Schattenblick → INFOPOOL → MEDIZIN → PSYCHIATRIE


ARTIKEL/443: Flüchtlinge mit psychischen Problemen - Sozialpsychiatrischer Dienst auf "Stand-by" (SozPsy)


Soziale Psychiatrie Nr. 149 - Heft 3/15, Juli 2015
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Der Sozialpsychiatrische Dienst auf "Stand-by"

Von Dörte Staudt


Über 6000 Flüchtlinge halten sich derzeit in Köln auf. Menschen, die erleben mussten, wie Bomben ihr Dorf oder ihre Stadt dem Erdboden gleichgemacht haben. Menschen, die infolge von Krieg und Vertreibung ihre Angehörige verloren haben; denen auf untauglichen Booten oder zusammengepfercht auf Lastwagen eine strapaziöse und lebensgefährliche Flucht gelang. Menschen, die möglicherweise psychiatrischer oder psychotherapeutischer Hilfe bedürfen. Wie ist der Sozialpsychiatrische Dienst darauf vorbereitet? Dörte Staudt sprach mit Dr. Matthias Albers, Psychiater und Abteilungsleiter Soziale Psychiatrie im Gesundheitsamt Köln.


"Viele der Flüchtlinge haben Erlebnisse gehabt, die in die Kategorie derjenigen Lebensereignisse gehören, die potenziell geeignet sind, ein Trauma hervorzurufen", berichtet Matthias Albers und ergänzt: "Die Frage ist aber, inwiefern diese Menschen auch eine Traumastörung entwickeln. Normalerweise würde man im Schnitt von höchstens zehn Prozent ausgehen, die eine posttraumatische Belastungsstörung, PTBS, entwickeln, wie viele es tatsächlich sind, hängt von der Art des Traumas ab und von der Resilienz." Fakt sei: An den Sozialpsychiatrische Dienst (SpDi habe es aus den Notfallunterkünften in den vergangenen sechs Monaten nur in zwei oder drei Fällen Anfragen wegen einer Unterbringung nach dem Psychisch-Kranken-Gesetz (PsychKG) gegeben. Ebenso "übersichtlich", so Albers, sei die Anzahl der Anfragen um andere psychiatrische Hilfen an das Gesundheitsamt gewesen. Gefragt seien dagegen die Familienberatung oder Kinder- und Jugendärzte.

Matthias Albers hat zahlreiche Erklärungen, warum das so ist: Ganz zuvorderst, weil Asylsuchende ihre Belastung allein wegen befürchteter Diskriminierung in der eigenen Peergroup gar nicht erst äußerten. "Deshalb sehen wir psychiatrische Sprechstunden in den Einrichtungen als relativ schwierig an, weil die Menschen sich nicht outen wollen, nicht vor anderen präsentieren wollen, dass sie ein psychisches Problem haben", sagt Matthias Albers. Und selbst wenn sie diese Ängste überwinden würden, so setze ein Ruf nach Hilfe doch voraus, dass man "selber das Gefühl hat, man hat ein psychisches Problem".

Zumal in den Erstunterkünften (den Aufnahmeeinrichtungen von Bund oder Land bzw. den Notaufnahmeeinrichtungen der Städte und Kreise) bei vielen traumatisierten Menschen zunächst eine "Ruhephase" eintrete: "Wenn traumatisierte Menschen an einen Ort kommen, den sie als sicher erleben, ist es oft so, dass die Symptomatik nachlässt oder sogar aufhört. Sie haben das Gefühl, es in den sicheren Hafen geschafft zu haben." Sie sähen zunächst keinen Grund, nach therapeutischer Hilfe zu fragen. Manchmal ist es auch genau andersherum: Die Symptomatik trete gerade erst einige Zeit nach der erfolgreichen Flucht auf, weil die Angst- und Bedrohungssituationen nachlassen, der Adrenalinspiegel sinkt. Das sei nicht immer schon in der Notaufnahmeeinrichtung bzw. Erstaufnahmeeinrichtung der Fall. Doch auch für die Gruppe, bei der zu diesem Zeitpunkt eine Symptomatik bestehe, gebe es guten Grund, nicht nach Hilfe zu fragen. Sie fürchteten aus Unsicherheit über Einreise- und Aufenthaltsbestimmungen, dass eine attestierte psychische Störung ihren Aufenthalt sofort wieder infrage stellen würde. "Erst dann, wenn wir diese Gründe, keine Hilfe zu suchen, ausschalten, sind wir bei denjenigen, die es tun würden, wenn sie die Worte in einer passenden Sprache dafür finden würden", sagt Albers. Auf "Stand-by" sei der SpDi dennoch, die Telefonnummern bei den Infoveranstaltungen oder in den Einrichtungen gut verteilt. Gemeinsam mit der Kassenärztlichen Vereinigung hat das Gesundheitsamt etwa in der großen städtischen Notaufnahmeeinrichtung "Herkulesstraße" eine medizinische Sprechstunde in einem Containerbau auf dem Gelände eingerichtet, wo Kassenärzte die Menschen nach einer ersten allgemeinmedizinischen oder kinderärztlichen Kurzanamnese und Sofortbehandlung an Fachärzte weitervermitteln oder auch in ihrer eigenen Praxis weiterbehandeln. "Das finden wir eine fantastische Sache, dass die Flüchtlinge im Regelversorgungssystem betreut werden und nicht in einem Parallelsystem", so Albers. Seit Schaffung dieser Einrichtung im Januar 2015 habe es dort jedoch noch keine Anfragen an den Sozialpsychiatrischen Dienst gegeben; lediglich zwei oder drei Patienten seien an Therapeuten vermittelt worden und die Psychotherapieanträge dann zur Begutachtung an den SpDi gegangen. Das, so Albers, funktioniere offenbar gut.

Um die Methoden der Betreuung aber immer wieder kritisch zu hinterfragen und im Zweifelsfall nachzubessern, sind Vertreter des Gesundheitsamtes mit allen Institutionen, die sich an der psychosozialen Versorgung von Flüchtlingen und Migranten beteiligen, im Gespräch. Schon seit vielen Jahren gibt es regelmäßig einen runden Tisch mit dem Therapiezentrum für Folteropfer/Flüchtlingsberatung (Caritas), dem Fachdienst Migration (Diakonisches Werk Köln), der Frauenberatungsstelle Agisra e.V., dem Rom e.V. und dem Kölner Flüchtlingsrat e.V. Auch mit anderen, wie dem Gesundheitszentrum für Migrantinnen und Migranten, das vom Landschaftsverband Rheinland (LVR) als Sozialpsychiatrisches Kompetenzzentrum Migration (SPKoM) in Köln gefördert wird, sowie mit dem Deutschen Roten Kreuz, das die städtische Notaufnahmeeinrichtung betreut, gibt es einen regelmäßigen Kontakt. Natürlich ist die Versorgung der Flüchtlinge auch im Rat der Stadt Köln ein wichtiges Thema.

Aus den Unterkünften, in denen Menschen längerfristig untergebracht sind, gibt es mehr Anfragen, denn nicht nur die Traumatisierungen spielen eine Rolle, sondern auch psychische Erkrankungen, die bereits vor der Flucht vorlagen. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge werden primär über die Jugendhilfe versorgt, einige haben über das Sozialgesetzbuch (SGB) II (Grundsicherung für Arbeitsuchende) Krankenversicherungsschutz, für Asylbewerber und auch Menschen mit einer Duldung greift hier das Asylbewerberleistungsgesetz. "Im Akutfall ist das in Köln überhaupt kein Problem", so Albers, dessen Abteilung häufig gutachterlich tätig wird. "In der Regel hat der Kostenträger keine Mühe, das zu bewilligen." Auch Kurzzeittherapien von 25 Stunden, oft auch deren Verlängerung, würden gewährt, wenn die Dringlichkeit im "Antrag des Therapeuten" ausreichend begründet wird. Eine Eingliederungshilfe nach § 53 SGB XII gibt es für Asylsuchende und "Geduldete" nicht.

Viel schwieriger dagegen sei es, Therapeuten zu finden, die in der jeweils gefragten Muttersprache behandeln könnten. Das ist auch der "Pferdefuß" an dem derzeit im Bundesrat diskutierten "Bremer Modell", Asylsuchenden eine Versicherungskarte zu gewähren. Denn der Schutz der gesetzlichen Krankenversicherung sieht die Möglichkeit zur Bewilligung von Dolmetschern nicht vor.

Die Sprachbarriere wiederum bedingt, dass zum Beispiel das Kölner Therapiezentrum für Folteropfer oft als "Sprachmittler" herhalten müsse, denn dort gibt es gute Verbindungen zu Übersetzern. So bleibt weniger Zeit für diejenigen Menschen, die am dringendsten Beistand benötigen. Matthias Albers nennt sie "Ultratraumatisierte", Menschen, die manchmal Monate, ja Jahre einer systematischen Misshandlung ausgesetzt waren, die über lange Zeiträume hinweg nur Kontakt zu Menschen hatten, die zugleich ihre Schergen waren. "Das hat einen ganz anderen Effekt auf die Seele. Für sie ist eine Institution wie das Therapiezentrum für Folteropfer, dessen Hilfe weit über die Dauer dessen hinausgeht, was die Krankenkasse an Psychotherapie anbieten kann, absolut wichtig." Daneben arbeitet auch das SPKoM Köln als Kulturmittler. Dieses Zentrum steht grundsätzlich auch Flüchtlingen als Beratungsstelle zur Verfügung. Wenn denn dort eine Sprache gesprochen wird, in der sich die Ratsuchenden "zu Hause" fühlen. Auch die psychiatrischen Kliniken verfügen über Personal mit breit gefächerten Sprachkenntnissen. Für ein Gesundheitsprojekt der vergangenen Jahre "Mit Migranten für Migranten - Interkulturelle Gesundheit in Nordrhein-Westfalen" gibt es derzeit keine Fördermittel mehr. "Bedauerlich", findet Albers, "Muttersprachler, das müssen keine Fachleute sein, aber Leute, die sich in Deutschland auskennen und Infoveranstaltungen in den diversen Einrichtungen anböten, wären absolut hilfreich." Sie erklären, "wie funktioniert das, wenn man Psychotherapie haben muss".

Probleme gibt es auch bei einer ganz anderen Gruppe, die dem Abteilungsleiter im Gesundheitsamt aber ebenfalls Sorge bereitet: Als fast unüberwindlich gestaltet sich die Hürde einer medizinischen Behandlung von EU-Bürgern, die ohne Versicherungsschutz in Deutschland leben. Diese Menschen, etwa aus Rumänien, Bulgarien und auch Polen, die bei der Einreise keine europäische Krankenversicherungskarte im Gepäck hatten, haben hierzulande kaum eine Chance auf Versicherungsschutz. Sie sind nicht gemeldet, leben unter prekären Wohnverhältnissen und arbeiten ohne Arbeitsvertrag und Unfallversicherung. Der mobile Medizinische Dienst des Gesundheitsamts wie auch die Malteser Migranten Medizin (MMM) können hier höchstens Akuthilfe leisten, psychiatrische Hilfe aber kann es ohne Abrechnungsmöglichkeit nicht geben. Albers: "Das ist im Moment ein richtiges Problem, für das es keine Lösung gibt."


Dörte Staudt ist Mitarbeiterin für Öffentlichkeitsarbeit in der DGSP-Geschäftsstelle in Köln.

*

Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 149 - Heft 3/15, Juli 2015, Seite 36 - 37
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der Redaktion
Herausgeber: Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.
Zeltinger Str. 9, 50969 Köln
Telefon: 0221/51 10 02, Fax: 0221/52 99 03
E-Mail: dgsp@netcologne.de
Internet: www.psychiatrie.de/dgsp
 
Erscheinungsweise: vierteljährlich, jeweils zum Quartalsanfang
Bezugspreis: Einzelheft 10,- Euro
Jahresabo: 34,- Euro inkl. Zustellung
Für DGSP-Mitglieder ist der Bezug im Mitgliedsbeitrag enthalten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. August 2015

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang