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POLITIK/093: Das psychiatrisch-psychotherapeutische Hilfesystem zukunftsorientiert weiterentwickeln (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 153 - Heft 3/16, Juli 2016
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

PEPP ist weg - und nun?
Ein neues Entgeltsystem für die Behandlung durch das Krankenhaus

Von Peter Kruckenberg


Ist der jetzt vorliegende Gesetzentwurf ein gesundheitspolitisches Zukunftsprojekt oder nur eine Wiederholung der Fehlentwicklungen seit 2010?


Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen haben häufig erhebliche Schwierigkeiten, ihre alltägliche Lebensgestaltung und die Teilhabe an sozialen Aktivitäten und an der Gesundheitsversorgung selbstbestimmt zu gestalten. Sie sind für die Sicherung ihrer Grundrechte auf den besonderen Schutz der Gesellschaft angewiesen und benötigen nach internationalen Erfahrungen flexibel an den Krankheitsverlauf angepasste, personenzentrierte und ihr Umfeld einbeziehende, Teilhabe-bezogene Behandlung durch multiprofessionelle Teams« (Stellungnahme der Aktion Psychisch Kranke im Juli 2014).

Davon sind wir in Deutschland 2016, in dem immer noch fragmentierten psychiatrischen Behandlungs- und Rehabilitationssystem, noch ziemlich weit entfernt. Nicht zuletzt in den Krankenhäusern für Psychiatrie und Psychotherapie, in denen Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen und komplexem Hilfebedarf noch viel zu häufig behandelt werden müssen - sei es als selbst gewählter »Zufluchtsort« oder als fremdbestimmter »Ort der vorübergehenden Ausgrenzung«.

Die Psych-PV 1991 bis 1995 - ein Highlight der Psychiatriereform

Das passt in die Geschichte der Reformbewegung seit zirka 1970 mehr oder weniger bis heute. Immerhin gelang 1976 erstmals - gegen erbitterten Widerstand der niedergelassenen Fachärzte - ein begrenzter Durchbruch in die ambulante Versorgung durch die gesetzlich geregelte Einrichtung von Psychiatrischen Institutsambulanzen (PIA) an Fachkrankenhäusern, wenn auch mit einer Begrenzung des Aufgabenbereichs der PIA, vor allem für die Behandlung entfernt wohnender Patienten. Aber eine Front war aufgebrochen.

In den meisten Fachkrankenhäusern änderte sich lange nur wenig. Für die Sicherstellung einer angemessenen Personalausstattung in Fachkrankenhäusern und Abteilungen hat das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) 1989 eine Kommission mit individuell ausgewählten Experten für die Erarbeitung einer Psychiatrie-Personalverordnung (Psych-PV) einberufen.

Der Auftrag für die Kommission war die Erstellung eines Strukturkonzepts zur aktiven Gestaltung eines therapeutischen Klimas im Krankenhaus und zur personenzentrierten Ausrichtung der Behandlung auf eine gesundheitsfördernde Eingliederung in die für den Patienten wesentlichen Lebensbereiche in Kooperation mit den Bezugspersonen und den Leistungserbringern im Lebensfeld. Für die dafür individuell und regional bedarfsgerechte Personalausstattung sollte die erforderliche Finanzierung sichergestellt werden.

Die Kommission hat dazu nach dem Schweregrad der Beeinträchtigungen, der vorwiegenden therapeutischen Zielsetzungen und der zu erwartenden Dauer der Krankenhausbehandlung für die Erwachsenenpsychiatrie und -psychotherapie acht Hilfebedarfsgruppen definiert (ähnlich für die Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie) und den Personalbedarf pro Tag berufsgruppenbezogen auf Stationen ermittelt, die sich bei Besuchen und Befragungen als überzeugende Beispiele für gute therapeutische und wirtschaftliche Praxis zeigten.

Es ging also nicht um die methodisch gar nicht durchführbare »Messung von personenbezogenen Kontaktzeiten«, sondern um den gesamten Personalbedarf einer Station, der auch Vor- und Nachbereitungszeiten, Vermittlungsdienste, Fortbildung usw. umfasste.

Das Ergebnis wurde als gesetzlich verankerte Psychiatrie-Personalverordnung 1991 bis 1995 konsequent in praktisch allen Krankenhäusern mit eindeutigem Versorgungsauftrag umgesetzt. Es wurde 1995 bei der Evaluation durch die Aktion Psychisch Kranke (APK) uneingeschränkt positiv bewertet, auch von Vertreterinnen und Vertretern der Selbstverwaltung (SV) und der Politik, nicht zuletzt auch wegen der ohne finanzielle Anreize erfolgten Verkürzung der Verweildauer. Dadurch wurde die etwa 20-prozentige Steigerung der Personalkosten pro Patient etwa zur Hälfte aufgefangen.

Die Verabschiedung und Umsetzung der Psych-PV bis 1995 war ein Highlight der Psychiatriereform. Erstmals konnten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Patientinnen und Patienten sowie Angehörige vielerorts die persönliche Erfahrung machen, »dass es wirklich vorangeht« - nicht nur situativ, in der persönlichen Beziehung untereinander, sondern auch »im System« dadurch, dass verlässliche politische, administrative und finanzielle Rahmenbedingungen für eine (eigentlich) langfristige Entwicklung geschaffen worden waren.

Kehrtwende

Die schon im Folgejahr eingeleitete Kehrtwende der Selbstverwaltung - unterstützt durch das BMG - war zunächst irritierend, dann brutal: In den Jahren bis 2010 wurde fast überall, an manchen Orten dramatisch, die Personalbemessung regional unterschiedlich wieder zurückgefahren, obwohl die Anforderungen stiegen - vor allem durch Verweildauerverkürzung und gestiegene Erwartungen bezüglich lebensfeldbezogener psychotherapeutischer Begleitung. Dies geschah mit der zunehmenden Erfahrung eines rechtlosen und ohnmächtigen Ausgeliefertseins. Öffentlicher Widerstand bei nur zirka ein Prozent Reduktion des Personals pro Jahr war sinnlos, zumal ein Teil des Abbaus selbst verursacht war - etwa auf der Krankenhausebene durch Quersubventionierung anderer Bereiche. Eine Evaluation der APK 2004 ergab eine Personalausstattung von zirka 90 Prozent Psych-PV, Kliniken mit nur 75 Prozent waren bekannt. Ab 2004 nahm auch die Zahl der Betten wieder zu - durch Belegungszunahme von leichter kranken Patienten mit vorwiegend psychotherapeutischer Behandlung und geringerem Personalbedarf.

Wenn man im Zeitraffer die Entwicklung des psychiatrischen Versorgungssystems von der Enquete bis 2010 an sich vorüberziehen lässt - mit persönlichen Erinnerungen an Interaktionen in unterschiedlichen Bereichen und auf unterschiedlichen Entscheidungsebenen -, drängt sich als vorläufiges Fazit auf: Menschlich zugewandte innovative Aktivitäten gingen fast immer von Personen aus, die in ihren Lebensfeldern in eher nachgeordneter Position tätig waren und in ihrem Umfeld eher einen Minderheitenstatus innehatten. Persönliches Engagement der Mächtigen für die Ohnmächtigen war eher selten.

Eigentlich unglaublich: Der gute Gesetzesauftrag des KHRG wird von Selbstverwaltung und BMG ignoriert und ein Gegenkurs eingeleitet

»Die Psychiatrie ist anders« - begründet durch Erfahrungen in den USA war dies der Grund für die Abkehr vom Fallpauschalensystem der Somatik. In sorgfältiger Vorarbeit, koordiniert von Helga Kühn-Mengel (MdB), wurde das Krankenhausfinanzierungsreformgesetz (KHRG, siehe insbesondere § 17d KHG) erarbeitet und vom Bundestag für 2010 verabschiedet, mit vier Aufträgen an die Selbstverwaltung:

1. Wiederherstellung der Personalausstattung gemäß Psych-PV, sofort zu 90 Prozent, danach zu 100 Prozent;

2. Ermittlung tagesbezogener Entgelte für Patientengruppen mit vergleichbarem Personalbedarf, ausgehend von den Leistungskomplexen der Psych-PV;

3. Prüfung der Einbeziehung der Institutsambulanz und »anderer Abrechnungseinheiten« (»z.B. Jahresbudgets«);

4. umfassende Begleitforschung »zur Veränderung der Versorgungsstrukturen und zur Qualität der Versorgung«.

Eine handlungsorientierte Bearbeitung durch die Selbstverwaltung und dem BMG ist in keinem der vier Punkte erfolgt. Das beauftragte Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus (InEK) ignorierte die fachlichen Erfordernisse der Psychiatrie generell und folgte dem Vorgehen bei der Festlegung von Fallpauschalen in der somatischen Krankenhausbehandlung.

Der grundlegende Fehler dieser Annahmen besonders bezüglich des Leistungsbedarfs von schwer psychisch kranken Patienten wurde ebenso wenig gesehen wie die notwendige Flexibilität und entsprechend mangelnde Messbarkeit der Zeitabläufe, weil bei InEK und GKV/PKV (und allem Anschein nach auch beim Mittelbau des BMG bis 2013) notwendige fachliche Grundkenntnisse bezüglich zeitgemäßer und innovativer Behandlung fehlten und bis heute nicht erkennbar erworben bzw. in den Diskurs eingebracht wurden.

Die Durchführung von Datenerhebung und Berechnung durch das InEK waren indiskutabel: nicht auftragsgemäß (bezüglich KHRG), fachlich und methodisch grob fehlerhaft und in der Aufstellung der Ergebnisse mit Anreizen zulasten von Patienten mit schweren Beeinträchtigungen.

1. Bei den Datenerhebungen wurde von der Ist-Situation in den Krankenhäusern ausgegangen. Eine Anpassung an die Personalausstattung gemäß der Psych-PV wurde nicht vorgenommen, im Text nicht einmal diskutiert.

2. Gemessen wurde die Zahl der mindestens 25 Minuten dauernden »Therapieeinheiten« (als relevante) Behandlungsmaßnahmen. Im Ergebnis waren dies meist zirka 10 bis 20 Prozent des Behandlungsaufwands, natürlich nicht kostentrennend, zumal der Zeitaufwand für schwere Erkrankungen im einzelfallbezogen nicht messbaren Bereich der Milieutherapie besonders ansteigt.

3. Die Einteilung in Gruppen gleichen Zeitbedarfs erfolgte nicht auf der Basis des Schweregrads der Beeinträchtigungen und der vorgegebenen Orientierung an den Leistungskomplexen der Psych-PV, sondern vorwiegend diagnosebezogen, entgegen allen Erfahrungen in der psychiatrischen Versorgung (bei gleicher Diagnose oft sehr unterschiedliche Beeinträchtigungen). Spätere Korrekturen waren zum Teil nur gering, zum Teil methodisch nicht nachvollziehbar.

4. Durch Mittelwertbildung bei Patienten aus gleichen Gruppen ergab sich erwartungsgemäß eine abfallende Personalausstattung im Behandlungsverlauf. Bei tagesbezogener Abrechnung der Mittelwerte ergäben sich daraus finanzielle Anreize zu nicht therapeutisch begründeten Frühentlassungen.

5. Die Überprüfung der Zuordnung großer Leistungszahlen von Patienten durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) mit der Tendenz zu Kosten sparenden Absenkungen hat zu einem monströsen Bürokratieaufwand geführt, der von den Krankenhäusern mit 10 bis 15 Prozent der Arbeitszeit geschätzt wird und im Regelfall zulasten der therapeutisch nutzbaren Ressourcen ging.

Zusammenfassend ist unverständlich, warum die Selbstverwaltung diese »Ergebnisse« des InEK zur Berechnung der Relativgewichte überhaupt zugelassen hat, zumal die Zielsetzung der Erarbeitung bedarfsbezogener praktikabler Tagesentgelte verfehlt wurde und bei Umsetzung die Personalausstattung für Patienten mit komplexem Hilfebedarf im Vergleich zu weniger beeinträchtigten Patienten besonders ungünstig werden würde.

Das Einführungsgesetz für das neue Entgeltsystem, das Psych-Entgeltgesetz (Psych-EntgG) von August 2012, würde eine bedarfsgerechte Weiterentwicklung der Personalausstattung in den Krankenhäusern verhindern, vor allem, weil es die notwendige Anpassung von Tarifsteigerungen nur partiell ermöglichen und über den geplanten Landesbasisfallwert zu einer »doppelten Degression« in Krankenhäusern mit Pflichtversorgung führen würde, wegen der Leistungsausweitungen in vielen Krankenhäusern für leichter Erkrankte (diesbezügliche Bettenvermehrung seit 2004).

Erfolgreicher Widerstand gegen das InEK-PEPP

Die Vorlage des PEPP-2013 im September 2012, vor allem die klar absehbaren Fehlentwicklungen bei seiner Umsetzung, die Ablehnung der Vorlage durch die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) (»Psych-Entgelte nicht reif«, Georg Baum, DKG), nicht zuletzt die kurz darauf folgende »Ersatzvornahme« der DKG-Zustimmung durch das BMG gegen die Einwände aller relevanten Fachverbände, löste eine breit gefächerte Widerstandsbewegung in der Fachwelt aus, aber auch bei den Selbsthilfegruppen der Betroffenen und Angehörigen.

Alle bedeutsamen psychiatrischen Fachgesellschaften - auch der Krankenpflegekräfte und der Angehörigen - fanden sich erstmals zu einer »Plattform« (als informeller Verbändegemeinschaft) zusammen.

Diese forderte einhellig nicht nur den sofortigen Stopp des Umsetzungsprozesses des PEPP-Systems und die Novellierung des PsychEntgG, sondern vor allem

  • eine auch von der DKG für die Umsteuerung geforderte Verlängerung der budgetneutralen Phase um mindestens zwei Jahre - sozusagen als Denkpause -,
  • die Umgestaltung des Entgeltkatalogs im Sinne bedarfsgerechter tagesbezogener Entgeltstufen, die Sicherstellung der Umsetzung und anschließende Überarbeitung der Psychiatrie-Personalverordnung,
  • die Konkretisierung der Bedingungen für Modellprogramme nach 64b SGB V,
  • die Sicherstellung der Finanzierung von Morbiditätssteigerungen durch die Krankenkassen und
  • Transparenz und Kompetenz in der weiteren Entwicklung zur Psychiatriereform durch eine begleitende unabhängige Expertenkommission.

Darüber hinaus erarbeiteten die Plattform-Verbände auch Grundforderungen für einen Kurswechsel im KHRG-Prozess und versandte diese nach der Bundestagswahl 2013 auch an die Parteien. Attac, Verdi, der Paritätische und einige NGOs haben dies unterstützt und Unterschriften gesammelt. Eine Petition an den Bundestag wurde von einem Verein Psychiatrie-Erfahrener (Pandora e.V., Nürnberg) eingereicht.

Die Politik bewegt sich

In der Koalitionsvereinbarung zeigte die Politik erstmals Bereitschaft, sich auf Bundesebene mit der Kritik am Entgelt-Prozess und den Forderungen der psychiatrischen Fachwelt substanziell auseinanderzusetzen:

»Ein neues Vergütungssystem in der Psychiatrie und Psychosomatik darf schwerst psychisch Erkrankte nicht benachteiligen, muss die sektorenübergreifende Behandlung fördern und die Verweildauer verkürzen, ohne Drehtüreffekte zu erzeugen. Dazu sind systematische Veränderungen des Vergütungssystems vorzunehmen. An dem grundsätzlichen Ziel, mehr Transparenz und Leistungsorientierung und eine bessere Verzahnung ambulanter und stationärer Leistungen in diesen Bereich zu bringen, halten wir fest.«

Diese Positionierung induzierte eine Dynamik in der Auseinandersetzung zwischen Politik und Fachwelt:

• März 2014 forderte die Gesundheitsministerkonferenz die Einrichtung einer unabhängigen Expertenkommission, die sich unter anderem zur Psych-PV äußern und auf dieser Basis Vorschläge zur Umgestaltung des Entgeltkatalogs und für die weitere Entwicklung erarbeiten solle.

• Optionsphase der Umsetzung wurde um zwei Jahre verlängert.

• Juli 2014 versandte Gesundheitsminister Gröhe Anfragen an eine Reihe von Verbänden zu den drei Themenbereichen: Kritik des PEPP-Systems, Ansatzpunkte für eine Weiterentwicklung der Versorgung, Alternative zum PEPP-System.

• Aktion Psychisch Kranke, die sich als Nahtstelle versteht zwischen Bundesministerien, Bundesparlament und psychiatrischer Fachwelt, hat im September 2014 zu allen drei Bereichen zusammenhängend geantwortet und konkrete Empfehlungen zur Kurskorrektur vorgelegt, insbesondere ein schon damals weitgehend ausgestaltetes und kurzfristig einsetzbares regionales Budgetsystem als Alternativmodell (»TEPP-BIM«) zum PEPP-System des InEK.

• Plattform-Verbände forderten einen am Patientenwohl
orientierten transparenten Kurswechsel.

• 5. Mai 2015 fand der erste »strukturierte Dialog« zwischen BMG und Fachverbänden statt.

• 22. Februar 2016 folgte der zweite, an dem Minister Gröhe und führende Vertreter der Koalitionsfraktionen der Öffentlichkeit »Eckpunkte zur Weiterentwicklung des Psych-Entgeltsystems« als Ergebnis der Verhandlungen mit der Fachwelt vorlegten.

Die »Eckpunkte« - ein neuer Anlauf in der Entgeltfrage wird Grundlage für einen Gesetzentwurf

Die Entwicklung des psychiatrischen Hilfesystems für Menschen mit schweren Störungen und Beeinträchtigungen steht an einem Scheideweg. Nach den Kernaussagen in den »Eckpunkten« des Bundesgesundheitsministeriums und der Koalition wird das neue Entgeltsystem als Budgetsystem für stationäre und teilstationäre Leistungen des Krankenhauses ausgestaltet mit dem Ziel der Stärkung der Verhandlungsebene vor Ort. Zur Umsetzung der »Eckpunkte« wurde der Entwurf eines Gesetzes zur Weiterentwicklung der Versorgung und der Vergütung für psychiatrische und psychosomatische Leistungen (PsychVVG) am 19. Mai 2016 vorgelegt.

Eine neue Phase der Psychiatriereform könnte so auf den Weg gebracht werden. Einige Formulierungen in den »Eckpunkten« sind durchaus zukunftsweisend, insbesondere:

  • Finanzierung der Behandlung nicht über ein landesweites Preissystem, sondern über ein die regionalen Besonderheiten berücksichtigendes Budgetsystem (Konvergenz zu landeseinheitlichen Preisen entfällt);
  • Einführung von Hometreatment als stationsäquivalente Leistungsart;
  • Orientierung an der Psych-PV in mehreren Kontexten, so bei der Vorgabe einer hundertprozentigen Umsetzung in den Kalkulationskrankenhäusern und der Berücksichtigung der Anforderungen der PsychPV bei der Festlegung einer verbindlichen Mindestpersonalausstattung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA);
  • Möglichkeit der Einbeziehung »externer Expertise« durch den G-BA (z.B. einer unabhängigen Expertenkommission);
  • Krankenhausvergleich als Transparenzinstrument auf Bundesebene.

Andererseits soll die Budgetermittlung auf bundeseinheitlichen Bewertungsrelationen auf der Grundlage empirischer Daten beruhen »unter Verwendung der Kostendaten von Kalkulationshäusern«.

Eine Kritik an den fundamentalen Fehlern im InEK-PEPP-System bei der Erhebung und Auswertung patientenbezogener Daten findet sich an keiner Stelle. Das heißt, die vom InEK bei der Entwicklung des PEPP-Systems induzierten Fehlsteuerungen über Kostenermittlung von Teilleistungen, Diagnose- statt Schweregrad-bezogener Relativgewichte, Degression der Tagesentgelte im Verlauf ebenso wie ein ständiger Personalabbau über das Psych-Entgeltgesetz könnten sich wiederholen und eine bedarfsgerechte Finanzierung des Leistungsgeschehens unmöglich machen.

Alternativen - die Einsetzung einer unabhängigen Expertenkommission ist unverzichtbar

Zum bisherigen InEK-PEPP-System liegen zwei einander ähnliche Alternativen vor:

• TEPP-BIM der Aktion Psychisch Kranke von 2014, ein einfaches, praktisch sofort einsetzbares Einstiegsmodell auf der Grundlage einer am individuellen Behandlungsbedarf orientierten einfachen Untergliederung der Behandlungsbereiche der Psych-PV; diese könnten in der weiteren Entwicklung weiter differenziert werden*;

• ganz ähnlich das »Konzept für ein Budgetbasiertes Entgeltsystem« von den Plattform-Verbänden, dessen PQP-Module als Grundlage für die Personalbemessung einen ähnlichen Ansatz wie das APK-Modell verfolgen, aber noch nicht hinreichend für den sofortigen Einstieg konkretisiert sind.

Da beide Ansätze in der Diskussion zum strukturierten Dialog noch nicht diskutiert wurden, ebenso wenig wie die fundamentalen Fehler des InEK-PEPP-Systems, ist eine sorgfältige Prüfung aller drei Ansätze durch eine unabhängige Kommission unabdingbar.

Dazu muss die Optionsphase erneut um ein bis zwei Jahre verlängert werden. Dann besteht die Chance auf einen soliden, einvernehmlichen und einheitlichen Umsetzungsprozess, hinter dem am Ende alle Beteiligten stehen können.

Die Expertenkommission auf Bundesebene wird auch benötigt, wenn am Ende der budgetneutralen Phase ein Orientierungsmaßstab auf Bundesebene für den Krankenhausvergleich entwickelt wird, durch den transparent werden soll (siehe »Eckpunkte«), inwieweit Unterschiede in der Höhe der Entgelte auf Leistungsunterschiede, strukturelle Besonderheiten (z.B. Pflichtversorgung) oder andere krankenhausindividuelle Aspekte zurückzuführen sind, als ein Hilfsmittel für zukünftige Budgetverhandlungen.

Besonders anzuerkennen ist das offensichtliche Bemühen der Gesundheitspolitik, mit dem PsychVVG das psychiatrisch-psychotherapeutische Hilfesystem zukunftsorientiert weiterzuentwickeln. Auch dazu - wie die verstärkte Einbeziehung von Psychiatrie-Erfahrenen und Angehörigen - gehört unbedingt die Begleitung durch eine unabhängige Expertenkommission.

Die Vorlage der »Eckpunkte« durch Koalition und BMG hat große Hoffnungen auf ein »anderes Vorgehen« von Politik und Selbstverwaltung in der Entgeltfrage geweckt.

Sollte dies in den nächsten Wochen und Monaten (noch) nicht erreichbar sein, müssen von der Fachwelt, den Betroffenen, den Angehörigen, der Gewerkschaft und von Gruppen der Zivilgesellschaft gemeinsame Strategien zunehmender öffentlicher Auseinandersetzung entwickelt werden.

Die Inklusion schwer psychisch kranker Menschen in das menschliche Zusammenleben und die ihnen mögliche Teilhabe in allen Bereichen ist eine in ihrer Bedeutung für die gesellschaftliche Entwicklung ständig zunehmende Aufgabe.


Prof. Dr. Peter Kruckenberg ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und ehemaliger ärztlicher Direktor am Zentralkrankenhaus Bremen-Ost.
Kontakt: info@peter-kruckenberg.de


Hinweis: Eine Langfassung dieses Beitrags findet sich als Stellungnahme der DGSP im Internet unter
www.dgsp-ev.de

* APK-Stellungnahme zur Anfrage von Minister Gröhe vom 21.07.2014; Download:
www.apk-ev.de/veroeffentlichungen/stellungnahmen/apk-stellungnahmen-2014/

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 153 - Heft 3/16, Juli 2016, Seite 40 - 43
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors und der
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. August 2016

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