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KREBS/1087: Für mangelernährte Krebspatienten verschlechtert sich die Prognose (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 5/2015

ONKOLOGIE
Für mangelernährte Krebspatienten verschlechtert sich die Prognose

Von Uwe Groenewold


Ernährungstherapie sollte Standard in jedem Tumorzentrum sein. Jeder vierte Patient stirbt nicht am Tumor, sondern an den Folgen der Mangelernährung.


Etwa jeder zweite Krebspatient ist mangelernährt; jeder vierte stirbt nicht an seinem Tumorleiden, sondern an den Folgen einer Mangelernährung und der damit verbundenen körperlichen Auszehrung. Experten der Schleswig-Holsteinischen Krebsgesellschaft plädieren für eine bessere ernährungsmedizinische Betreuung krebskranker Menschen.

"Mangelernährung tritt in allen Stadien maligner Erkrankungen auf und wird bei etwa der Hälfte aller Tumorpatienten diagnostiziert. Dabei ist nicht das Ausgangsgewicht, sondern der Gewichtsverlust prognostisch relevant", erläutert Prof. Frank Gieseler, Vorsitzender der Schleswig-Holsteinischen Krebsgesellschaft. Wichtigstes klinisches Zeichen einer Mangelernährung ist ein unbeabsichtigter Gewichtsverlust von mehr als fünf Prozent in den letzten drei Monaten beziehungsweise von zehn Prozent in den letzten sechs Monaten. "Dieses Phänomen betrifft jedoch nicht nur Krebspatienten, sondern ist auch bei anderen schweren Erkrankungen, insbesondere bei geriatrischen Patienten festzustellen", so Gieseler.

Je nach Tumorart findet sich bei 34 (Darmkrebs) bis 85 Prozent (Magenkrebs) der Patienten ein signifikanter Gewichtsverlust. Die Ursachen für die Mangelernährung bei Tumorpatienten sind multifaktoriell. Einer Studie zufolge leiden 40 Prozent der Patienten unter Appetitlosigkeit, 46 Prozent beklagen Geruchs- und Geschmacksveränderungen und 60 Prozent haben mit Völlegefühl zu kämpfen. Hinzu kommen Übelkeit (39 Prozent) und Erbrechen (27 Prozent).

Durch die reduzierte Nahrungsaufnahme werden ganz unterschiedliche und zum Teil schwerwiegende Stoffwechselveränderungen hervorgerufen (Tumorkachexie). Entzündliche Prozesse und Insulinresistenz lassen den Stoffwechsel entgleisen und schwächen das Immunsystem. Zusammen mit dem Verlust an Muskelmasse führt dies häufig zu deutlichem Kraftverlust, Müdigkeit, Koordinations- und Konzentrationsschwäche und depressiven Verstimmungen. "Diese Symptome werden ursächlich meist mit dem Tumorleiden in Verbindung gebracht, können oft aber als Folge einer Mangelernährung verstärkt werden", sagt Gabriele Hummel-Peters, in der Krebsgesellschaft organisierte Diplom-Ökotrophologin.

Mangelernährung erhöht Morbidität, Mortalität und Therapierisiken, verlängert Klinikaufenthalte und reduziert Lebensqualität. Eine deutsche Querschnittuntersuchung aus dem Jahr 2006 mit 1.886 Patienten in 13 Krankenhäusern ergab, dass 37,6 Prozent aller Patienten in onkologischen Abteilungen mangelernährt sind und eine um 43 Prozent verlängerte stationäre Aufenthaltsdauer hatten. Die Ursachen dafür sind vielfältig, erläutert Prof. Hans Hauner von der TU München in einem aktuellen Aufsatz (gynäkologie+geburtshilfe. 2014; 19(6):32-6): Kau- und Schluckbeschwerden bei Kopf-Hals-Tumoren oder Verdauungsstörungen bei Kolonkarzinomen begünstigen eine unzureichende Nahrungszufuhr, die zu einem Verlust von Körpermasse führt. Bei schnell wachsenden Tumoren besteht ein erhöhter Nährstoffbedarf, der vielfach nicht gedeckt werden kann. Darüber hinaus verursachen oft auch Therapiemaßnahmen (Chirurgie, Chemo- oder Strahlentherapie) Beschwerden, die Appetit und Nahrungsaufnahme beeinträchtigen.

Die Zusatzkosten, die Mangelernährung für die Kranken- und Pflegeversicherung jährlich verursacht, belaufen sich nach Angaben der 2014 gegründeten "Deutschen Stiftung gegen Mangelernährung" (www.dsgme.org) auf 8,9 Milliarden Euro jährlich. Bis zum Jahr 2020 sei mit einem drastischen Kostenanstieg um fast 25 Prozent auf circa elf Milliarden Euro im Jahr zu rechnen. Die Stiftung beruft sich bei ihren Angaben auf eine Studie aus dem Jahr 2007. Von den Gesamtkosten entfallen fünf Milliarden Euro auf den Bereich Krankenhaus sowie 2,6 Milliarden Euro auf den Pflegebereich. Weitere 1,3 Milliarden Euro fallen im Bereich der ambulanten ärztlichen Versorgung an. Diese Kosten werden beispielsweise durch längere Verweildauern im Krankenhaus oder eine erhöhte Komplikationsrate mangelernährter Patienten verursacht, so die Stiftung, an deren Spitze die beiden Professoren Markus Masin und Till Zech vom Uniklinikum Münster stehen.

Feststellen lässt sich ein schlechter Ernährungszustand mit verschiedenen Screening-Fragebögen; von den führenden nationalen (DGEM) und internationalen (ESPEN) Fachgesellschaften empfohlen wird das "Nutritional Risk Screening" (NRS). Es dient der Identifizierung von Patienten, die von einer Ernährungstherapie profitieren. Dabei werden ernährungsrelevante Faktoren (Gewicht, Gewichtsabnahme und Nahrungsaufnahme im Vergleich zu früher) sowie der Schweregrad einer Erkrankung bewertet. Der "Malnutrition Universal Screening Tool" (MUST) und der "Subjective Global Assessment" (SGA) sind weitere, vor allem im ambulanten Bereich eingesetzte Fragebögen. Zusätzliche diagnostische Maßnahmen bei Verdacht auf Mangelernährung: Ermittlung des Body-Mass-Index (BMI) und der Gewichtsentwicklung in den letzten sechs Monaten, Messung der Körperzusammensetzung (Bioimpedanzanalyse), Bestimmung der Handkraft.

Ab dem Diagnosezeitpunkt, so Hauner, sollte ein regelmäßiges Ernährungsmonitoring und bei Bedarf eine frühzeitige Ernährungstherapie "integraler Bestandteil im Behandlungskonzept jedes Tumorpatienten" sein. Dem stimmt Ernährungsexpertin Hummel-Peters ausdrücklich zu. Sie wünscht sich: "Diplom-Ökotrophologen, Ernährungswissenschaftler und Diätassistenten sollten in jedem stationären und ambulanten Krebszentrum schon bei der Diagnosestellung routinemäßig involviert werden und den Patienten vor, während und nach der Therapie begleiten, um dieses schwerwiegende gesundheitliche Problem in den Griff zu bekommen." Im Arzt-Patienten-Gespräch stehe meist der Therapieverlauf im Fokus; Fragen zur Ernährung kommen häufig zu kurz. Hier bedarf es einer Unterstützung durch gut ausgebildete Fachkräfte, um Ernährungsprobleme individuell zu identifizieren und zu behandeln. Dabei sollte am bestehenden Essmuster angeknüpft werden, um individuelle und alltagstaugliche Ernährungskonzepte zu erarbeiten, so Hummel-Peters. Die Patienten müssten zu ihren dringenden Fragen, etwa der Ernährung nach einem chirurgischen Eingriff, bei dem ein Teil der Verdauungsorgane entfernt wurde, umfassende Antworten erhalten.

Bei Verdacht auf Mangelernährung besteht unmittelbar Handlungsbedarf, um weiteren Gewichtsverlust zu verhindern beziehungsweise einen Gewichtsanstieg zu fördern. "Dabei sollten zunächst alle Möglichkeiten der oralen Kost ausgeschöpft werden. Die Ernährung ist ein wichtiger Part der Selbstbestimmung und eine der wenigen verbliebenen Möglichkeiten, den Therapieverlauf aktiv zu beeinflussen", erläutert Hummel-Peters, die als Ernährungswissenschaftlerin in verschiedenen stationären und ambulanten onkologischen Zentren Schleswig-Holsteins tätig ist.

Supportivmaßnahmen kommen dann zum Tragen, wenn eine ausreichende Versorgung allein durch normale Ernährung nicht möglich ist. Hochkalorische Trinknahrung versorgt den Patienten mit allen Makro- und Mikronährstoffen. "Eine solche Supportivmaßnahme kann den Stress am Esstisch zu Hause oft nehmen, denn das gutgemeinte Drängen "Du musst doch was essen" ist oft sehr belastend für den Patienten und die Angehörigen."

Ist eine Ernährung auf oralem Weg nicht möglich, zum Beispiel bei HNO-Tumoren, nach operativen Eingriffen oder während der Strahlentherapie, kann die Versorgung zeitweise über eine PEG-Sonde erfolgen. Sind alle Möglichkeiten ausgeschöpft, sollte eine parenterale Ernährung in Betracht gezogen werden, so Hummel-Peters. Die Abstimmung, wann welche Maßnahmen durchgeführt werden, sollte ihrer Meinung nach immer im Team erfolgen. "Eine enge Zusammenarbeit mit dem behandelnden Arzt, der das größte Vertrauen des Patienten genießt, sowie den Pflegekräften ist unabdingbar."

Das unterstreicht auch Onkologe Gieseler, der am UKSH, Campus Lübeck, den Bereich Experimentelle Onkologie, Palliativmedizin und Ethik in der Onkologie leitet. "Eine problematische Ernährungssituation muss interdisziplinär betrachtet und angegangen werden - alles andere ist für den Patienten nicht gut." Er betont, dass jede Entscheidung individuell getroffen werden muss, weil die Situation aller Schwerkranken unterschiedlich ist. Für Gieseler besonders wichtig: "Wir behandeln Patienten und nicht die Familie! Die Einschätzung und das Empfinden bezüglich der Mangelernährung sind häufig zwischen Patienten und Betreuern unterschiedlich -wir aber sind dem Patienten verpflichtet. Übrigens auch rechtlich, selbst wenn es einen Betreuer gibt: Wenn sich der Patient eindeutig äußern kann, dann gilt diese Willensäußerung."

Weitere Informationen zum Beispiel auf den Internetseiten der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin: www.dgem.de.


ADIPOSITAS UND KREBS

Die Inzidenz von Adipositas ist in den vergangenen Jahrzehnten in der westlichen Welt dramatisch gestiegen. Wenn Adipositaspatienten an Krebs erkranken, kann auch bei ihnen eine behandlungsbedürftige Mangelernährung diagnostiziert werden.

"Es kommt auf den Gewichtsverlust und nicht auf das Ausgangsgewicht an", erläutert Prof. Frank Gieseler. Plötzlicher Gewichtsverlust führt auch bei adipösen Patienten zu unerwünschten Stoffwechselveränderungen. Sein Fazit: "Eine Gewichtsabnahme ist in dieser Situation nicht wünschenswert."

Gleichwohl ist Adipositas ein unabhängiger Risikofaktor für Tumorleiden, wie Gieseler in einer aktuellen Arbeit (Internist 2015 · 56:127-136, DOI 10.1007/s00108-014-3536-4) zusammen mit seinen Lübecker Kollegen Prof. Hendrik Ungefroren, Molekularbiologe im Labor für Experimentelle Onkologie, und Prof. Hendrik Lehnert, Endokrinologe und Präsident der Universität Lübeck, beschrieben hat. Epidemiologische Daten zeigen, dass Fettleibigkeit mit einem erhöhten Risiko assoziiert ist, an bestimmten Krebsarten zu erkranken; die zugrundeliegenden Mechanismen und potenziellen Faktoren sind jedoch noch weitgehend ungeklärt. Adipositas induziert unter anderem eine Insulinresistenz und eine chronische, subklinische Entzündung im viszeralen Fettgewebe. In der Folge kommt es zu spezifischen Stoffwechselveränderungen, die prokanzerogene Effekte haben können. Eine Beseitigung der Entzündungssituation und die Wiederherstellung eines funktionalen Fettgewebes können therapeutische Ansatzpunkte sein.


Vita
Prof. Frank Gieseler ist Vorsitzender der Schleswig-Holsteinischen Krebsgesellschaft. Er leitet am UKSH, Campus Lübeck, den Bereich Experimentelle Onkologie, Palliativmedizin und Ethik der Onkologie.


Info
8,9 Mrd. Euro an Kosten entstehen jährlich für die Kranken- und Pflegeversicherung durch Mangelernährung.


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 5/2015 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2015/201505/h15054a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Prof. Frank Gieseler

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
68. Jahrgang, Mai 2015, Seite 28 - 29
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dirk Schnack (Ltg.)
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Juni 2015

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