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EPIDEMIE/104: Unsichtbare Angreifer (5) - Viren. Muss man sich fürchten? (research*eu)


research*eu - Nr. 59, März 2009
Magazin des Europäischen Forschungsraums

Viren. Muss man sich fürchten?

Von Axel Meunier


Vorzeichen neuer Virusepidemien, die die ganze Welt treffen könnten, alarmieren die wissenschaftliche Gemeinschaft und die Medien: SARS 2003, Chikungunya 2006, Vogelgrippe H5N1 seit 1997 - und dabei sind die Krankheitsherde fürchterlicher hämorrhagischer Fieber wie Lassa, Ebola und das West-Nil-Virus noch nicht mitgerechnet. Mit diesen Damoklesschwertern beschäftigt sich die Forschung.


"Die Welt steht am Rand einer Pandemie, die unter der menschlichen Bevölkerung ein Massensterben auslösen könnte", hieß es in einem Artikel des Virenforschers Robert Webster, der im März 2003 in der Zeitschrift American Scientist veröffentlicht worden war. Während der SARS-Epidemie - SARS ist die Abkürzung für das akute schwere Atemwegssyndrom - schrieb er sich die Finger wund, wobei er ein Katastrophenszenario benutzte, bei dem ein neues todbringendes Virus das Wissen der Mediziner und die Macht der Behörden wirkungslos machte.

Die Furcht vor dem Jüngsten Tag ist zwar wieder abgeklungen, aber eine Viruspandemie müsste sich aus statistischer Sicht in den kommenden Jahren ereignen. Der jüngste Bericht der Weltgesundheitsorganisation (WHO) hebt unter 18 neuen zwischen 1996 und 2004 aufgetretenen Infektionskrankheiten elf Virustypen hervor, zu denen auch Gelbfieber, SARS, das West-Nil-Virus und Ebola gehören. Die Prognosen sind beunruhigend, wobei die ernsthafteste Bedrohung das bekannte Grippevirus H5N1 darstellt, das vor allem bei Vögeln sehr pathogen ist. "Es verursacht seit 2003 die größte Panzootie unter Vögeln, die jemals aufgezeichnet wurde", konstatiert Antoine Flahault, Mediziner und Biostatistiker, der zusammen mit der WHO das weltweite Grippeüberwachungssystem FluNet entwickelt hat.

Die wissenschaftliche Forschung zu Viruskrankheiten beabsichtigt nicht nur die Immunisierung der Bevölkerung mithilfe von Impfstoffen wie im Fall der Pocken, die 1979 ausgerottet wurden, sondern es geht auch darum, die sehr komplexen Mechanismen der Viren zu verstehen. Diese bestehen aus einfachen DNA- oder RNA-Sequenzen, die von Proteinen umgeben und selbst nicht lebendig sind. Ihrer Natur nach sind sie Parasiten, die andere Organismen infizieren müssen, um sich selbst zu replizieren. Dieser Zwang bietet ihnen allerdings auch unendliche Möglichkeiten: Ein neues Coronavirus, ein bislang unbekannter Vetter eines banalen Schnupfenvirus, verursachte 2003 die SARS-Pandemie in Asien. Ähnlich wie AIDS, das durch die Anpassung des Immundefizienzvirus der Primaten an den Menschen entstanden ist, soll auch SARS durch Übertragung vom Tier auf den Menschen entstanden sein.

Ist die Artengrenze noch hoch genug, um die Verbreitung des H5N1-Virus einzudämmen, dessen natürliches Wirtsreservoir Vögel sind? Pierre Roques vom Institut für aufkommende Krankheiten (Institut des maladies émergentes et thérapies innovantes - IMETI, FR) äußert sich eher vorsichtig: "Das Dogma der Artengrenze hat sich abgeschwächt: Obwohl die bei Schweinen rasch zum Tod führende Schweinepest Menschen bei Kontakt niemals infiziert, kann die Schweinegrippe diese Grenze sehr schnell überschreiten. Die Rekombination des Schweine infizierenden Vogelvirus, das sich anschließend auf Menschen überträgt, ist ein sehr komplexer Mechanismus, um die neuen Varianten der menschlichen Grippe zu erklären. Die Pathologie hängt eher von dem befallenen Organ ab als von der Gattung: Das Virus kann die Grenze zwischen warmblütigen Tieren überspringen, die ähnliche Organe besitzen. Aber das H5N1-Virus, das bei 39°C Umgebungstemperatur einen optimalen Lebensraum findet, ist immer noch nicht an die Spezies Mensch angepasst, dessen Körpertemperatur zwei bis drei Grad unter der Temperatur von Vögeln liegt."

Im Hinblick auf die molekulare Zusammensetzung scheint der Unterschied auf das H des Hämagglutinins zurückzuführen sein, nach dem die verschiedenen Influenza A-Viren eingeordnet werden. Bekannt sind 16 Varianten, von denen drei an den Menschen perfekt angepasst sind und unsere jahreszeitlich bedingten Grippen übertragen. Das H ist also der Schlüssel, dessen sich das Virus bedient, um in die Zellen des Wirtes einzudringen. Für Antoine Flahault haben "erwiesenen Erkenntnissen zufolge nur H1-, H2- und H3-Viren in der Geschichte der Menschheit Pandemien ausgelöst. Auch wenn manche gestern noch als unmöglich eingestufte Ereignisse heute möglich geworden sind, ist die Artengrenze für die Viren immer noch extrem hoch. Diese Viren gibt es schon lange. Obwohl Vögel, Hausgeflügel und Menschen in manchen Gegenden der Erde sehr eng zusammenleben, gibt es im 20. Jahrhundert trotz mehrerer Fälle von Vogelpest keine einzige Spur für einen epidemischen Herd für H5N1 beim Menschen."

Aber für manche Wissenschaftler könnte die Veränderung eines einzigen Elements der Form H5 die auf Vögel beschränkte Spezialisierung des H5N1-Virus verändern. Die Humanisierung des Virus, die durch die Rekombination von H5N1 mit anderen Viren erfolgen könnte, würde dann das Tor zu einer Pandemie öffnen. Nun sind aber 60 % aller Menschen, die sich mit diesem Virus infiziert haben, sei es durch direkten Kontakt mit Wildvögeln oder mit infiziertem Hausgeflügel, gestorben. Stehen wir vor einem schlimmen Albtraum? Man würde eine ähnliche Pandemie wie 1918 erleben, bei der es zwischen 20 und 40 Millionen Todesopfer gab. Bei dem Virus von 1918 handelte es sich um einen neuen Stamm - heute weiß man, es war H1N1 -, mit dem Menschen vielleicht noch nie vorher in Kontakt gekommen waren. "Der Unterschied zwischen der jahreszeitlich bedingten Grippe und der pandemischen Grippe ist, dass sich nur ein Bruchteil der Bevölkerung an der ersten Form ansteckt, weil bereits eine gewisse Immunität besteht. Bei einem neuen Stamm könnte sich dagegen die gesamte Bevölkerung anstecken. Manche Kranke, die nur geringe Symptome aufweisen, könnten durch die Kontrollen rutschen und andere Personen anstecken, die eventuell dann stärker betroffen sind", erklärt Antoine Flahault. Es hängt aber auch von der Heftigkeit des Aggressors ab: Die Brutalität des Ebolavirus, das 50 % bis 90 % der Kranken in nur ein bis zwei Wochen niederstreckt, mag hier einen Eindruck geben.

Als echter Kolonisator des Lebens umgeht das Virus die Zellmechanismen zu seinen Gunsten. Zu seiner Vermehrung nutzt es die Fettsäuren, Aminosäuren und Nukleinsäuren der Zelle und verlässt sie, sobald es diese verbraucht hat. Durch seine perfekte Anpassung an den Wirt befällt es manchmal nur einen Zelltyp, etwa die Lymphozyten TCD4+, wie im Fall des HI-Virus. Und sollte das von ihm zur Replikation genutzte Protein, die RNA-Polymerase, bei der Replikation Fehler machen, nutzt es dies zu seinem Vorteil aus, um sein eigenes Genom weiterzuentwickeln! Im Jahr 2006 hatte sich am Indischen Ozean die Tigermücke (Aedes albopictus), ein naher Verwandter von Aedes aegypti, dem traditionellen Überträger von Chikungunya, zu einem Super-Überträger entwickelt. Wie das Institut Pasteur durch einen Vergleich verschiedener Virenstämme später nachweisen konnte, wurde dies durch eine adaptive Mutation des Virus möglich. Die Tigermücke, die hundert- bis tausendmal mehr Viren produziert als ihr Verwandter, kann Menschen weitaus wirksamer infizieren.

Aber auch für ein Virus ist die Anpassung an eine neue Umgebung nicht einfach. "Damit die gemeinsame Evolution von Wirt und Agens die Infektion des Wirtes durch das Agens überhaupt erst möglich macht, müssen mehrere Hunderte, wenn nicht sogar Tausende Jahre vergehen", schätzt Antoine Flahault. "Es gibt viele Hundert Mückenvarianten, die das Virus nicht übertragen können. AIDS konnte sich zwar an den Menschen und andere Primaten anpassen, hat aber heute nicht die Möglichkeit, sich wie ein Arbovirus zu verhalten, um eine Mücke zu infizieren, sich dann in ihren Gedärmen zu entwickeln, in die Speicheldrüsen zu wandern und dann nach der Replikation einen Menschen zu infizieren."

Viren versuchen, ein ganzes Ökosystem zu erobern. Im Fall der Vogelgrippe umfasst die Artenkette auch natürliche Reservoire: Mehr als 60 Vogelarten, darunter auch Enten, Schwäne und Flamingos, für die keine politischen Grenzen gelten, gehören zu den traditionell gesunden Virusträgern. Dazu kommt das Hausgeflügel, das die Krankheit auf die Menschen überträgt, die damit Handel betreiben. Auch die wirtschaftlichen und sozialen Umstände, wie etwa die Geflügelindustrie, sind bei der Entstehung einer Epidemie zu berücksichtigen. Kann man ausgehend von der Pandemie von 1918 allgemeinere Schlüsse ziehen? "80 % bis 85 % der Sterblichkeit von 1918 waren auf bakterielle Komplikationen zurückzuführen. Die Kranken starben massenweise an Lungenentzündung, gegen die man heutzutage Antibiotika verabreichen würde", erklärt Antoine Flahault. Für den Schutz gegen eine Grippepandemie sind also Antibiotikareserven wichtiger als Impfstoffe.

Für den Kampf gegen die nächste Viruspandemie werden auf jeden Fall alle Eliteeinheiten im Einsatz sein: Insektenforscher, Tierärzte, Epidemiologen, Virologen, Immunologen, aber auch Kliniker, Soziologen, Wirtschaftswissenschaftler, Modellbildner und die Gesundheitsindustrie. Die WHO, der die Aufgabe zufällt, über den nächsten Angriff und über die Mittel zur Vorbereitung nachzudenken, ist davon überzeugt, dass der Feind H5N1 heißt. Wird uns die Gefahr überrollen oder werden wir vorbereitet sein?


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Inokulation von Hühnereiern mit dem Vogelgrippevirus. Die Forschung wurde in einem der CDC-Labors (Centers for Disease Control and Prevention - USA) durchgeführt.

Nur Influenzaviren vom Typ A verursachen natürliche Infektionen bei Wildvögeln, insbesondere bei den Brandenten. Es gibt mehrere antigene Typen, die sich auf der Basis von zwei Membranglykoproteinen (Hämagglutinin H und Neuraminidase N) der Virusmembran definieren. Diese beiden Gruppen bestimmen den Infektionsverlauf: Entweder liegt die Sterblichkeit bei knapp 100 % (vor allem bei den Subtypen H5 und H7) oder die Infektion ist weniger virulent und befällt die Atemwege. Seit Anfang 2003 wurden mehrere Tierseuchen beobachtet, denen wahrscheinlich auch Menschen zum Opfer fielen: H5N1, H7N7, H7N3.


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Quelle:
research*eu - Nr. 59, März 2009, Seite 14-15
Magazin des Europäischen Forschungsraums
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Juli 2009