr bekannt; sie waren ebenfalls Thema beim virtuellen DDG-Kongress. Diabetiker haben ein höheres Risiko für einen schweren COVID-19-Verlauf. Metaanalysen haben gezeigt, dass männliches Geschlecht, Alter über 65 Jahre, hohe Blutglukosespiegel zum Zeitpunkt der Einlieferung ins Krankenhaus, die chronische Behandlung mit Insulin sowie bestehende Begleiterkrankungen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Nierenerkrankungen als Risikofaktoren für einen schweren COVID-19-Verlauf gelten. Andererseits zeigten die Analysen, dass eine dauerhafte Metformintherapie mit einem reduzierten Risiko für einen schweren COVID-19-Verlauf einherging.

Darüber hinaus gibt es erste Erkenntnisse, dass auch eine SARS-CoV-2-Infektion eine Diabeteserkrankung auslösen kann. Verschiedene Studien haben gezeigt, dass bei bis zu 15 Prozent der hospitalisierten Patienten mit COVID-19 in der Folge ein neu aufgetretener Diabetes diagnostiziert wurde. Ganz offensichtlich infizieren die Coronaviren die Beta-Zellen der Bauchspeicheldrüse und beeinträchtigen deren Funktion. Ob sich der Zuckerstoffwechsel nach abgeklungener Infektion wieder normalisiert oder aber der Diabetes chronifiziert, darüber gibt es noch keine abschließenden Erkenntnisse.


(*) Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
siehe unter:
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DIABETES/2110: Einfluss von Lebensstilfaktoren auf die Entstehung - Interview mit Prof. Dr. Henriette Kirchner (SHÄB)

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Nr. 7/8, Juli/August 2021
74. Jahrgang, Seite 8-10
Herausgeber: Ärztekammer Schleswig-Holstein
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
Telefon: 04551/803-0, Fax: 04551/803-101
E-Mail: info@aeksh.de
Internet: www.aeksh.de
 
Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 24. August 2021

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