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ARTIKEL/440: Die Behandlung von Flüchtlingen in der stationären Psychiatrie (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 149 - Heft 3/15, Juli 2015
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Willkommen im Wunderland
Oder: Was treibt afrikanische Boat-People und serbische Roma in die Psychiatrie?

Von Friedrich Leidinger


Die stationäre Psychiatrie muss zunehmend Flüchtlinge behandeln und ist dieser Aufgabe kaum gewachsen. Denn was diese Menschen am dringendsten brauchen, bekommen sie nicht: »ein sicheres Bleiberecht, eine menschenwürdige Wohnung und eine sinnvolle Beschäftigung«. Der Autor, Chefarzt einer Klinik des LVR Rheinland, beschreibt anhand der Fluchtgeschichten einiger Patienten, wie die restriktiven politischen Asylbedingungen die psychische und gesundheitliche Situation der ohnehin oft traumatisierten Menschen weiter beeinträchtigen und verletzen.


Etwa jeder zehnte Patient meiner Klinik ist ein Flüchtling: Sie sprechen Serbisch, Romanes, Tigrinya, Türkisch, Russisch, Kurmanji, Arabisch oder Albanisch und mitunter Sprachen, die in Deutschland niemand kennt. Sie sind suizidal, psychotisch, gehetzt, erschöpft, apathisch, depressiv. Darunter sind Frauen, die von ihren Männern um die halbe Welt geprügelt worden sind, Männer, die im Gefängnis gefoltert wurden. Gemäß § 4 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) zahlt das örtliche Sozialamt ihren Aufenthalt in unserer Klinik. Solange sie hier behandelt werden, erfolgt keine Abschiebung. Was sie am dringendsten brauchten - ein sicheres Bleiberecht, eine menschenwürdige Wohnung und eine sinnvolle Beschäftigung -, bekommen sie nicht. Trotz des restriktiven Behandlungsauftrags gilt es, den engen Spielraum für sozialpsychiatrisches Handeln beharrlich auszunutzen. Doch zugleich gilt: Die Psychiatrie kann nicht die Widersprüche und Inhumanität des herrschenden Asyl- und Ausländerrechts aufheben.

Wie viele Flüchtlinge sind eigentlich in unserer Klinik? Die Basisdokumentation gibt dazu nichts her. Das Merkmal 'Flüchtling' wird statistisch nicht erfasst. An einem beliebigen Stichtag schauen wir in einer Sektorabteilung nach: Es sind fast fünf Prozent der aktuellen Belegung. Fünf Prozent - dabei ist zu berücksichtigen, dass Flüchtlinge gewöhnlich nicht in der Gerontopsychiatrie, auch nicht auf der Depressionsstation und schon gar nicht auf der Psychotherapiestation aufgenommen werden. Aber davon wird noch zu sprechen sein. In der Akutaufnahme ist jeder zehnte Patient ein Flüchtling.

Was sind das für Menschen, die als Flüchtlinge - ihr Rechtsstatus ist meistens Asylbewerber, Personen ohne Aufenthaltsstatus - in unsere Klinik kommen? Sie kommen aus Ländern in unserer Nachbarschaft - Serbien, Mazedonien, Kosovo, Albanien -, aus Vorder- und Zentralasien - Iran, Aserbaidschan, Südossetien, Türkei - oder aus Afrika. Einige leben mit ihren Familien in Deutschland, einige haben Angehörige, die schon länger hier sind, einige sind ganz allein.

Jebreel aus Eritrea

So wie Jebreel,[1] ein junger Mann von Anfang zwanzig. Die Polizei hatte Jebreel aus einem Baumwipfel in Düsseldorf geholt, wohin er sich in offenkundiger Angst geflüchtet hatte. Er sprach kein Wort Deutsch, die Papiere, die er bei sich hatte, wiesen ihn als Flüchtling aus Eritrea aus, ein Dolmetscher für Tigrinya meinte, er rede »wirres Zeug«. Es stellte sich heraus, dass er seit über einem Jahr in unserer Nähe als Asylbewerber registriert war.

Wo er sich seitdem aufgehalten hatte, blieb unklar. Offiziell lebt er in einem Übergangsheim, wo er aber nur sporadisch anwesend war. Angehörige konnten nicht ermittelt werden. Mehrere Telefonnummern angeblicher Verwandter in Frankfurt und in Stockholm führten ins Leere. Jebreel wirkte gehetzt, ängstlich und misstrauisch. Eine Unterhaltung mit ihm war nicht möglich, an eine körperliche Untersuchung war nicht zu denken. Er erschien schlecht ernährt, mager und ungepflegt. In den ersten Tagen rannte er mehrfach aus der Stationstür heraus, so schnell, dass ihm niemand folgen konnte. Jedes Mal brachte ihn die Polizei zurück, weil er sich schon nach wenigen Kilometern verlaufen hatte.

Jebreel trug Papiere bei sich, dabei war das Protokoll seiner Anhörung für das Asylverfahren durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Er hatte bei seiner Einreise angegeben, er sei vor dem Militär geflüchtet. Als Wehrpflichtiger hätte er einem Offizier die Waffe weggenommen und in einen Brunnen geworfen. Aus Angst vor Strafe sei er weggelaufen. Durch einen Zufall trafen wir Herrn Johannes. Er stammt aus Eritrea, lebt seit fast dreißig Jahren in unmittelbarer Nachbarschaft unserer Klinik, hat als Sozialpädagoge gearbeitet und ist nun Rentner. Er erzählte uns etwas über das Leben unter den Militärs in Eritrea. Der Drill bei der Armee sei unerträglich, die Vorgesetzten korrupt und sadistisch. Herr Johannes meinte, dass einem Deserteur die Flucht gelinge, sei selten. In Emigrantenkreisen kursieren Berichte über grausame Zwischenfälle. Oft würden sich Rekruten, weil sie keinen Ausweg sähen, mit einer Handgranate gemeinsam mit ihren Vorgesetzten in die Luft sprengen. In langen Gesprächen der Stationsärztin mit Jebreel und Herrn Johannes stellte sich heraus, dass der junge Mann völlig verwirrt ist. Langsam fasste er zu uns und zu Johannes Vertrauen. Wenn er die Station zum Ausgang verließ, kehrte er von alleine wieder zurück. Er ließ sich untersuchen. Eine körperliche Ursache für seine Verwirrtheit konnten wir nicht finden. Wir nehmen an, dass er schon während seines Militärdienstes psychotisch erkrankte. Alle Bemühungen, Kontakt zu seiner Familie in Eritrea oder zu in Schweden vermuteten Verwandten herzustellen, blieben bisher erfolglos. Nach Anregung einer gesetzlichen Betreuung haben wir Jebreel in das Wohnheim entlassen. Als einzige weiter gehende ambulante Hilfe kann er ein Medikament einnehmen.

Jebreel ist eine Ausnahme unter den Flüchtlingen. Wahrscheinlich würden die wenigsten psychisch erkrankten Menschen die Gefahren einer Flucht auf sich nehmen. Wenn doch, so dürften ihre Chancen, die gefährliche Reise erfolgreich zu bestehen, eher gering sein.

Bei den meisten unserer Flüchtlingspatienten ist der Grund für die Aufnahme in der psychiatrische Klinik erst während der Flucht oder nach der Ankunft in Deutschland entstanden. Zwar haben die Menschen vor ihrer Flucht Not, Elend und Drangsal in kaum vorstellbarem Maße erlebt, aber sie verfügen offenbar über genügend Hoffnung und Zuversicht, um ohne ärztliche und therapeutische Hilfe ihren Alltag zu bewältigen. Das ändert sich dann in der Konfrontation mit der Wirklichkeit am Endpunkt ihrer Flucht.

Ibrahim Kadenic aus Mazedonien

Ibrahim Kadenic kam nach einem Suizidversuch zur Aufnahme. Der Kollege Pustovic, ein junger, aus Bosnien stammender Facharzt, hatte zufällig Dienst und konnte sich mit ihm in Serbisch unterhalten. Ibrahim Kadenic hatte zusammen mit seiner Frau und dem Baby die Aufforderung zur Ausreise erhalten. Alle Bemühungen um Anerkennung seines Asylantrags oder Verlängerung einer Duldung waren erfolglos geblieben. Nichts blieb mehr übrig zu tun. Er wollte sein Leben opfern, so dachte er, damit die Behörden seiner Frau und dem Kind ein Bleiberecht geben. Im städtischen Klinikum hatte man seine tiefen Schnittwunden in den Unterarm chirurgisch versorgt. Wegen anhaltender Suizidalität veranlasste der psychiatrische Konsiliarius die Einweisung zu uns.

Das nordrhein-westfälische Psychisch-Kranken-Gesetz (PsychKG) regelt den Freiheitsentzug psychisch Kranker bei Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung. Für Ibrahim Kadenic und manch andere ist es der letzte Rettungsanker vor dem Vollzug des Ausländerrechts, der Abschiebung. Denn wenn die Voraussetzungen für die Unterbringung nach PsychKG vorliegen, besteht »Reiseunfähigkeit«. Und damit sind sie zunächst vor der erzwungenen Rückkehr in eine »Heimat«, die keine ist, oder einen »sicheren Drittstaat« geschützt.

Bis vor zwei Jahren lebte Herr Kadenic in einem Vorort von Skopje, der Hauptstadt Mazedoniens. Herr Kadenic ist Roma. Mazedonien, EU-Beitrittskandidat und erst im letzten Jahr durch Beschluss der großen Koalition zu einem »sicheren Herkunftsland« avanciert, ist ein Land, in dem auch nach Meinung unverdächtiger Journalisten (z.B. Norbert Mappes-Niediek in der »Frankfurter Rundschau«) keine systematische Verfolgung von Roma stattfindet. Aber auch ohne organisierte staatliche Repression kann ein Mensch in eine Lage kommen, die nur noch die Flucht als letzten Ausweg offenlässt. Bis zu dieser Flucht betrieb Herr Kadenic mit seinem Vater einen gemeinsamen Marktstand. Außerdem verdiente er ein Zubrot als Musiker. Er hat die Schule besucht, spricht außer Serbisch leidlich Englisch, fließend Mazedonisch und Romanes, ein wenig Griechisch.

Familie Kadenic hatte kein schlechtes Leben. Anfang 2014 brachte seine Frau einen Sohn zur Welt. Das Baby war wenige Wochen alt, da erschienen unbekannte Männer auf dem Markt. Nach einem kurzen Wortwechsel mit seinem Vater zog einer der Männer eine Pistole und schoss. Während der Vater verblutete, gingen die Männer ruhig und unbehelligt fort. Herr Kadenic brachte seinen Vater in ein Krankenhaus, wo man nur noch seinen Tod feststellte. Als er zu seinem Stand zurückkehrte, war der verwüstet, die Ware nicht mehr brauchbar. Auf der Polizeiwache wollte man ihn zunächst nicht vorlassen. Dann entdeckte er unter den anwesenden Uniformierten zwei der Männer, die dabei waren, als sein Vater erschossen wurde. »Wir wissen, wo du wohnst«, sagten sie. »Du hast ein Baby. Nächste Woche besuchen wir dich!« Herr Kadenic wartete nicht ab. Der Besuch auf der Polizei war sinnlos. Sich zu fragen, ob rassistische, politische oder »rein kriminelle« Motive hinter der Drohung standen, war überflüssig.

Auf der Station zog sich Herr Kadenic zurück. Seine Haltung war mürrisch-abweisend. Wir suchten das Gespräch. Kollegin Irina, die auch aus Mazedonien stammt, übersetzte.

Übersetzen in einem therapeutischen Kontext ist eine besondere Kunst. Dabei geht es nicht allein um die semantische Übertragung von einer in die andere Sprache. Es ist ein Akt der Vermittlung, Bericht und Interpretation in beiden Richtungen. Dolmetscher bei internationalen Konferenzen benötigen oft ein Vokabular von kaum mehr als 25 Worten (»Entwicklung, Funktion, Fortschritt, Kooperation ...«), selbst für ein mehrtägiges Programm. Dagegen verlangt das Übersetzen für einen verbitterten und verzweifelten Menschen neben Sprachkenntnissen Empathie, Kenntnis seiner Herkunft und Erfahrung, Empfindsamkeit für kulturelle Besonderheiten, Wissen um mögliche Missverständnisse auf beiden Seiten. Zum Glück arbeiten in unserem Team mehrere Kolleginnen und Kollegen, die über diese besondere interkulturelle Kompetenz verfügen, meistens aufgrund eigener Migrationserfahrung. Daher können sich Steffi mit jesidischen Kurden in Kurmanji und Tatjana mit Tschetschenen in Russisch unterhalten, Kollegin Linda ist zweisprachig, Deutsch und Türkisch, aufgewachsen, und Jolla spricht Polnisch als Muttersprache. Da unsere Kolleginnen nicht ständig zur Verfügung stehen und wir für die vielen anderen Patienten mit kulturell anderer Prägung auch einen Mittler zur Verständigung brauchen, engagieren wir professionelle Sprach- und Kulturmittler, die es inzwischen an verschiedenen Orten und bei verschiedenen Trägern gibt.[2]

Langsam taute Herr Kadenic in den Gesprächen auf. In dem Maße, in dem er Vertrauen fasste, konnte er von quälenden Tagträumen berichten, in denen er wieder und wieder seinen sterbenden Vater auf einer Sackkarre durch die Marktgassen ins Spital schob. Im Schlaf erschien ihm sein blutiges, zerfetztes Gesicht. Gespräche und Medikation taten ihre Wirkung, die andrängenden Horrorvisionen gingen zurück. Herr Kadenic hatte Glück. Während des Klinikaufenthalts wurde die Abschiebung zunächst ausgesetzt. Ein Attest über das Vorliegen einer posttraumatischen Störung belegte, dass er in absehbarer Zeit in dieses Land, in dem mafiöse Polizisten seinen Vater umgebracht hatten, kaum würde zurückkehren können. Manchmal gelingt es der lokalen Ausländerbehörde, den Spielraum für eine humanitäre Entscheidung durch eine Duldung über einige Monate auszuschöpfen.

Ilyas Barsanow aus Aserbaidschan

Diese Hoffnung bewegt alle. Allerdings kann sich niemand darauf verlassen. Für uns war der Fall bei Herrn Barsanow klar. Er kam auf Überweisung des Klinikums in S., wo er seit Monaten mindestens alle zwei bis drei Wochen mit Atemnot, Brust- und Bauchschmerzen in die Notfallambulanz kam. Ilyas Barsanow stammt aus Aserbaidschan. Während das politische System des nach Iran wichtigsten Erdgasexporteurs vom Ufer des Kaspischen Meeres nach Meinung seriöser Kommentatoren weit von demokratischen Verhältnissen entfernt ist, hat das Regime des regierenden Alijew-Clans mit seiner »Kaviar-Diplomatie« mögliche Kritiker aus europäischen Parlamenten und Regierungsstellen milde gestimmt. Als Ilyas Barsanow kurz nach den Präsidentschaftswahlen von 2013, bei denen es nach Auffassung der OSZE zu massiven Fälschungen gekommen war, über Moskau nach Deutschland flüchtete, glaubte er, er erhalte als Mitglied einer oppositionellen Partei, deren Anführer entweder im Knast oder im Exil sitzen, Asyl. Zu seiner Überraschung findet aber nach Erkenntnissen der deutschen Behörden eine systematische politische Verfolgung in Aserbaidschan nicht statt. Mithilfe eines außerordentlich aktiven Anwalts bemühte sich Herr Barsanow darum, als politisch Verfolgter anerkannt zu werden.

Da saß er nun in der Sammelunterkunft, immerhin musste er das Zimmer nur mit seiner Frau und den zwei Kindern teilen. Toilette und Küche in gemeinschaftlicher Nutzung mit vielleicht zwanzig weiteren Asylbewerbern. Er hatte seit seiner Ankunft in Deutschland an Gewicht verloren. Mehrmals waren seine Verdauungsorgane untersucht worden, ohne einen behandlungsbedürftigen Befund zu ergeben. Auch für seine Brustschmerzen ließ sich keine organische Ursache finden. Die Aufnahmediagnose bei uns lautete »schwere Depression«.

Nach jahrzehntelanger Zugehörigkeit zum Russischen Reich bzw. zur Sowjetunion ist Russisch in Aserbaidschan neben Aseri, einer mit dem Türkischen verwandten Sprache, allgemein verbreitet. Daher konnten wir uns relativ gut mit Herrn Barsanow verständigen. Sein tief deprimierter, verzweifelter Ausdruck schlug sich in bitteren Worten über sein Leben und über die Aussichtslosigkeit, in der er steckte, nieder. Er hatte nach dem Ingenieurstudium einen gut bezahlten Job in der Gasindustrie gefunden. Als gläubiger Muslim gehörte er zur Mehrheit der Bevölkerung, er hätte für seine Familie und sich ein gutes Leben führen können. Er war nicht einmal besonders politisch aktiv. Das hatte nicht verhindert, dass man ihn festnahm. Mehrere Wochen lang war er in Polizeigewahrsam. Man warf ihm Geheimnisverrat vor. Als wir ihn fragten, ob er auch geschlagen worden sei, beeilte er sich hinzuzufügen, aber nur ins Gesicht und auf den Oberkörper. Und bevor wir ihn fragen konnten, stellte er fest, am Unterleib hätten sie ihm nichts getan. Die Polizisten drohten, sie könnten ihn auch für immer verschwinden lassen, wenn er nicht seine angeblichen Auftraggeber preisgebe. Von alldem hatte er bei der ersten Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) nichts erzählt. Er hielt es nicht für so wichtig. Er verstand nicht, warum man in diesem demokratischen Deutschland nicht anerkennen wollte, dass er in seiner Heimat verfolgt werde. Reichte es nicht, dass ihn die Polizei verhaftet hatte?

Der Widerspruch gegen einen abgelehnten Asylantrag hat bezüglich einer drohenden Abschiebung keine aufschiebende Wirkung. Daher beantragte sein Anwalt beim Verwaltungsgericht eine einstweilige Verfügung, was er unter anderem mit den von uns bescheinigten psychischen Folgen der im Gefängnis erlittenen Misshandlungen und Folter begründete. Der Antrag wurde von der Richterin abgelehnt. Sie schrieb in ihren Beschluss, die Ärzte (also wir) hätten zwar schlüssig das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung beschrieben. Sie hätten aber den Fehler gemacht, die Angaben des Antragstellers (also das, was uns Herr Barsanow erst nach mehreren Gesprächen und in sehr behutsamer Befragung anvertraut hatte) für wahr zu halten. Dagegen verwies die Richterin auf die höchstrichterliche Rechtsprechung. Denn nachträglich abweichende Angaben zu einem Sachverhalt sprächen gegen die Glaubwürdigkeit der betreffenden Person. Diese - inzwischen wohl überholte, aber davon weiß die Richterin nichts - Rechtsauffassung verlangt von dem Antragsteller im Asylverfahren im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht schier Unmögliches: Er soll vor Fremden über höchst persönliche, intime und oft beschämende Dinge Auskunft geben, über die er nicht einmal mit den engsten Angehörigen gesprochen hat. Das vollzieht sich in einer Situation, die nicht selten an die Verfolgungssituation erinnert. Oft prallen in diesen Anhörungen kulturelle Gegensätze aufeinander, die eine Verständigung von vornherein unwahrscheinlich machen. Und doch soll die Tatsachenfeststellung bei einer behördlichen Anhörung von selten mehr als einer halben Stunde mehr gelten als die leitlinienkonforme Diagnose durch mehrere Fachärztinnen im Rahmen einer mehrwöchigen stationären Beobachtung. Möge diese Richterin von Krankheit und seelischer Not verschont bleiben, damit sie niemals in Gefahr gerät, einem Arzt zu begegnen, der ihre Maßstäbe von Glaubwürdigkeit praktiziert!

Die Ausländerbehörde schickte Herrn Barsanow zur Begutachtung in ein Institut, das sein Geld mit Behördenaufträgen verdient. Das meinte nach einer dreistündigen Untersuchung mit Dolmetscherin für Türkisch, die ihm einen deutschen Fragebogen (SKID)[3] übersetzte, eine PTSD (»post-traumatic stress disorder«) ausschließen (!) zu können. Immerhin kamen auch diese Kollegen zu der Auffassung, im Falle einer Abschiebung bestehe eine ernste Suizidgefahr.

Während das rechtliche Verfahren sich über Wochen hinzog, lebte Ilyas Barsanow auf der Station. Still und zurückhaltend, höflich und dankbar für jede Zuwendung, jede Geste. Er nutzte die Gelegenheit, Deutsch zu lernen. Er besuchte die Ergotherapie und ging zum Sport. Seine Gewichtszunahme kommentierte er sarkastisch: »Erst mästet ihr mich, und dann werde ich geschlachtet.«

Exkurs: Die Politik muss sich ändern!

Die Geschichten der Flüchtlinge gehen uns nahe. Mehr als einmal empfinden wir Scham und Empörung darüber, wie unser Land mit diesen - schwer belasteten und oft traumatisierten - Menschen umgeht, wie gefühllos und ignorant sich Behörden gegenüber ihrem Schicksal verhalten. Dabei übersehen wir, dass die kommunalen Stellen nur umsetzen, was Bundestag und Bundesrat als Legislative beschließen. Das zu kritisieren ist nicht Sache eines wohlfeilen psychiatrischen Attestes, sondern eine politische Angelegenheit - nicht nur am Wahltag. Unser beruflicher Auftrag ist durch das Asylbewerberleistungsgesetz beschränkt auf eine Notfallbehandlung. Eine kunstgerechte Psychotherapie gehört nicht dazu. Und über allem stets die drohende Ausweisung.

Eines können wir von den Flüchtlingen lernen: die Fähigkeit, trotz aller widrigen Umstände beharrlich ein Ziel weiterzuverfolgen, sich nach jeder Niederlage wieder aufzuraffen und jede Chance zu nutzen. Bei aller starken Belastung scheint die Resilienz der Flüchtlinge doch bemerkenswert. Dieser Eindruck aus unserem klinischen Alltag stimmt mit den Befunden systematischer Studien - vor allem in Skandinavien - überein.

Letizia aus der Elfenbeinküste

Betrachten wir die Geschichte einer jungen Frau und ihrer Familie aus Westafrika. Letizia, nach den Papieren gerade dreißig Jahre alt, wurde von der Polizei aus der provisorischen Flüchtlingsunterkunft nach PsychKG zur Aufnahme gebracht. Mit ihren fünf Kindern und ihrem Mann lebt sie seit über zwei Jahren in der Stadt. Herr Polster, Mitglied einer Flüchtlingsinitiative, begleitete sie. Er berichtete von ständigen Schikanen und rassistischen Übergriffen durch den Hausmeister. Zwei Mitarbeiter der Behörde waren unangemeldet erschienen und hatten Letizia aufgefordert, die Sachen zu packen und mit ihren kleinen Kindern in ein anderes »Heim« umzuziehen. Die Situation eskalierte augenblicklich. Letizia weigerte sich, mitzugehen, den Säugling auf dem Arm, die zwei Kleinkinder hinter sich, griff sie nach einem Messer und richtete es gegen den eigenen Leib. Erst ein größeres Polizeiaufgebot schaffte es, ihr das Messer zu entwinden. In der Aufnahme schaute sie höchst angespannt um sich; sie wirkte erschöpft und verzweifelt. Bei der ersten Kontaktaufnahme wurde klar, dass Letizia kein Wort Deutsch spricht.

Noch ein halbes Kind, musste Letizia ihre Heimat verlassen. Einzig ihre Muttersprache, Kulango-Bondoukou, ist ihr geblieben. Diese Sprache sprechen etwa 100.000 Einwohner im Grenzgebiet von Côte d'Ivoire (Elfenbeinküste) und Ghana. Einen Dolmetscher haben wir nirgendwo auftreiben können. Eine andere Sprache hat Letizia nie gelernt.

Aufgewachsen in einem Dorf im Norden ihres Landes, verliebte sie sich vierzehnjährig in einen Gleichaltrigen aus der Nachbarschaft und wurde bald schwanger. Ihre Eltern wollten sie zur Abtreibung zwingen. Sie und ihr Freund flüchteten in die Küstenregion. Dort fanden sie Aufnahme in einer katholischen Missionsstation. Um den Bruch mit ihren islamischen Familien komplett zu machen, konvertierten sie zum Christentum. Auch Jakob, ihren ersten Sohn, und alle weiteren Kinder ließen sie taufen. Letizia, die nie eine Schule besucht hatte, fand als Friseurin Arbeit, ihr Mann Francis, auch er Analphabet, konnte Autos reparieren. 2007 kam es in Côte d'Ivoire zu Unruhen und zu blutigen Konflikten zwischen Christen und Muslimen. Letizia war erneut schwanger. Sie und Francis hatten Angst, als Konvertiten saßen sie zwischen den Stühlen. Sie flüchteten durch die große Sahara über Timbuktu nach Libyen. In einem Vorort von Tripoli kam Manuel zur Welt und zwei Jahre später Sarah. Vorübergehend fand Francis eine Arbeit. Jakobs retardierte geistige und motorische Entwicklung wurde immer deutlicher. Auch in Libyen war von einem sicheren Aufenthalt keine Rede. Eines Tages kamen Soldaten und brachten die Familie zum Hafen. Sie mussten in ein Schiff steigen; die Fahrt endete in Lampedusa. Von dort ging es weiter nach Catania, Sizilien, wo die Boat-People mit provisorischen Papieren ausgestattet wurden. Nach einem Jahr Aufenthalt erhielten sie Fahrkarten für den Zug nach Norden. In Köln stiegen sie aus dem Zug. So kamen sie schließlich in unsere Stadt. Hier wurden die beiden jüngsten Kinder geboren.

Das alles haben wir erfahren, weil Manuel - acht Jahre alt und Klassenbester der zweiten Grundschulklasse - uns mit Unterstützung seines Vaters, der einen Deutschkurs besucht hat, übersetzt hat.

Francis war erschüttert über den Vorfall. Während er Manuel zur Schule begleitet hatte, hätte er beinahe seine Frau, die Mutter seiner Kinder, verloren. Er hatte Angst vor einem erneuten Suizidversuch. Er flehte uns an, zu helfen, er beschwor seine Frau, sich nichts anzutun. In einem Gespräch mit der Sozialbehörde schlugen wir die Unterbringung der Familie in einer Wohnung vor, in der Manuel und demnächst auch Sarah ungestört ihre Schulaufgaben machen können, wo nicht ständig Fremde in die Küche laufen können, wo kein Hausmeister einen bedroht. Wir schrieben ein ausführliches Attest. Man sagte eine kulante Lösung zu.

Das alles war im Januar dieses Jahres. Bis heute hat sich nichts getan. Letizias Familie lebt immer noch im Wohnheim. Vor kurzem schickte mir Herr Polster eine Nachricht. Die Familie hatte seit zwei Wochen kein Geld mehr. Die Stadt hatte von Bargeldzahlung auf bargeldlosen Zahlungsverkehr umgestellt. Dazu benötigten Francis und Letizia ein Girokonto, zu dessen Eröffnung sie ausdrücklich aufgefordert wurden. Beigefügt war ein Schreiben der städtischen Sparkasse an Francis. Die Eröffnung des beantragten Girokontos sei leider nicht möglich. Die Recherchen des Geldinstituts hätten ergeben, dass Letizia und Francis ausreisepflichtig seien. Daher könnten sie hier kein Girokonto eröffnen. Man bitte um Verständnis.


Dr. med. Friedrich Leidinger, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie/Geriatrie/Health Care Management, ist Chefarzt Allgemeine Psychiatrie 3 der LVR-Klinik Langenfeld.
E-Mail: friedrich.leidinger@lvr.de
Internet: www.klinik-langenfeld.lvr.de


Anmerkungen:

[1] Alle in diesem Text berichteten Sachverhalte beruhen auf Fakten. Die Personen sind anonymisiert. Alle Namen sind frei erfunden.
[2] Im Rheinland zum Beispiel www.bikup.de
[3] Strukturiertes klinisches Interview.

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 149 - Heft 3/15, Juli 2015, Seite 4 - 8
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors und der
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. August 2015

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