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FORSCHUNG/1440: Apotheke Regenwald - Nur ein Bruchteil der dort vorkommenden Heilpflanzen ist erforscht (Securvital)


Securvital 3/22 - Juli-September 2022
Das Magazin für Alternativen im Versicherungs- und Gesundheitswesen

GESUNDHEITSFORSCHUNG

Apotheke Regenwald

von Astrid Froese


Die Artenvielfalt in Tropenwäldern zählt zu den größten der Erde. Nur ein Bruchteil der dort vorkommenden Heilpflanzen ist bislang erforscht. Dabei bergen sie großes Potenzial für neue medizinische Wirkstoffe, das durch die Umweltzerstörung verloren zu gehen droht.


Die Natur ist die beste Apotheke.« Der Befund des bekannten Naturheilkundlers Sebastian Kneipp trifft auf tropische Regenwälder besonders zu. Ihre ungeheure Vielfalt an Tier-, Pilz- und Pflanzenarten machen Regenwälder zu einem riesigen Reservoir medizinisch nutzbarer Wirkstoffe.

Um bestmöglich in ihrer Umgebung zu überleben, produzieren Pflanzen, Pilze und Tiere unterschiedliche Moleküle, die biochemische Prozesse und Stoffwechselvorgänge anderer Lebewesen beeinflussen. Dies macht Regenwälder zu einer wahren Schatztruhe potenzieller Pharmazeutika.

Den Produzenten dieser chemischen Stoffe dienen sie für vielfältige Zwecke: unter anderem um Räuber und Parasiten fernzuhalten, Bestäuber und Samenverteiler anzulocken oder Zugang zu Nährstoffen zu bekommen. Diese Wirkungen lassen sich medizinisch nutzen. Substanzen mit berauschender Wirkung, die Pilzen im Regenwald zur Abschreckung von Fressfeinden dienen, können sich beispielsweise für die Entwicklung schmerzlindernder Arzneien für Menschen eignen.

Zu den großen Reichtümern der Wälder gehören besonders die Heilpflanzen. Rund jedes vierte Medikament enthält laut Weltgesundheitsorganisation Wirkstoffe, die ursprünglich aus Waldpflanzen entwickelt wurden. Weltweit werden 50.000 bis 70.000 Pflanzen nach Schätzungen der Weltnaturschutzorganisation IUCN als Arzneimittel genutzt. Mittel gegen Fieber, Husten, Zahnschmerzen oder Bauchweh, Hilfe gegen Grippe oder für Frauen in den Wehen: kaum ein Leiden, gegen das nicht ein Kraut gewachsen wäre. Indigene Völker verwenden spezielle Blätter, Blüten, Früchte, Wurzeln oder Rinde seit Jahrhunderten, um Krankheiten zu heilen.

Heilpotenzial nutzen

Auch die moderne Pharmaindustrie arbeitet daran, pflanzliche Wirkstoffe zu identifizieren, um daraus neue Medikamente herzustellen. Bis zur Marktreife eines Präparates ist es jedoch ein weiter Weg. Die pflanzlichen Inhaltsstoffe bilden dabei die Basis. Sie werden analysiert und in jahrelangen Entwicklungsverfahren auf ihre Wirksamkeit und Eignung getestet und zu Medikamenten entwickelt. Auf diese Weise sind Regenwaldpflanzen Grundlage bewährter Präparate gegen Krebs, Infektionen, Herz- und Stoffwechselkrankheiten.

Grundsubstanzen für wichtige Tumormedikamente wie Taxol liefert die Eibenrinde, das Madagaskar-Immergrün für Vincristin und Vinblastin. Letztere werden eingesetzt, um die Heilungschancen bei Leukämie und Lymphdrüsenkrebs zu verbessern. Mit den Blüten des Madagaskar-Immergrüns kurieren Menschen, die im Regenwald leben, auch Halsschmerzen und Erkältungen. Traditionelle Heiler behandeln mit seinen Blättern und Wurzeln Rheuma und Diabetes. Gegen Kopfschmerzen, Nervosität und Panikattacken werden Extrakte aus dem Kraut der Passionsblume verabreicht. Der aus den Blättern des Jaborandi-Strauches isolierte Wirkstoff Pilocarpin kommt in Augentropfen zur Senkung des Augeninnendrucks und zur Behandlung des Grünen Stars zum Einsatz. Die Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen.

Leider ist diese besondere Apotheke der Menschheit in hohem Maße bedroht. Jedes Jahr werden Millionen Hektar tropischen Urwaldes zerstört - besonders der brasilianische Amazonas. Laut Berechnungen des Washingtoner World Resources Institute (WIR) sind 2021 weltweit rund 3,75 Millionen Hektar durch Feuer und Abholzung vernichtet worden. Dies entspricht dem WIR zufolge einem Verlust von einem Fußballfeld Urwald alle sechs Sekunden.

Profit statt Naturschutz

Mittlerweile führt die unerbittliche Ausbeutung dazu, dass der Regenwald an Widerstandskraft verliert. »Wir nähern uns einem Kipppunkt, an dem der Amazonas von einem Regenwald zur Savanne würde - verbunden mit massiven Emissionen«, warnt Mikaela Weisse, stellvertretende Leiterin von Global Forest Watch. Eine Datenanalyse hochauflösender Satellitenbilder zeigt, dass die Fähigkeit des Waldes seit 2000 stetig abgenommen hat, sich von Störungen wie Abholzung oder Brandrodung zu erholen. »Dass wir einen solchen Resilienzverlust in Beobachtungen sehen, ist besorgniserregend«, sagt Niklas Boers vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. Naturschutzorganisationen wie der World Wide Fund For Nature (WWF) schlagen Alarm, da die Abholzung auch 2022 unvermindert weitergeht.

Mit der Zerstörung der Regenwälder verschwinden nicht nur wichtige CO2-Speicher im Kampf gegen den Klimawandel. Es sterben auch viele Pflanzenarten aus, bevor die Forschung ihr Potenzial überhaupt erkannt hat. Nach Schätzungen ist erst ein Bruchteil von ein bis zwei Prozent der Pflanzen auf ihr pharmakologisches Potenzial untersucht worden. Allein im nationalen Krebsforschungszentrum der USA, einer der größten Sammlungen von Pflanzenproben weltweit, lagern 60.000 pflanzliche Wirksubstanzen. Wie groß das gesamte Potenzial ist, lässt sich nur erahnen. Immer wieder entdecken Wissenschaftler neue wirksame Pflanzen oder neue heilsame Eigenschaften in bereits bekannten Exemplaren.

Potenzielle Wirkstoffe in der Fülle des Regenwaldes zu entdecken, ist nicht einfach. Eine wichtige Informationsquelle für die pharmazeutische Wissenschaft sind daher die indigenen Bevölkerungen. Forscher suchen den Kontakt zu ihren Heilkundigen, um vom traditionellen Wissensschatz zu profitieren und weitere Substanzen medizinisch nutzbar zu machen.

Heilpflanzen werden zwar in vielen Regionen der Erde genutzt. Ihre Eigenschaften und Anwendungsmöglichkeiten werden jedoch nicht schriftlich festgehalten, sondern mündlich weitergegeben. Da viele indigene Gemeinschaften mit der Zerstörung der Regenwälder ihre Lebensgrundlage verlieren und in Städte umziehen müssen, geht immer mehr traditionelles Wissen verloren. Forscher der Universität Zürich konnten jüngst zeigen, dass auch mit dem Aussterben indigener Sprachen ein immenser Verlust von Wissen über medizinische Heilpflanzen einhergeht.

Wissen bewahren

Doch es gibt zahlreiche Bemühungen gegenzusteuern. Schulklassen auf der indonesischen Insel Java beispielsweise durchstreifen regelmäßig den Regenwald auf der Suche nach Heilpflanzen. So sollen traditionelle heilkundliche Kenntnisse an die nachfolgende Generation weitergegeben werden.

Besonders vehement wehren sich Brasiliens Indigene gegen die fortschreitende Ausbeutung der Natur unter Präsident Jair Bolsonaro. Sie kämpfen gegen Landraub, Brandrodung, Erdölförderung, Minen- und Straßenbauprojekte, die das einzigartige Ökosystem des Amazonas und damit ihre Heimat und Lebensgrundlage bedrohen. Regenwaldschutz ist auch Gesundheitsschutz. »Wenn es uns gelingt, die Vielfalt der Arten, Gene und Lebensräume zu erhalten, haben wir auch weiterhin die Chance, neue Arzneiwirkstoffe zu gewinnen«, sagt Dr. Elke Mannigel von der Tropenwaldstiftung OroVerde.

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Gegen Biopiraterie

Neue Arzneimittel auf der Basis von Wildpflanzen versprechen Milliardengewinne. Dieses große wirtschaftliche Potenzial genetischer Ressourcen aus dem Regenwald weckt manche Begehrlichkeit. Damit die reichhaltige Regenwald-Apotheke nicht durch unlautere Pharmakonzerne geplündert wird, haben mehr als 90 Staaten 2009 nach zähen Verhandlungen ein internationales Abkommen zum Schutz biologischer Vielfalt vereinbart. So sollen die Rechte indigener Völker gestärkt und sogenannte Biopiraterie durch Konzerne verhindert werden. Unternehmen, die das Wissen indigener Völker nutzen und später Patente für die entwickelten Medikamente anmelden, sollen den lokalen Gemeinschaften dafür einen angemessenen Ausgleich zahlen. Auf diese Weise sollen die erzielten Gewinne fairer verteilt werden.

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Quelle:
Securvital 3/22 - Juli-September 2022, Seite 32-34
Das Magazin für Alternativen im Versicherungs- und Gesundheitswesen
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veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 21. Juli 2022

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